Tschechische Republik: Die Erben des Dichters

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Autor: Heinz Brock

Die Tschechische Republik kämpft mit Versorgungsschwierigkeiten im ambulanten Bereich, mit Pflegekräftemangel und marginaler Prävention – so wie ihre Nachbarn auch.

Im Laufe eines Jahrhunderts hat das tschechische Gesundheitssystem dramatische Veränderungen erlebt – so wie auch die Tschechische Republik selbst. Nach der Gründung des unabhängigen Staates Tschechoslowakei im Jahre 1918 wurde das von der Österreichisch-Ungarischen Monarchie „geerbte“ Bismarck-System der Sozialversicherung schrittweise ausgebaut. 1938 war bereits über die Hälfte der Bevölkerung über Pflichtversicherungen im Krankheitsfall abgedeckt. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel die Tschechoslowakei unter sowjetischen Einfluss und das Gesundheitssystem wurde staatlich-zentralistisch umgestaltet. Dieses „Semashko-Modell“, benannt nach dem russischen Arzt und Revolutionär Nikolai Semashko, versorgte mit staatlichen Angestellten in staatlichen Einrichtungen die Bevölkerung und war durchaus effizient in der Beherrschung von Nachkriegsproblemen, wie Kindersterblichkeit und Tuberkulose. Es war jedoch nicht flexibel genug, um den wachsenden gesundheitlichen Anforderungen einer sich entwickelnden Bevölkerung Genüge zu leisten.

Ab Ende der 60er-Jahre bis in die späten 80er verschlechterte sich daher die Versorgungslage der tschechischen Bevölkerung zunehmend. Mit dem Demokratisierungsprozess ab 1989 setzten auch der Aufbau von Krankenkassen in Selbstverwaltung und die Privatisierung der ambulanten ärztlichen Versorgung ein, während die alten staatlichen Strukturen mit Ausnahme der Krankenhäuser abgebaut wurden. Die Krankenkassen schlossen in der Folge Verträge, die auf Einzelleistungsabrechnungen beruhten, mit immer mehr Anbietern ab, was prompt die Kosten rasant ansteigen ließ. Ab 1997 wurden die Einzelleistungsabrechnungen mit Allgemeinmedizinern durch Pauschalen ersetzt und den Spitälern fixe Budgets vorgegeben. Schließlich deckelte man auch noch die Leistungsvolumina der niedergelassenen Spezialisten. Mit einer Reform im Jahre 2003 übertrug man die zentralstaatliche Eigentümerschaft etwa der Hälfte der Krankenhäuser auf unabhängige regionale Trägerschaften, welche später zum Teil in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden.

Umbrüche. Vaclav Havel winkt am 10. Dezember 1989 den Demonstranten am Wenzelsplatz zu. Mit der samtenen Revolution begann der Umbau des Gesundheitssystems vom sowjetischen „Semashko-Modell“ zu einer sozialversicherungs­basierten Gesundheitsversorgung.

Sozialversicherungen als Fundament

Das seit den frühen 1990er-Jahren existierende Sozialversicherungssystem besteht aus sieben staatlich kontrollierten Versicherungsgesellschaften, die als Finanziers und Einkäufer von Gesundheitsleistungen auftreten. Konkurrenz unter den Versicherungsgesellschaften ist sehr beschränkt und deren Leistungspakete unterscheiden sich nur marginal. Die Bürger können sich ihre Krankenversicherung selbst aussuchen, die Krankenversicherungen haben ihrerseits keine Möglichkeit der Selektion von Versicherten und müssen alle Bewerber aufnehmen. Da eine Versicherungspflicht besteht, hat praktisch die gesamte Bevölkerung Zugang zu einem breiten Angebot an Versorgungsleistungen. Das breite Leistungspaket der Pflichtversicherungen umfasst die ambulante und stationäre Versorgung, verschriebene Medikamente, einige zahnärztliche Leistungen, Rehabilitations- und Kuraufenthalte sowie die Langzeitpflege im hospitalen Bereich.

Privatversicherungen spielen wegen des umfassenden Angebotes der Pflichtversicherungen und der freien Wahl der Gesundheitsdienstleister eine geringe Rolle. Gesundheitsdienstleister rechnen ihre erbrachten Leistungen über die Versicherungs-Fonds (Zdravotní pojištovna) ab und erhalten monatliche Vorauszahlungen sowie eine finale Leistungsabrechnung im Folgejahr. Der Großteil der Krankenhäuser und der Spezialzentren befindet sich im Besitz des Staates, der Regionalbehörden oder der Gemeinden. Niedergelassene Ärzte ordinieren größtenteils in privaten Praxen. Tschechien hat ein dichtes Netzwerk von Krankenhäusern und eine der höchsten Bettendichten in Europa. Allgemeinmediziner haben keinerlei Gatekeeping-Funktion. Patienten haben freien Zugang zu allen extramuralen Gesundheitseinrichtungen, was wohl mit ein Grund für die sehr hohe Anzahl an Arzt-Konsultationen (Allgemeinmediziner und Spezialisten) sein mag. Krankenhausaufnahmen sind allerdings nur über ärztliche Einweisungen oder über die Notfallsysteme möglich.

