In Zeiten des demografischen und technologischen Wandels, des wachsenden Bewusstseins für begrenzte Ressourcen und immer besser zugänglicher wissenschaftlicher Informationen steigen die Ansprüche an die evidenzbasierte Medizin (EbM), zu einer bedarfsgerechten, personenzentrierten Gesundheitsversorgung beizutragen. Dies gilt für individuelle Behandlungsentscheidungen genauso wie für gesundheitspolitische Entscheidungen über die Kostenübernahme durch die Solidargemeinschaft. Welche Beiträge die EbM zur Sicherung einer bedarfsgerechten Versorgung auf all diesen Ebenen leisten kann, stand im Mittelpunkt der dreitägigen Jahrestagung des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM-Netzwerk), die vom 1. bis 3. September in Lübeck stattfand. Die Kongresspräsidentin Katrin Balzer hat die Höhepunkte des Kongresses zusammengefasst (hier redaktionell gekürzt).
Über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Wissenschaft und Praxis der Gesundheitsversorgung und der Gesundheitspolitik diskutierten, wie wissenschaftliche Erkenntnisse zum Versorgungsbedarf und zu den Vor- und Nachteilen bestimmter Versorgungsleistungen bestmöglich gewonnen, verbreitet und in der Praxis genutzt werden können. Eröffnet wurde der Kongress mit einem Plenarvortrag von Reinhard Busse, Technische Universität Berlin, zu der Frage: „Evidenz-informierte Gesundheitspolitik: (wie) kann das funktionieren“. In einem weiteren Plenarvortrag erörterte Ursula Waßer, Richterin am Bundessozialgericht, inwieweit die Prinzipien der EbM inzwischen die Regelungen der gesetzlichen Krankenversicherung prägen und welche Unregelmäßigkeiten hierbei jedoch nach wie vor bestehen. Abgerundet wurden die Plenarvorträge durch einen Vortrag von Jorien Veldwijk, Assistenzprofessorin an der Erasmus School of Health Policy and Management, Rotterdam, zu den Methoden der Erfassung und Berücksichtigung von Patientenpräferenzen für oder gegen bestimmte Versorgungsansätze.
Weitere Themen waren Strategien gegen Über-, Unter- oder Fehlversorgung, aktuelle methodische Entwicklungen in der Evaluation von Versorgungsansätzen unter Routinebedingungen sowie Methoden der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patienten.
Über die verschiedenen Kongressbeiträge hinweg zeichnete sich ab, dass die Potenziale des Gesundheitssystems in Deutschland für eine bedarfsgerechte Versorgung bei Weitem noch nicht ausgeschöpft werden. Zwar habe Deutschland kein schlechtes Gesundheitssystem, jedoch schneide es zum Beispiel in Bezug auf die Verhinderung vermeidbarer Mortalität durch die getätigten Gesundheitsausgaben pro Kopf deutlich schlechter ab als etwa Frankreich, Dänemark, Österreich oder die Niederlande, so Reinhard Busse. Sowohl er als auch weitere Beitragende verwiesen auf Lücken in der Generierung und Bewertung wissenschaftlicher Evidenz für evidenzbasierte Entscheidungen auf gesundheitspolitischer Ebene, aber auch auf Barrieren in der Umsetzung evidenzbasierter Regelungen, zum Beispiel in Bezug auf Mindestmengen, sowie in der Überwachung und Evaluation der Versorgungsqualität.
Im Fokus der Kritik standen in mehreren Kongressbeiträgen vor allem die Eruierung und Regelung einer bedarfsgerechten Versorgung in den Krankenhäusern. Gefragt seien unter anderem verbindliche und funktionierende Mechanismen für Rückkopplungen und Konsequenzen bei klinisch nicht erklärbaren Abweichungen von Normen oder Entscheidungskorridoren.
Auch klare Verantwortlichkeiten für die Generierung von bestmöglicher Evidenz und deren Bewertung (Appraisal) nicht nur für medikamentöse und nicht-medikamentöse Verfahren, sondern auch für die institutionelle Mesoebene (vor allem den Krankenhaussektor) und für bevölkerungsbezogene Maßnahmen auf der Makroebene, wie sie für die Pandemiebewältigung erforderlich waren und sind, fehlen. Während für die institutionelle Ebene eine Ausweitung und Schärfung des Auftrags des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen als hilfreich bezeichnet wurde, blieb für die Makroebene die Frage offen, wo das „evidence based policy making“ am besten verortet werden kann.
Mehr Informationen:
www.ebm-netzwerk.de