Der Unternehmensberater Christoph Zulehner erklärt, wie Spezialisierung, Arbeitszeitverkürzung und unattraktive Arbeitsbedingungen zum Arbeitskräftemangel im Gesundheitsbereich beitragen. Er hält die Aufgaben für lösbar.
Welche Themen aus dem Gebiet Personalführung sind momentan die brennendsten?
Christoph Zulehner: Da ist zuerst einmal die kontinuierliche Verkürzung der Arbeitszeit. Der Trend geht deutlich unter die Marke von 40 Wochenstunden. Ich habe vor Kurzem ein großes Gesundheitsunternehmen beraten, dessen Personal einen Teilzeitanteil von 80 Prozent und eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 27 Wochenstunden hatte. Da ergeben zehn Vollzeitäquivalente plötzlich 15 oder möglicherweise sogar 20 Köpfe. Das betrifft Ärzte und Pflegepersonal. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist der Brandbeschleuniger für den zweiten großen Trend, den ich nennen würde: die Spezialisierung.
Was bedeutet das?
Die Zeit der Allrounder ist definitiv vorbei. Die zunehmende Spezialisierung erfasst alle Berufsgruppen. Ob Chirurgie, Radiologie oder Psychiatrie – sämtliche Fächer durchlaufen eine Spezialisierung und Subspezialisierung. Das gilt auch für die Pflege: Eine Pflegekraft, die auf Orthopädie spezialisiert ist, kann nicht einfach in der Ophthalmologie (Augenheilkunde, Red) eingesetzt werden. Und je größer das Angebot einer Gesundheitseinrichtung ist, umso schwieriger wird es, wenn man es mit vielen Teilzeitbeschäftigten und Subspezialisten zu tun hat. In vielen Einrichtungen können bestimmte Leistungen nur noch angeboten werden, wenn bestimmte Personen im Dienst sind. Wir müssen nachdenken, welche Versorgungsaufträge wir mit den verfügbaren Personalressourcen überhaupt noch erfüllen können. Es wird zu einer Bereinigung kommen müssen.
Dkfm. Dr. Christoph Zulehner, akad.LdP ist Unternehmensberater, Sozialwissenschaftler und seit mehr als 35 Jahren im Gesundheitswesen tätig. Als ausgebildeter Krankenpfleger arbeitete er bis zum Jahr 2000 in leitender Funktion im Pflegebereich, unter anderem als stellvertretender Pflegedirektor eines 480-Betten-Krankenhauses. Danach wechselte er in die Unternehmensberatung und schloss ein Doktoratsstudium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ab. Zulehner ist Verfasser mehrerer Fachbücher, unter anderem „Personalbedarf und Personaleinsatz in Gesundheits- und Pflegeunternehmen“ und „Strategisches Führen in Gesundheits- und Pflegeunternehmen“.
Meinen Sie damit eine Reduktion von Standorten?
Spezialisierte Angebote müssen auf bestimmte Standorte konzentriert werden, um sicherzustellen, dass diese Angebote auch verlässlich rund um die Uhr verfügbar sind. Das wäre dann die dritte große Herausforderung. Auch wenn man mich für diese Aussage prügeln wird: Ich bin der Meinung, dass wir in Österreich im Krankenhausbereich zu viele Standorte haben. Würden wir die Anzahl der Standorte auf ein vernünftiges Maß reduzieren, hätten wir an allen Standorten ausreichend Personal. Hinter vorgehaltener Hand werden Ihnen das auch fast alle bestätigen, die im System arbeiten. Dänemark zum Beispiel hat vor über 20 Jahren die Entscheidung getroffen: Qualität vor Nähe. Den Bürgern wurde gesagt: Du hast die Garantie, dass du in einer spezialisierten Einrichtung qualitativ hochwertig behandelt wirst. Im Gegenzug wirst du darauf verzichten müssen, dass an jedem Krankenhausstandort jede Leistung angeboten wird.
Neue und bessere Strategien sind gefragt. Auf diesen Satz stößt man regelmäßig, wenn es um das Thema Personalführung geht. Welche Strategien sind damit gemeint?
Das Ziel einer Unternehmensstrategie ist es, aus einer Wettbewerbssituation möglichst erfolgreich hervorzugehen. Gesundheitsunternehmen sind auf vier Märkten unterwegs: Klientenmarkt, Arbeitsmarkt, Investitionsmittelmarkt, Drittmittelmarkt. Bis vor wenigen Jahren war der Klientenmarkt, also Patientinnen oder die Bewohner von Pflegeeinrichtungen, der Hauptmarkt. Mittlerweile aber ist der Wettbewerb um Mitarbeiter, also der Arbeitsmarkt, der wichtigste Markt.
