Das Gesundheits­system in Frankreich – Vive la différence

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Autor: Heinz Brock

Das Gesundheitssystem Frankreichs hebt die Lebenserwartung seiner Bürger weit über den europäischen Durchschnitt. Die ineffektive Zusammenarbeit zwischen ambulantem und klinischem Bereich hat aber einen hohen Preis – trotz geringen Personaleinsatzes.

Ob es nun am Nationalstolz liegt oder ein Ausdruck des europäischen Gedankens ist, lässt sich schwer sagen. Faktum ist, dass das französische Gesundheitssystem weder dem Modell des Reichskanzlers Bismarck noch dem des englischen Gesundheitsökonomen Beveridge zugeordnet werden kann – oder beiden gleichermaßen. Strukturell ist es auf einer Sozialversicherung aufgebaut. Durch die öffentliche Finanzierung aus einer Hand, der steuerbasierten Mittelaufbringung und den starken staatlichen Eingriffsmöglichkeiten entspricht das Gesundheitssystem aber den Prinzipien eines nationalen Gesundheitsdienstes. Die staatliche Pflichtversicherung deckt nahezu 100 Prozent der Bevölkerung ab, sieht jedoch beträchtliche Selbstbehalte vor und weist Lücken bei Sehbehelfen, Hörgeräten und in der Zahnheilkunde auf. Daher verfügen rund 95 Prozent der Französinnen und Franzosen über eine freiwillige Zusatzversicherung, welche die genannten Defizite ausgleicht. Diese Zusatzversicherungen sind zumeist Inhalt von Beschäftigungsverträgen, was in Summe mit der staatlichen Versicherung dazu führt, dass private Zuzahlungen zu Gesundheitsleistungen (Out-of-pocket-Payments) in Frankreich die geringsten aller EU- und OECD-Staaten sind.

Weil Violett nicht Rosa ist. Das französische Gesundheitssystem vergütet die Leistungen des niedergelassenen Bereichs ohne Obergrenzen. Dies schmälert die Bereitschaft, Patienten an spezialisierte Kollegen oder an den stationären Bereich zu überweisen.

Liberté! Égalité!

Auf dem Feld der Gesundheitsdienstleistungen herrscht in Frankreich große Liberalität. Patientinnen und Patienten haben nahezu uneingeschränkte Wahlfreiheit bei Primärversorgungseinrichtungen, Fachärzten, Spitalsambulanzen und Krankenhäusern. Eine Gatekeeping-Funktion von Allgemeinmedizinern besteht seit 2004 nur indirekt, indem Honorare für Facharztkonsultationen ohne Überweisung in reduziertem Ausmaß rückerstattet werden. Die Ärzteschaft genießt völlige Niederlassungsfreiheit und verteilt sich auf selbstständige Einzel- oder Gruppenpraxen, Gesundheitszentren und Notfallambulanzen sowie ambulante und stationäre Abteilungen in öffentlichen oder privaten Krankenhäusern. Ambulante Leistungshonorare werden zwischen den Interessensvertretungen der Gesundheitsberufe und den Versicherungen einheitlich für das gesamte Land ausverhandelt und werden üblicherweise den Patienten in Rechnung gestellt, welche wiederum diese Ausgaben von den Versicherungen rückerstattet bekommen. Tarife für stationäre Leistungen und Preise für Pharmazeutika und Heilmittelbedarf werden gleichermaßen zentral von den Ministerien verordnet. Weder im ambulanten noch im stationären Bereich sind jedoch Grenzen für Leistungsvolumina oder Verordnungen festgelegt, was naturgemäß Anreize zu einer Leistungssteigerung nach Einkommenszielen setzt. Lediglich bei den Krankenhausleistungen kann die Regierung auf Kostenüberschreitungen infolge Fallzahlsteigerungen reagieren, indem sie im Folgejahr die Tarife herabsetzt. Dieser Mechanismus entkoppelte aber über Jahre die Leistungspreise von den tatsächlichen Kosten der Krankenhausleistungen und begünstigte Qualitätsverluste durch vernachlässigte Investitionen, insbesondere bei der personellen Besetzung. Um die Attraktivität der öffentlichen Krankenhäuser zu steigern, erhöhte die französische Regierung mit einer Gesetzesnovelle 2021 die Gehälter der Krankenhausbediensteten um 15 bis 20 Prozent und erleichterte Ärzten in öffentlichen Krankenhäusern die zusätzliche Tätigkeit in Privatordinationen.

