Wilfried von Eiff: „Das Billigst-Prinzip bestimmt die Lieferpartner“

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Autor: Josef Ruhaltinger

Der deutsche Gesundheitsökonom Wilfried von Eiff ärgert sich, dass Billigartikel aus China ganze Gesundheitssysteme ins Wanken bringen. Die Attraktivierung des Pflegeberufes bedeutet für ihn 24/7 geöffnete Kindergärten, billiges Wohnen und steuerfreie Wochenendarbeit.

Herr von Eiff, Sie haben ein Buch über die Lehren aus der Pandemie mit dem Titel „Krisenresilienz“ veröffentlicht. Was muss passieren, um das Gesundheitssystem künftig gegen massive Krisenerscheinungen zu stärken?
Wilfried von Eiff: Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir uns auf unsere Lieferketten nicht verlassen können. Ich weiß, das ist nicht neu. Wir beobachten Lieferabrisse bei Medizinprodukten und Medikamenten seit dem Jahr 2015. Interessant ist, dass das Problem sämtliche Produktkategorien betrifft und es nicht – wie man erwarten könnte – nur bei Gütern mit hoher Wertschöpfung auftritt. Erinnern wir uns an die Knappheit von Masken und Schutzbekleidung. Dabei handelt es sich um Bagatellprodukte im Cent-Bereich. Durch ein Virus wurde ein Billigartikel zum entscheidenden Qualitätsfaktor in der Versorgung. Seither oszilliert die Versorgungslage. Einmal fehlen Angiographiekatheter. Das ist ein teures Produkt. Dann gibt es Engpässe bei Kochsalzlösungen, einem ausgesprochenen Billigprodukt. Wenn eine Klinik für eine radikale Prostatektomie nicht ausreichend NaCl zur Verfügung hat, können Sie den Patienten nicht operieren.

Der Erklärer. Wilfried von Eiff ist überzeugt, dass Lieferketten nach den falschen Kriterien gesteuert werden. Abhilfe sei nicht in Sicht. Die Abhängigkeit von Quasi-Monopolen habe in den letzten Jahren zugenommen.

Warum werden Operationen auch nach der Pandemie ständig verschoben?
Die Personalnöte sind ein Faktor. Die Versorgungsmängel ein anderer. Dabei sind die Konsequenzen mehrschichtig. Für den Patienten ist eine Verschiebung eine einzige Katastrophe – gesundheitlich und psychisch. Aber die Aufschübe haben auch wirtschaftliche Folgen. Für das Klinikmanagement bedeutet eine OP-Verschiebung, das der Mangel an einem fünf oder sechs Euro teuren Produkt wie NaCl einen Erlösausfall von etwa 7.000 oder 8.000 Euro mit sich bringt. Diese Brüche in der Lieferkette schaffen nicht nur eine Verschlechterung des Patienten-Out-comes, sondern erhöhen auch die Kosten des Gesundheitssystems.

Sie sagen selbst. Das Problem der fragilen Versorgungslage für medizinische Güter ist nicht neu. Warum gibt es keine Verbesserungen?
Die Pandemie hat gezeigt, dass wir unsere internationalen Lieferketten offensichtlich nach den falschen Kriterien steuern. Bislang kam es immer auf die „niedrigsten Kosten“ an. Das Billigst-Prinzip bestimmt die Lieferpartner. Das ist ein Fehler. Der Prozess der Versorgung ist durch Kostenminimierung immer umständlicher und unübersichtlicher geworden. Jetzt bemerken wir, dass wir viel zu wenig Logistiker haben, die mit diesen Anforderungen zu Rande kommen. Es haben sich Lieferpartner in dieses Geschäft eingewoben, die die Qualität für ein globales Supply-Chain-Management nicht haben. Das mündet in Situationen, dass Güter nicht nur auf der Strecke bleiben, sondern fehlerhaft oder beschädigt ankommen. Die Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, dass sich die Lieferkettensituation in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat.

