Sie sind Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für digitale Gesundheit und Prävention und arbeiten an Lösungen, die es Menschen leichter machen, ihren guten Vorsätzen treu zu bleiben – kann man das so salopp formulieren?
Josef Niebauer: Wir arbeiten interdisziplinär an Lösungen, um die Menschen gezielt bei einer gesünderen Lebensführung zu unterstützen. Wir betreiben angewandte Forschung mit einem offenen Ansatz und wollen die Ergebnisse schnellstmöglich zurück zu den Menschen bringen. Konkret wollen wir herausfinden, wie man PatientInnen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen mittels digitaler Technologien dabei helfen kann, ihren Lebensstil nachhaltig und dauerhaft zu ändern. Denn diese Menschen sind oft zu Änderungen bereit, um gesundheitliche Schäden zumindest zu begrenzen – ganz zurückdrehen lässt sich die Gesundheitsuhr ohnehin nicht. Unter Aufsicht, also im Krankenhaus und während einer Reha, klappt das meist auch gut, doch daheim sieht es dann anders aus. Im gewohnten Umfeld verfallen viele in alte Muster und setzen womöglich sogar noch eins drauf, um Versäumtes zu kompensieren. Das hat man ja auch bei Corona gesehen.
Und digitale Technologie kann das verhindern?
Josef Niebauer: Wichtig ist es, die Auslöser zu erkennen, die dazu führen, dass jemand rückfällig wird. Es geht um positive Trigger, die die Menschen dazu bringen, jene Dinge zu tun, die gut für sie sind. Vereinfacht gesagt, zeigen bestimmte Daten Regelmäßigkeiten, die das persönliche Verhalten spiegeln. Sie erlauben es, Prognosen zu treffen – beispielsweise darüber, ob jemand im Lauf des Tages seine Übungen auch tatsächlich machen wird oder nicht. Unser Institut hat beispielsweise eine App entwickelt, die von Gesundheitsfachkräften zusammen mit ihren PatientInnen genutzt wird und die gemeinsame Erstellung, Überwachung und regelmäßige Überprüfung eines personalisierten herzgesunden Bewegungsplans ermöglicht. Wir bringen sozusagen das Team der Reha digital nach Hause, auf dem Smartphone oder in Zukunft vielleicht auch als Avatar.
Künstliche Intelligenz, die Menschen dazu bringt, ihr Leben zu verändern: Klingt das nicht stark nach „Big Brother“?
Josef Niebauer: Da geht es keinesfalls um Big Brother, sondern um ein strikt freiwilliges Angebot. Die Patientinnen behalten zu jeder Zeit die Kontrolle über ihre Daten und geben nur jene frei, die sie freigeben möchten. Das bleibt ausschließlich ihre eigene Entscheidung. Unserer Erfahrung nach haben Patientinnen damit weniger Probleme als manche Datenschützer. Da wird manchmal über Ziel hinausgeschossen, wobei sich schon die Frage stellt: Was will ich schützen – Daten oder die Gesundheit von Menschen? Schließlich ist unser Ziel, gesundheitliche Schäden zu verhindern. Die Patient*innen selbst sollten zumindest gefragt werden, welchen Schutz ihrer Daten sie überhaupt wollen.
Es gibt bereits jetzt riesige Mengen an Gesundheitsdaten.
Josef Niebauer: Das stimmt, aber die Hürden, sie zu nutzen, sind ebenfalls riesig, auch wenn COVID-19 hier Entwicklungen beschleunigt hat. Der Druck im Kessel wächst. Kompatibilität und Vernetzung dieser sensiblen Daten sind nicht nur regulatorische Herausforderungen. Da geht es auch um die technischen Möglichkeiten, wie die Menschen ihre eigenen Daten selbst verwalten und verwenden können. Das sind Fragen von großer Verantwortung und Tragweite. Es ist ein langer Weg, aber er kann sich lohnen. Wenn es gelingt, durch die digitale Nutzung dieser Daten gesündere Lebensstile nachhaltig zu verankern, steckt darin enormes gesundheitliches Potenzial. Schließlich sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen weltweit die häufigste Todesursache, und erfolgreiche Modelle lassen sich auch auf andere Bereiche ausrollen.
Vertrauen die PatientInnen nicht doch lieber Menschen als Algorithmen?
Josef Niebauer: Es geht nicht um das Ersetzen von ÄrztInnen und PflegeexpertInnen, sondern um das Augmentieren und Weiterentwickeln ihrer Möglichkeiten. Menschliche Zuwendung lässt sich nicht ersetzen, und zumindest der initiale direkte Kontakt mit Gesundheitsprofis wird nie ganz wegfallen. Aber um beim Beispiel unserer App zu bleiben: In peripheren Regionen wird es auch in Zukunft wegen zu geringer Bevölkerungsdichte keine ambulante Reha geben. Digitale Technologie macht es den Menschen auch dort möglich, mit Reha-Maßnahmen zu Hause am Ball zu bleiben – nachhaltig und ein Leben lang. Wichtig ist natürlich, dass diese Maßnahmen lebenspraktisch gestaltet sind und im Alltag Platz finden.
Sie setzen Digitalisierung in der Prävention ein. Wie wird die digitale Zukunft auch die Behandlung verändern – Stichwort Hospital at Home?
Josef Niebauer: Es ist absehbar, dass sich bestimmte Behandlungen aus der Akutklinik verlagern werden, zum Beispiel im Zusammenspiel mit 24-Stunden-Pflege. Digitalisierung wird es ermöglichen, das Versorgungsniveau zu Hause durch Expertinnen im Hintergrund weiter zu heben. Es wird Entwicklungen geben, die mit dem Bild vom klassischen Spital womöglich nicht mehr viel zu tun haben – ein E-Mail-Fach sieht ja auch anders aus als ein Postamt. Das heißt aber nicht, dass Ärztinnen oder Pflegepersonen im Krankenhaus die Arbeit ausgeht, im Gegenteil: Die digitale Betreuung von Patienten*innen wird eher eine zusätzliche Belastung bedeuten, auch das muss man mitbedenken. Die Digitalisierung im stationären Gesundheitswesen ist nach wie vor eine Gleichung mit vielen Unbekannten, aber wir werden in etlichen Bereichen nicht darum herumkommen.