Fraternité?

Die Regierung legt das jährliche Ausgabenbudget der Sozialversicherung (Objectif national de dépenses d’assurance maladie) für jeden einzelnen Gesundheitssektor fest. Administrativ zwar verständlich, verhindert diese segmentierte Finanzierungsmethodik jedoch die Kooperationsbereitschaft der Leistungserbringer. Das System ist krankenhauslastig, Allgemeinmediziner haben wenig Kontakt zu den anderen Versorgungssektoren und sind nicht sehr aktiv bei den Primary-Health-Aufgaben Prävention und Gesundheitsförderung. Die dominierende Einzelleistungsvergütung im extramuralen Bereich stellt die wesentliche Hürde für eine Aufgabenübertragung an andere Gesundheitsberufe dar, da diese zu Einkommensverlusten der Ärzteschaft führt. Die ohnehin sehr geringe Ärztedichte wurde im Laufe des letzten Jahrzehnts in zweierlei Hinsicht für das französische Gesundheitssystem problematisch. Erstens nahm die Zahl der Allgemeinmediziner seit 2012 kontinuierlich weiter ab und zweitens verstärkte sich die regionale Ungleichverteilung, sodass gewisse einkommensschwache Départements heute definitiv unterversorgt sind. Auf diese bekannten Versorgungsdefizite und die zusätzlichen schweren Belastungen durch die COVID-19-Pandemie reagierte die Politik mit entsprechenden Reformen und Programmen. Während die Zuwachsraten der Gesundheitsbudgets in den vergangenen Jahren unter dem OECD-Schnitt lagen, erfolgte 2021 eine Ausgabensteigerung von annähernd zehn Prozent. Seit 2016 wird mit mehreren Gesetzesinitiativen versucht, die Koordination von stationären Leistungen in Krankenhausverbünden zu forcieren und die Primärversorgung durch multidisziplinäre Gesundheitszentren zu stärken. Zur Bewältigung der Pandemie wurden Freiwillige, Medizinstudenten und Pflegeschülerinnen und -schüler in großer Zahl rekrutiert und Telekonsultationen bei Ärzten und anderen Gesundheitsberufen können seither mit den Versicherungen abgerechnet werden. Die Förderung von Präventionsmaßnahmen ist zwar ebenso Absicht der Gesundheitspolitik, wegen fehlender Zusatzfinanzierung bislang aber wenig erfolgreich.

Reformen ohne Tiefgang. 2020 fand die „100 % Santé“-Reform statt, die für die Patientenschaft verbesserte Leistungen in Bereichen wie Seh- und Hörbehelfe oder Zahnarztleistungen brachte. Das Nebeneinander von ambulantem und stationärem Bereich konnte nicht gelöst werden.