Der Winter beschert uns einen erhöhten Bedarf an bestimmten Medikamenten, der erneut nur unzureichend befriedigt werden kann. Auch hier kennen wir Ursachen und Probleme seit mehreren Jahren. Warum verbessert sich nichts?
Wir kennen die Probleme. Aber wir tun nichts dagegen. Wir konzentrieren uns in der Pharmawirtschaft und hier vor allem im Generikabereich auf wenige Produzenten und Vorprodukthersteller. Eine erweiterte Lagerhaltung hat nur begrenzte Wirkung. Wir sind mittlerweile in Europa in höchstem Maße von China abhängig. Wir spüren dies im Bereich der Arzneien, aber wir haben die gleiche Situation bei Rohstoffen wie Seltene Erden oder bei Billigprodukten wie Masken. Es gibt kaum Bestrebungen, hier die Abhängigkeit zu verringern.

Was ist die Gegenstrategie?
Wir setzen bis heute das Thema der niedrigen Kosten höher an als das Thema der Versorgungssicherheit. Es war uns stets lieber, weniger zu bezahlen und dafür im Gegenzug das Risiko zu übernehmen, in einer Engpasssituation nicht oder nur nachrangig bedient zu werden. Wir haben – insbesondere in Deutschland – eines der niedrigsten Preisniveaus für Medizinprodukte weltweit. Gleiches gilt für Pharmazeutika. Das heißt mit anderen Worten: Wenn tatsächlich mal bei den großen Herstellern ein Engpass auftritt, dann liefern sie zuerst in Länder, wo sie die höchsten Margen haben. Die Schweiz ist ein Land, wo die Konzerne noch größere Margen verdienen können, anders als in Deutschland oder – wie ich höre, auch in Österreich. Tamoxifen wird bei der Nachsorge von Brustkrebsbehandlungen eingesetzt – ein Produkt, das seit 1962 auf dem Markt ist und im Gegensatz zu Aromastase-Hemmern geringe Nebenwirkungen hat. Hier kämpfen wir mit Engpässen, weil es für die Hersteller wegen der niedrigen Vergütung nicht mehr attraktiv ist, das Produkt herzustellen. Dieses Medikament kostet über einen fünfjährigen Therapie-Zeitraum 324 Euro.

Sie kennen das Argument: Die Pharmawirtschaft verdient Milliarden. Warum sollen wir die Konzerne noch reicher machen?
Dem Argument kann man nur entgegnen: Wenn wir keine ausreichende Refinanzierung für ein Produkt bereitstellen, laufen wir Gefahr, dass dieses Produkt nicht mehr angeboten wird. Deshalb mein Ansatz: Wir müssen eine wertorientierte Preisbildung betreiben. Und diese wertorientierte Preisbildung macht sich fest an den Opportunitätskosten, die anfallen, wenn dieses Produkt nicht verfügbar wäre. Ein nur an Kosten und Niedrigpreisen orientierter Vergütungsansatz führt zu Fehlsteuerungseffekten im System.

Themenwechsel: In Deutschland fehlen laut Prognosen bis 2030 um die 180.000 Pflegekräfte, in Österreich im selben Zeitraum ca. 70.000 Pflegende. Hand aufs Herz: Können wir diese Lücke füllen?
Wir haben in Europa aufgrund der demographischen Entwicklung einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Das ist unbestritten. Der Personalbedarf verteilt sich auf alle Branchen. Wir sind in einem Wettbewerb der Berufe, den das Gesundheitswesen nur gewinnt, indem die Arbeitgeber attraktive Arbeitsbedingungen schaffen. Dabei geht es nicht nur um angemessene Vergütung. Arbeitgeber im Gesundheitswesen müssen für ihre Angestellten mehr tun. Sie müssen 24/7-Kita-Plätze und preiswerte Wohnungen zur Verfügung stellen, und die Mitarbeitenden brauchen Unterstützung bei der Anreise zur Arbeit. Zuverlässige Arbeitszeiten sind ein Muss. Das ist Aufgabe der Arbeitgeber. Der Gesetzgeber muss sich darum kümmern, dass die steuerlichen Rahmenbedingungen stimmen.

