Dieses Thema ergibt sich aus einem Problem, das Führung ganz besonders betrifft. Wer heute führt, muss imstande sein, aus dem unaufhörlichen „Rauschen“, aus dem Organisationen letztlich bestehen, die relevanten Informationen zu gewinnen. Relevant heißt: Den Unterschied erkennen, der einen Unterschied macht. Und Rauschen, ein Begriff aus der Nachrichtentechnik, bezeichnet die Überfülle unspezifischer Signale, die den Empfänger entweder einlullen oder ihn in die mentale Erschöpfung treiben können. Um dieses Rauschen zu bewältigen oder gar zu meistern, braucht es die anspruchsvolle Fähigkeit, das eigene Denken zu regulieren: Metakognition oder überlegtes Denken.
Dazu gehört zunächst einmal ein Wissen darüber, was man als Führungskraft aus der ständigen Signalflut tatsächlich auszuwählen hat, und wann und wie die gewonnenen Informationen am zweckmäßigsten einzusetzen sind. Hinzu kommt die Bereitschaft, über die eigenen Denkprozesse zu reflektieren. Wie komme ich in meiner Führungstätigkeit vorwiegend zu Erkenntnissen – rasch und mühelos, angestrengt und kontrolliert, spontan und intuitiv, abwartend und zweifelnd, mithilfe von Logik oder durch Daumenregeln? Metakognition ist eine Bewertungsinstanz. Mit ihr werden gewohnte Denkmuster offengelegt, auf ihre Wirksamkeit geprüft und – wenn sinnvoll – durch zweckmäßigere ersetzt.
Oft liest oder hört man, unser Gehirn sei ein fehleranfälliges Organ, sonst gäbe es nicht so viele Sinnestäuschungen. Das Wort „Fehler“ unterstellt, dass es eine objektiv wahre Welt gibt, die das Gehirn gefälligst präzise abzubilden hat. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben Landkarten und nicht die Landschaft im Kopf. Die Landkarten sollen uns einigermaßen verlässlich durch den Alltag lenken. Sie entstehen, indem wir die vielfältigen Eindrücke von der Welt durch unsere Erfahrungen, Einstellungen, Vorlieben, Werte und Glaubenssätze filtern. Durch diese Verengung unserer Kognition entgehen uns oft Bilder, die passender oder nützlicher gewesen wären als die tatsächlich erfahrenen. Das Erkannte ist nicht falsch, es ist verzerrt.
Beispiele für solche kognitiven Verzerrungen gibt es zuhauf. So neigen wir zum Beispiel dazu, uns für eine höhere Zahl zu entscheiden, wenn wir zuvor bereits mit hohen Zahlen, auch in einem ganz anderen Kontext, konfrontiert waren. Wir beharren störrisch auf einer Annahme, obwohl neue Informationen dagegensprechen. Im ungeordneten Rauschen von Signalen erkennen wir Muster, die einer Überprüfung gar nicht standhalten. Wir glauben hartnäckig, den Zufall beeinflussen zu können, obwohl wir gerade eine Kette von negativen Ergebnissen zu verkraften hatten. Wir wählen aus mehreren Informationen jene aus, die unsere Erwartungen bestätigen – und so fort.
Krönung der Metakognition ist die Fähigkeit des Entlernens, Leerwerdens oder Zurückspulens. „Man entdeckt keine neuen Weltteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren“, schrieb André Gide. Und der Ökonom John Maynard Keynes ergänzt: „Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken als in der Befreiung von den alten.“ Statt von Gedanken sprechen wir heute von mentalen Modellen. Sie haben sich oft radikal überholt und beherrschen dennoch hartnäckig unser Denken. In drei Schritten können wir uns dieser mentalen Modelle entledigen und Platz für neues Denken schaffen.
Erstens, sich mit Menschen zusammenzutun, die völlig konträr an Probleme herangehen und dafür Lösungen entwickeln. Dies zwingt zum Hinterfragen des eigenen Tuns. Im nächsten Schritt sich bestimmte gewohnte Denk- und Vorgehensweisen verbieten („Nein, so mache ich das ab sofort nicht mehr!“). Und anschließend altes Wissen entsorgen, indem alle Quellen dafür – persönliche Kontakte, Handbücher, Softwareprogramme, technische Hilfsmittel etc. – trockengelegt oder eliminiert werden. Wie schwierig, aber beileibe nicht unmöglich, Entlernen sein kann, zeigt das Beispiel Radfahren. Es gehört zum prozeduralen Wissen und bleibt uns an sich ein Leben lang erhalten. Durch Üben mit einem verrückten Fahrrad („Backwards Brain Bicycle“) – wenn ich nach links lenke, so steuert das Rad nach rechts und umgekehrt – gelingt es, das Gehirn auszutricksen und eine fest verwurzelte Fähigkeit zu entlernen.
Autor:
ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl
Forschungspartner des Zentrums für systemische
Forschung und Beratung, Heidelberg
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