PVE-Gründungen: Wind unter den Flügeln

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Autor: Josef Ruhaltinger

Seit Sommer ist die Novelle zum Primärversorgungsgesetz in Kraft. PVE-Gründungen sollen auch für Zweier-Teams und Kinderärzte möglich werden. Noch weiß aber niemand, was in den Rahmenverträgen steht.

Lange dümpelte sie in Österreich dahin, die Idee von Primary Health Care – jener angelsächsischen Träumerei, in der sich mehrere Allgemeinmediziner gemeinsam mit anderen Gesundheitsberuflern unter einem Dach um ihre Patienten kümmern. Die Vorbehalte in der eigenen Zunft waren nicht gering. Die Befürchtungen gingen so weit, dass mancher Ärztekammer-Funktionär den Verdacht nicht loswurde, dass der Mythos des Landarztes dem losen Dasein einer Mediziner-Kommune geopfert werden sollte. Die Bedenken der Kammerfunktionäre korrelieren dabei mit der Enge des (geografischen) Horizonts: Bis Redaktionsschluss existierte in Vorarlberg und Tirol keine einzige Primärversorgungseinheit.

Mit Nachdruck. Die Zahl der PVE ist ständig zunehmend – endlich. Im Bild das Team des PVZ medloft in Wien Margareten. Medloft startete im Oktober 2022 als Nummer 39. Im Oktober 2023 bestehen bereits 45 PVZ in Österreich.

Durchbruch

So zäh die Sache angelaufen ist: In den restlichen Bundesländern ist mittlerweile Schwung in den Ausbau des PVE-Netzes gekommen. Mittlerweile haben 45 PVE ihre Pforten geöffnet. Im Oktober 2022 waren es 37, im März des Jahres 39. Gesundheitsminister Johannes Rauch hat im Sommer für die PVE-Zukunft freie Bahn gegeben: Bis 2025 soll das Angebot auf 121 Zentren hochgetrieben werden. Die am 6. Juli beschlossene Novelle zum Primärversorgungsgesetz will der Idee der Primärversorgung zusätzlichen Schub geben. Dies scheint zu passen. „Es tut sich was“, berichtete Wolfgang Hockl, als er vom 8. Primärversorgungskongress Mitte September von Graz nach Hause kam. Hockl betreibt mit seinen mittlerweile sieben (!) Ärztekolleginnen und -kollegen das PVZ Enns, eine der ersten Gemeinschaftsordinationen nach dem Primary-Health-Konzept. Gemeinsam mit einer Handvoll Ärzte-Kollegen und an der Seite einiger Rebellen in den damaligen Landeskrankenkassen sorgte Hockl dafür, dass die Idee der integrierten Patientenbetreuung nicht vom System erstickt wurde. Die Unterstützung der Politik kam erst spät. Die Zwänge der Pandemie und die zunehmenden Versorgungsprobleme des ambulanten Bereichs sorgten aber für mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema. Und es hat sicher nicht geschadet, dass es mit Wolfgang Mückstein der erste Primärversorger Österreichs in das Amt des Gesundheitsministers geschafft hat – wenn auch nur für kurze Zeit.

Zu erfolgreich. Sein PVZ St. Pölten muss seit Sommer
Neupatienten ablehnen. Zu viele der nachbarlichen Kollegen von PVZ-Gründer Rafael Pichler sind in Pension gegangen. Kommendes Jahr soll ein zweites PVZ für Entlastung in der Stadt sorgen.

Wachsendes Interesse

„In der Kollegenschaft gibt es immer mehr Zuspruch“, so Hockl. Der Kongress versammle eine wachsende Zahl an „jungen Teams, die eine Zukunft in einer PVE ins Auge gefasst haben“. Er, der eine gefühlte Ewigkeit das unerreichbare Ziel von 75 PVE bis 2021 vor Augen gehabt hatte, hält es jetzt für durchaus möglich, dass „der Plan der Regierung mit 121 PVE in zwei bis drei Jahren erreicht werden kann“. Die Anfragen um Mitarbeit in der Ennser Gemeinschaftspraxis nehmen deutlich zu. „Jetzt gründen junge Kollegen und Kolleginnen ihr eigenes PVZ, die bei uns ihre Lehrpraxis gemacht haben“, freut er sich. Rafael Pichler teilt den Enthusiasmus des Ennser Kollegen.

Pichler ist ärztlicher Leiter des PVZ St. Pölten. Sein Wermutstropfen beim gemeinschaftlichen Therapieren: Sein Zentrum ist zu erfolgreich. „Wir mussten im Sommer die Ordination für Neupatienten zumachen. Wir sind mit den Kapazitäten am Plafond“, erzählt der niederösterreichische Arzt. Das PVZ St. Pölten hat mittlerweile 50 Mitarbeiter, ein Kernteam von vier Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern sowie – ein Sonderfall – ein Department von fünf Kinderärzten. Nachdem in St. Pölten ein Hausarzt nach dem anderen in Pension gegangen ist, wurde seine Situation „zum Sonderfall“. Die letzte nachbarliche Praxisschließung hätte seine Ordination nicht mehr auffangen können. Aber es gibt Hoffnung, aus dem Hamsterrad rauszufinden. „Nächstes Jahr soll für St. Pölten ein zweites PVZ aufmachen. Dann hoffe ich, dass wir in den Normalmodus kommen“, so Pichler. Er freue sich auf die neue Kollegenschaft im Stadtteil Viehofen. „Wenn ich Patienten wegschicken muss, geht es mir nicht gut“, bedauert Pichler. Akutfälle werden natürlich behandelt. Kommendes Jahr soll die Belastung auch in anderen Bereichen abnehmen: Dann soll der Umzug aus einer provisorischen Container-Praxis in ein nigelnagelneues Ärztezentrum in Harland abgeschlossen sein.