Was meinen Sie damit?
Es gibt Ärzte und Pflegekräfte, die sind an einem, an zwei, möglicherweise sogar an drei Wochenenden in der Klinik. Wenn die auf ihrem Gehaltszettel sehen, was sie von den Überstunden haben, dann sagen die: „Wofür rackere ich mich hier eigentlich ab?“ Wenn das Gesundheitswesen der Gesellschaft tatsächlich so am Herzen liegt, dann muss die Politik einen spürbaren Vorteil definieren. Wer an Wochenenden Dienst macht, erhält diese Vergütung steuerfrei. Banker brauchen diesen Vorteil nicht, Touristiker auch nicht. Ärzte und Pflegende mit ihrem gesellschaftlichen Mehrwert schon. Aktuell haben Pflegende das Gefühl, ausgenutzt zu werden. Das ist das Schlimmste, was im Gesundheitswesen passieren kann.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Wilfried von Eiff ist Leiter des Centrums für Krankenhaus-Management (Münster) sowie Academic Director am Center for Health Care Management and Regulation an der HHL Leipzig Graduate School of Management. Der Gesundheitsökonom war Verwaltungsdirektor und Mitglied des Vorstands am Uni-Klinikum Gießen und ist seit 1992 stv. Vorsitzender des Aufsichtsrats der Kerckhoff-Klinik Herz-Lungen-Diabetes-Zentrum GmbH (Bad Nauheim).

Hilft uns die Digitalisierung, den Mehr­­-­bedarf an Gesundheitsdienstleistungen mit weniger Menschen abzuarbeiten?
Wenn wir die Arbeitsbedingungen nicht grundlegend verbessern, werden wir das Chaos nicht beseitigen. Es nützt nichts, mithilfe eines tollen KI-Systems die Dia­gnosen präziser zu machen, wenn sich trotzdem niemand um den Patienten nach der OP kümmern kann. Wir müssen die Digitalisierung als Hebel benutzen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und Behandlungsprozesse effektiver zu machen.

Innovation erzeugt Verlierer, die sich gegen Veränderungen stemmen. Wie überwinden Führer und Führerinnen diese Widerstände?
Wir brauchen in den Kliniken Change-Manager – Personen, deren Hauptaufgabe es ist, den geplanten organisatorischen Wandel zu steuern. Sie müssen den Menschen die Angst nehmen. Es muss für alle klar sein, dass die gegebene schwierige Pflegesituation verbessert werden kann, wenn die Veränderungen greifen. Dann entlastet das den Pflegenden, das Team, die Station. Auch im veränderten Prozess wird niemand allein gelassen. Beispiel: Sie wollen in einer orthopädischen Klinik im OP ein neues Instrumentenset einführen, das eine Reihe von Vorteilen aufweist. Sie können nicht von heute auf morgen sagen: Wir nehmen ab jetzt das neue Equipment. Ich muss das Team darauf vorbereiten. Sehr gut funktioniert dies in Try-out-Groups, das heißt, da wird unter Laborbedingungen ausprobiert, wie die Instrumente benutzt werden. Es wird eine Person identifiziert, die als Key-User fungiert und besonderes Training erhält. Das kann eine OP-Kraft sein oder wer auch immer, der über die Fähigkeiten und Bereitschaft verfügt. Diese Schlüsselperson zeigt auf kurzem Weg den Kolleginnen und Kollegen, was zu tun ist. Eine andere Möglichkeit ist die Bildung einer Backup-Organisation, eine Art Benutzerservice, an die man sich wenden kann, wenn man ein bestimmtes Problem mit den Neuerungen hat. Den Mitarbeitern muss immer das Gefühl gegeben werden, dass sie mit den Schwierigkeiten nicht allein sind und man ihre Arbeit wertschätzt. Dann funktioniert das.