Das Gesundheitsministerium (Ministerstvo zdravotnictví) ist die oberste Autorität, welche die gesundheitspolitischen Entscheidungen trifft, das System steuert und überwacht und außerdem etliche Versorgungseinrichtungen betreibt. Dem Gesundheitsministerium unterstehen direkt das Nationale Institut für Public Health (Státní zdravotní ústav), das Institut für Gesundheitsinformation und Statistik (Ústav zdravotnických informací a statistiky), das Staatliche Institut für Arzneimittelkontrolle (Státní ústav pro kontrolu léciv) und die regionalen Gesundheitsbehörden (Krajské hygienické stanice).

Kosten deutlich unter EU-Niveau

Die Gesundheitsausgaben Tschechiens liegen mit 7,8 % des BIP (2019) und mit € 2.362 per capita signifikant unter dem EU-Schnitt. Zum größten Teil werden die Gesundheitsausgaben durch öffentliche Mittel finanziert (deren Anteil 2019 mit 82 % über dem EU-Schnitt von 79,7 % lag), hauptsächlich über das System der Pflichtversicherung. Staatliche Beiträge für „ökonomisch inaktive Versicherte“, wie Studenten, Pensionisten oder Arbeitslose, machen inzwischen aber bereits ein Viertel der Einnahmen der Pflichtversicherungen aus.

2020 betrug die Lebenserwartung in Tschechien 78,3 Jahre (EU 80,6; Ö 81,3), was zwar wie in den letzten 10 Jahren konstant unter dem EU-Schnitt liegt, aber nach Slowenien und Estland immerhin die höchste der osteuropäischen Länder darstellt. Verhaltensbezogene Risikofaktoren, wie Übergewicht, Rauchen und Alkoholkonsum, standen 2019 in Zusammenhang mit beinahe der Hälfte der Todesfälle. Der Alkoholverbrauch der Tschechen ist einer der höchsten in der EU. Der Vergleich mit Österreich ist für uns jedoch wenig schmeichelhaft, da beide Länder bezüglich dieser Risikofaktoren relativ gleichauf liegen. Die COVID-19-Pandemie verursachte einen stärkeren Rückgang der Lebenserwartung als in den meisten EU-Ländern. Ende August 2021 waren in Tschechien 30.400 COVID-19-Todesfälle aufgetreten, was ungefähr 80 % über dem EU-Schnitt lag (2843 vs. 1591 pro Million Einwohner). Die um noch etwa 50 % darüber hinausgehende Übersterblichkeit lässt jedoch auf eine große Dunkelziffer schließen.

Notfall. Die unterdurchschnittlichen Gesundheits­ausgaben bleiben nicht ohne Folgen. Die „vermeidbare Mortalität“ in der tschechischen Bevölkerung liegt deutlich höher als bei österreichischen Vergleichszahlen.

Die Rate der vermeidbaren Krankenhauseinweisungen ist sehr hoch, was am freien Zugang, der hohen Bettendichte und der fehlenden Steuerung liegen mag. Andererseits haben die niedrigen Zugangsbeschränkungen und das großzügige Leistungsangebot zur Folge, dass sich ein sehr kleiner Prozentsatz der Bevölkerung mangelhaft versorgt fühlt und private Zuzahlungen zu Versorgungsleistungen in Tschechien minimal sind. Der Anteil an (durch Prävention) vermeidbaren und (durch rechtzeitige Behandlung) verhinderbaren Todesfällen ist deutlich höher als im EU-Schnitt. Die Überlebensraten für Krebserkrankungen haben den EU-Schnitt beinahe erreicht, die Krebs-Inzidenz liegt jedoch über dem EU-Schnitt.

Tschechien klagt, wie eigentlich jedes europäische Land, über Pflegemangel. Dabei liegt sowohl die Anzahl der praktizierenden Pflegekräfte, wie auch die Anzahl praktizierender Ärzte ziemlich genau im EU-Schnitt. Viele Pflegekräfte sind in den letzten Jahren aber aus dem Beruf ausgestiegen, weil die Gehälter in anderen Branchen attraktiver waren.

Das Gesundheitsministerium der Republik Tschechien hat für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems einen strategischen Plan vorgegeben, der bis 2030 umgesetzt werden soll. Ziele sind unter anderem die Verbesserung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und ein stärkerer Fokus auf Prävention. Dafür darf den Politikern mehr Erfolg als bei der Gesundheitsstrategie 2020 gewünscht werden, die viele Ziele infolge unzureichender Finanzierung verfehlt hatte. 

Quellen und Links

Alexa J et al. (2015), Czech Republic: health system review, Health Systems in Transition, 17(1): 1-165.

OECD/EU (2020), Health at a Glance: Europe 2020– State of Health in the EU Cycle. Paris

WHO Regional Office for Europe, European Commission, European Observatory on Health Systems and Policies (2021), COVID-19 Health Systems Response Monitor – Czech Republic.

Bryndová L, Šlegerová L, Votápková J, Hrobonˇ P, Shuftan N, Spranger A. Czechia: Health system review. Health Systems in Transition, 2023; 25(1): i–183.

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