Auch Pichler beobachtet eine Aufbruchstimmung in der Szene. Er macht – wie Wolfgang Hockl auch – mit beim Mentorenprogramm der von der GÖG initiierten Plattform Primärversorgung (primaerversorgung.gv.at). Die beiden langgedienten PVE-Gründer geben ihre Erfahrungen an interessierte Kollegen und Neugründer weiter. „Das Telefon scheppert ständig“, erzählt er. Erfahrung und Beratung zu PVE werden immer stärker gesucht.

Novelle eröffnet neue Möglichkeiten

Die Gesetzesnovelle ist für das PVZ St. Pölten von unmittelbarer Bedeutung. Das Department Kinder- und Jugendheilkunde ist im Begriff, sich zu verselbständigen. Die neuen Bestimmungen erlauben jetzt die PVZ-Gründung unter Kinderärzten. Die mittlerweile fünf Fachärzte und Fachärztinnen – nicht alle sind in Vollzeit – schmieden an Plänen, die die neuen Bestimmungen sofort umsetzen. Bislang sind die fünf Kollegen über eine rechtliche Sonderkonstruktion dem PVZ angehängt. Die rechtliche Brücke wurde zwischen PVZ und ÖGK geschlagen, um St. Pöltens Kindern fachärztlich eine Grundversorgung zu bieten. Die letzte Kinderärztin der Stadt hatte zuvor ihre Praxis geschlossen. Noch gibt es ein Problem mit der Kinder-PVE: Die Novelle erlaubt zwar die Gründung, aber bislang steht noch nicht fest, unter welchen Bedingungen die PVE geführt wird. Da geht es um die Definition der Öffnungszeiten, um Fragen der Honorierung und um andere Pflichten, die mit der Zentrums-Gründung von den betreibenden Ärzten übernommen werden müssen. Rafael Pichler: „Wir loten das jetzt aus. Wenn die Verträge völlig irre sind, dann überlegen wir uns, was wir machen.“ Er gehe aber davon aus, dass alles klappen wird.

Pichler wie Hockl empfinden die Reduktion des Kernteams von drei auf zwei Mediziner als die interessanteste Passage des neuen PV-Gesetzes. Hockl: „Spannend wird, welche Öffnungszeiten von den Zweier-Teams verlangt werden. Fünf mal zwölf Stunden werden wohl nicht zu stemmen sein.“ Pichler äußert die gleichen Bedenken, findet aber die niedrigeren Gründungshürden für kleine PVE gut. Damit würde eine „integrierte Versorgung am Land leichter möglich“. Durch die Kumulierung von drei oder mehr Kassenverpflichtungen waren PVE bislang eher Modelle für urbanere Regionen. Und es ist einfacher, ein Zweier-Team zu formen als ein Dreier-Team. 

Die wichtigsten Neuerungen im Überblick

– Nimm 2: Für das Kernteam einer PVE braucht es nur mehr zwei und nicht mehr drei Allgemeinmediziner.
– Kinder-PVE: Der ärztliche Teil des Kernteams kann auch aus Fachärzten der Kinder- und Jugendheilkunde bestehen oder aus einer hybriden Kombination von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten. Die Beschränkung auf fachgleiche Teams von Allgemeinmedizinern ist gefallen.
– Multiprofessionelle Gruppenpraxis: Jetzt können auch Angehörige gesetzlich geregelter Gesundheitsberufe (Freiberufler und hauptberuflich in PVE) Gesellschafter werden. Die Rechtsform der GmbH ist verpflichtend, die medizinischen Kollegen verfügen über die Gesellschaftermehrheit.
– Unterschiedliche regionale Anforderungen: Entscheidend für die Art und Anzahl der vertretenen Berufsgruppen und der erforderlichen Qualifikationen sind die jeweiligen regionalen Erfordernisse bzw. der erforderliche Leistungsumfang.
– Happy Weekend: Für die Akutversorgung können PVE auch an Wochenenden sowie an Feiertagen geöffnet werden.
– Verkürztes Auswahlverfahren: Sind in einer Versorgungs­region zwei Stellen für Allgemeinmediziner und/oder Kinderärzte unbesetzt, haben die Ärztekammer und die Österreichische Gesundheitskasse sechs Monate Zeit, neue Ärzte zu finden. Danach können Land und ÖGK in Abstimmung mit den anderen Krankenversicherungsträgern gemeinsam die Ausschreibung einer Primärversorgungseinheit initiieren.
– Saulus und Paulus: Wahlärzte und Wahl-Kinderärzte können sich für ausgeschriebene PVE (dann mit Kassenvertrag) bewerben.

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