Herr von Eiff, Sie haben in mehreren Studien Benchmarks für Gesundheitssysteme verglichen. Wie gut oder schlecht sind Österreichs und Deutschlands Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich?
Es ist immer eine Frage, wie bestimmte Eigenschaften bewertet werden. Lege ich Wert auf Effizienz und Sparsamkeit? Oder sind mir freier Zugang zu Gesundheitsleistungen und ein Alterspflegesystem wichtig? Es bleibt die Frage „Was wollen wir eigentlich?“

Ich werde genauer: In welchen Gesund­heitssystemen profitiert der Patient mehr, wo weniger?
Es gibt seit Jahren den unterschwelligen Vorwurf, dass im deutschen System Hüftprothesen zu früh implantiert werden. In anderen Ländern passiere dies wesentlich später, heißt es. Ich habe vor einigen Jahren dazu eine Studie gemacht: Tatsächlich, wir operieren die Hüfte früher. Aber mit der Konsequenz, dass der Out­come, also das Wohlbefinden der Patienten, höher ist. Der Patient profitiert. Wenn er früher die Hüfte ohne Zement bekommt, können leichte Revisionseingriffe schonender und mit geringerem Aufwand durchgeführt werden. Vor allem: Der Patient ist früher mobil und schmerzbefreit. Wir operieren zeitiger und öfter. Das ist teurer als anderswo. Aber die Patienten profitieren. Deshalb ist es wichtig, dass ich bei Benchmarks definiere, nach welchen Kriterien geurteilt wird.

Buchtipp:

Krisenresilienz – Wie Corona das Krisenmanagement des Gesundheitssystems verändert, von Eiff/Rebscher (Hrsg), Verlag medhochzwei, 2022, 378 Seiten, ISBN: 978-3-86216-910-8

Sind unsere Systeme zu stark auf Effizienz und zu wenig auf den Patienten ausgerichtet?
Auf diese Diskussion will ich mich als Wissenschaftler nicht einlassen. Wir müssen nur Äpfel und Birnen trennen. Nordrhein-Westfalen und Holland haben jeweils etwa 18 Millionen Einwohner. In Nordrhein-Westfalen stehen rund 340 Krankenhäuser, in Holland haben wir 85. Jetzt heißt es, dass die Krankenhausdichte in Deutschland viel zu hoch sei. Also ist das holländische System besser, weil billiger? Auf der anderen Seite stehen im Vergleich die Leistungen, also die Ergebnisse, die das System liefert. Die Wartezeiten auf eine Operation sind in Holland länger als in Deutschland, Rehabilitation findet nicht in spezialisierten Reha-Einrichtungen statt und viele Holländer reisen zu Vorsorgeuntersuchungen in deutsche Kliniken und Praxen, weil sie zu Hause keine Termine kriegen. Es gibt eine große urologische Klinik in Gronau an der holländischen Grenze, die über einen Vertrag mit holländischen Kassen 35 % ihrer Kapazität für holländische Patienten reserviert. Mit dem Beispiel will ich zeigen: Es kommt darauf an, was ich eigentlich
vergleichen will.

Haben wir eine Chance, das Leistungsniveau unserer Gesundheitssysteme bis 2030 wieder auf Vor-Covid-Niveau zu bringen?
Ich glaube, dass es möglich ist – wenn wir heute die richtigen Dinge tun. Aber es ist ein Trugschluss zu glauben, die Transformation des Gesundheitssystems ließe sich über Einsparungen im System finanzieren. Im Gegenteil: Investitionen in moderne Strukturen sind die Voraussetzung für Ambulantisierung und Digitalisierung. Anders wird es nicht funktionieren. 

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