Gute Performance

In der Anfangsphase der Pandemie kann man von einem temporären Systemversagen sprechen, das eine der höchsten Todesraten in Europa forderte. Wenn aber der durchschnittliche Gesundheitszustand der Bevölkerung als Maßstab herangezogen wird, kann das französische Gesundheitssystem im internationalen Vergleich auf eine beachtenswert gute Performance verweisen. Die Lebenserwartung der Franzosen liegt mit 82,4 Jahren über der österreichischen und weit über dem europäischen Durchschnitt. Das Risiko, an einem Herzinfarkt oder an einem Schlaganfall zu sterben, ist in Frankreich geringer als in Österreich. Die Krebssterblichkeit ist allerdings höher, insbesondere betreffend der Lungenkarzinome. Diese Daten korrespondieren mit dem verhaltensbezogenen Risikoprofil der Menschen – Franzosen rauchen mehr als Österreicher und liegen beim Alkoholkonsum ebenfalls im internationalen Spitzenfeld. Der rechtzeitige Zugang zur angemessenen Therapie hält sowohl in Österreich als auch in Frankreich die Zahl der vermeidbaren Todesfälle niedrig. Frankreich erreicht diese Effektivität zwar nicht mit weniger finanziellem Einsatz, aber mit deutlich weniger personellen und strukturellen Ressourcen. Warum das französische Gesundheitssystem trotz geringerer Personalausstattung eines der teuersten weltweit ist, liegt hauptsächlich an vier Faktoren. Erstens provoziert die im ambulanten Bereich vorherrschende Einzelleistungsvergütung ohne Mengenlimits, wie bereits erwähnt, hohe Leistungsvolumina. Zweitens zieht der niederschwellige Zugang zu stationären, ambulanten und vor allem notfallmedizinischen Krankenhausangeboten auch hohe Kosten für den Spitalsbereich nach sich. Drittens ist der Medikamentenverbrauch in Frankreich exorbitant hoch und der Generikaanteil niedrig – beides wohl nicht unabhängig von der nahezu universellen Kostenabdeckung durch die Versicherungen. Und viertens hat die parallele Versicherungsstruktur von staatlicher Pflichtversicherung und Zusatzversicherungen ebenfalls seinen Preis – die administrativen Kosten des Gesundheitswesens sind nach den USA die höchsten aller OECD-Staaten.

Reformen

Die politischen Entscheider der Grande Nation treten derzeit an, ihre Probleme im Gesundheitsbereich in den Griff zu bekommen. 2020 fand die „100 % Santé“-Reform statt, mit welcher noch bestehende Lücken im an sich schon sehr dichten staatlichen Versorgungsnetz geschlossen wurden. Seh- und Hörbehelfe, Zahnarztleistungen und psychologische Behandlungen werden jetzt unter bestimmten Voraussetzungen von den Versicherungen finanziert. Durch Schaffung zusätzlicher Studienplätze an Medizin-Universitäten und Ausstattung der Pflege mit erweiterten Kompetenzen will man dem zunehmenden Fachkräftemangel entgegentreten. Der Stellenwert der Prävention soll durch Impfaktionen, kostenlose Beratungsangebote für Zielgruppen der Präventionsinterventionen und Einbindung der Themen Gesundheitsförderung und Prävention in das Curriculum des Medizinstudiums betont werden. In diversen Modellversuchen werden Alternativen zur gängigen Einzelleistungsverrechnung als Basis des ärztlichen Einkommens erprobt. In der zweitgrößten Volkswirtschaft des EU-Raumes hat sich zudem im Umfeld der Medizin eine dynamische Szene von Start-ups auf den Feldern der Biotechnologie und E-Health etabliert, was für die Zukunftsfähigkeit des französischen Versorgungssystems hilfreich werden soll. Die Regierung lenkte in den letzten Jahren zunehmend größere Budgetmittel für Forschung und Entwicklung in den Gesundheitsbereich. Die staatliche Forschungs- und Entwicklungseinrichtung INSERM (Institut national de la santé et de la recherche médicale) beispielsweise reicht europaweit die höchste Anzahl von Patenten für den Pharmasektor ein – Ansätze, die auch in Resteuropa funktionieren können. 

Quellen und Links:

Or Z, Gandré C, Seppänen AV, Hernández-Quevedo C, Webb E, Michel M, Chevreul K. France: Health system review. Health Systems in Transition, 2023; 25(3): i–241.

OECD/European Observatory on Health Systems and Policies (2021), France: Country Health Profile 2021, State of Health in the EU, OECD Publishing, Paris/European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels.

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