Ich bin der Meinung, dass wir in Österreich im Krankenhausbereich zu viele Standorte haben.
Sollte es in Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen und Pflegeeinrichtungen nicht in allererster Linie um die Patienten bzw. die Bewohner gehen?
Grundsätzlich stimmt das natürlich. Allerdings: Es hilft ja nichts, wenn die Patienten Schlange stehen, aber das Personal fehlt, um den Versorgungsauftrag erfüllen zu können. Es tut mir leid, aber der Hauptmarkt für Gesundheitseinrichtungen ist derzeit der Arbeitsmarkt und das wird sich in den nächsten zehn bis 15 Jahren wahrscheinlich nicht ändern.
Mit welchen Strategien können Gesundheitsunternehmen denn das akute Problem des Arbeitskräftemangels in den Griff bekommen?
Derzeit gibt es am Arbeitsmarkt deutlich mehr Angebot als Nachfrage. Der Satz: „Sie sind in meiner näheren Auswahl“ kommt heute nicht mehr von den Unternehmen oder der Personalabteilung, sondern von den Bewerberinnen und Bewerbern. Da muss ein Unternehmen schon Rahmenbedingungen bieten, die dem Bewerber entgegenkommen. Auf dem Höhepunkt der Pandemie habe ich eine Interview-Reihe durchgeführt unter Pflegekräften, die ausgestiegen sind, und danach gefragt, was passieren müsste, damit sie wieder einsteigen. Diese Menschen wissen sehr wohl, dass es im Gesundheitswesen unveränderbare Rahmenbedingungen gibt: bestimmte Dienstzeiten, Betrieb rund um die Uhr, körperliche Belastungen, psychische Belastungen, weil man es mit Krankheit, Tod und Leid zu tun hat. Aber das war nicht das Thema. Den Leuten ging es vor allem um die veränderlichen Rahmenbedingungen, für welche die Führung und das Management verantwortlich sind: zu wenig Personal, schlechte Personaleinsatzplanung, schlechte Umgangskultur, Nichtanerkennung der Leistung. Wenn das geändert wird, dann kommen wir zurück, haben die Befragten gesagt.
Was kann ein Unternehmen tun, um dem Wunsch nach einer Work-Life-Balance entgegenzukommen?
Die Leute wollen verlässliche Arbeitszeiten. Wenn sie zu ihrem Lebenspartner oder ihren Kindern sagen, dass sie heute ab 17 Uhr frei haben, dann wollen sie auch um 17 Uhr nach Hause gehen. Und wenn ein Krankenhaus es nicht zustande bringt, das zu organisieren, dann verlieren sie das Interesse an der Branche.
Wie kann man in einem Krankenhaus verlässliche Arbeitszeiten garantieren? Operationen zum Beispiel können ja
länger dauern als geplant.
Wer davon überrascht wird, dass eine Operation länger dauert als geplant, hat von Haus aus schon etwas falsch gemacht. Derartige Eventualitäten muss man bei der Dienstplanerstellung mit ins Kalkül ziehen. Viele Häuser verlassen sich immer noch darauf, dass das Personal in solchen Fällen nachgibt und länger Dienst macht. Da gibt es auch einen gewissen moralischen Druck, weil man ja in der Gesundheitsbranche den Patienten verpflichtet ist. Aber das Personal hat zu Recht den Anspruch auf Professionalisierung in Form verlässlicher Arbeitszeiten. Wenn wir unsere Hausaufgaben machen, werden wir auch wieder Personal finden.
Ist es überhaupt möglich, Dienstpläne so zu organisieren?
Es gibt ja nicht nur Tätigkeiten, die unverschieblich sind, sondern auch sogenannte disponible Tätigkeiten, die absolviert werden, wenn gerade nichts los ist. Die Betriebsfeuerwehr zum Beispiel hat genug zu tun, auch wenn es in Krankenhäusern zum Glück nur sehr selten brennt. Außerdem müssen wir es aushalten, dass in einem so anspruchsvollen Bereich wie dem Gesundheitswesen nicht jede Minute der Dienstzeit mit Tätigkeiten befüllt werden kann.