Heimische Gesundheitseinrichtungen dehnen ihre Personalsuche auf Staaten außerhalb der EU aus. Jüngster Trend: Rekrutierungen im Maghreb, in Vietnam und auf den Philippinen. Für Personalvermittler eröffnet sich im Pflegebereich ein neuer Markt.
Oberösterreichs Soziallandesrats Wolfgang Hattmannsdorfer zeigt sich zufrieden: „Das Pilotprojekt im Vorjahr ist gut gelaufen. Jetzt wird es auf Oberösterreich ausgeweitet.“ Gemeint ist der Einsatz von Pflegekräften aus den Philippinen in Alten- und Pflegeheimen. Nachdem im Vorjahr die ersten zwölf Pflegerinnen und Pfleger aus Fernost in Perg ihre Arbeit begonnen hatten, sind im Jänner des neuen Jahres die nächsten 37 Pflegekräfte in Oberösterreich eingetroffen. Sie werden bereits in 13 von 18 Bezirken des Bundeslandes eingesetzt. Was den Verantwortlichen in Linz besonders gut an den Pflegekräfte von den Philippinen gefällt: ihre hilfsbereite Mentalität und das hohe Niveau der lokalen Ausbildung.
Blüten Asiens. Oberösterreichs Soziallandesrat
Wolfgang Hattmannsdorfer (Bildmitte) inmitten philippinischer Pflegerinnen. Personal aus dem Ausland soll helfen, die heimischen Gesundheitseinrichtungen vor dem Kollaps zu bewahren.
Rekrutierung im Ausland
Das oberösterreichische Beispiel ist kein Einzelfall. Neuerdings werden heimische Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime bei ihrer händeringenden Suche nach Pflegepersonal immer öfter außerhalb der EU-Grenzen fündig. Aus Sicht von Ulrike Famira-Mühlberger vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) ist das eine logische Entwicklung. Bislang habe man sich bei der Suche nach Pflegekräften aus dem Ausland auf die EU-Länder konzentriert. Das reiche aber nicht aus. „Wir haben schon viel Potenzial aus dem EU-Raum abgezogen. Ich glaube, dass wir uns zusätzlich auf die Rekrutierung aus Drittstaaten konzentrieren sollten. So wie das in Deutschland bereits seit Jahren gezielt gemacht wird.“
Arno Krzywon nutzt seit dem Vorjahr Know-how aus Deutschland – genauer gesagt aus Deutschland und Tunesien. Krzywon, Geschäftsführer des niederösterreichischen Unternehmens Medbest, das im Medizinhandel tätig ist, unterstützt seit 2022 österreichische Unternehmen und Organisationen, vor allem aus dem Gesundheitswesen, beim Recruiting von Personal in Tunesien. Dabei arbeitet Medbest mit einem tunesisch-stämmigen Partner aus Deutschland zusammen, der seit vier Jahren in diesem Geschäftsfeld tätig ist. „Medizinische Fachkräfte aus Tunesien sind in Deutschland aufgrund ihrer guten Ausbildung sehr beliebt. Und auch in Österreich wird unser Angebot sehr gut angenommen“, so Krzywon. Man habe 2022 insgesamt 350 Kandidaten aus Tunesien, vor allem Pflegepersonal, an rund 50 Häuser im österreichischen Gesundheitswesen vermittelt. Zu seinen Kunden zählt der Personalvermittler beispielsweise die Burgenländische Krankenanstalten Gesellschaft Krages, die SeneCura-Gruppe oder die Vinzenz Gruppe.
Diesen Kunden verspricht Medbest eine umfassende Betreuung: Dazu gehört die Vorauswahl der Kandidaten, die allesamt einen Bachelor-Abschluss besitzen und mit Deutschkursen vor Ort in Tunesien zunächst auf das Sprachlevel B1 und mit weiterem Unterricht nach ihrer Ankunft in Österreich auf B2 gebracht werden. Medbest kümmert sich um die Abwicklung der behördlichen Genehmigungsverfahren in Österreich und die Organisation der notwendigen Weiterbildungsmaßnahmen. Man habe, so Krzywon, mit den zuständigen Fachhochschulen einen eigenen Ergänzungslehrgang entwickelt, in dem die Pflegerinnen und Pfleger innerhalb eines Semesters einen Abschluss als Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger (DGKP) erhalten können. Während dieser Weiterbildung dürfen sie bereits bei ihrem neuen Arbeitgeber eine Stufe unter diesem Niveau als Pflegefachassistenz (PFA) arbeiten.
Ergänzt werden diese Leistungen durch ein weiteres Service, das der Medbest-Geschäftsführer besonders betont: Unterstützung der Neuankömmlinge bei der Integration in ihrer neuen Wahlheimat. Gerade dieser Punkt ist aus Sicht von Experten ein kritischer Erfolgsfaktor bei der Anwerbung von Personal aus dem Ausland. In der Vergangenheit, so Silvia Hofbauer, Leiterin der Abteilung Arbeitsmarkt und Integration der AK Wien, sei oftmals vergessen worden, „dass nicht nur Arbeitskräfte zu uns kommen, sondern Menschen, die hier leben wollen.“ Und die hätten Bedürfnisse: „Sie wollen ihre Familien nachholen, gute Wohnmöglichkeiten haben, und nicht irgendwo ein Zimmer, und sie wollen Kontakt zu ihrer Community aufbauen.“
Georg Rainer, Geschäftsführer des Paschinger Personalberaters Woofors, der Arbeitskräfte aus dem EU-Raum vermittelt, sieht das ähnlich: „Es muss beides passen – das Fachliche und das Kulturelle. Die Unterstützung bei der Integration in der neuen Heimat ist extrem wichtig.“ Medbest-Geschäftsführer Krzywon formuliert es so: „Wir sind nicht Arbeitsvermittler, wir sind Integrationspartner.“ Denn nur ein zufriedener Mitarbeiter, der sich in seiner neuen Umgebung wohl fühle, sei ein loyaler Mitarbeiter. „Wenn es nicht passt, war alles umsonst. Dann geht er oder sie nach einem Jahr wieder nach Hause – oder woanders hin“, meint Krzywon.
Neues Geschäftsfeld. Medbest-Geschäftsführer Arno Krzywon dehnt seine Geschäftsfelder auf die Personalvermittlung aus. Er organisierte bereits den Transfer von mehreren Dutzend tunesischer Pflegekräfte nach Österreich.
Österreich als Durchgangsstation
Das „woanders hin“ sieht AK-Vertreterin Hofbauer als konkrete Gefahr. „Es kann zu einem echten Abfluss kommen, denn es gibt einen großen europäischen Arbeitsmarkt.“ Wenn jemand erst einmal den großen Sprung von seiner Heimat nach Österreich gewagt hat, dann ist der nächste Sprung von Österreich in ein anderes EU-Land nicht mehr groß. Vor allem Deutschland lockt die Fachkräfte – zumal aus Sicht vieler Fachleute das Nachbarland als Arbeitsmarkt für Pflegepersonal aus EU-Drittstaaten deutlich attraktiver ist als Österreich: Die Bezahlung ist besser und die Behördenverfahren sind deutlich kürzer.
Selbst Deutschland steht im internationalen Vergleich nicht überragend da. Die Konkurrenz mit Staaten wie Kanada oder den USA ist intensiv. Die nordamerikanischen Staaten setzen seit Jahren eine gezielte Strategie der qualifizierten Zuwanderung im Pflegesektor um. „Es gibt einen globalen Wettbewerb um die Ressource Pflege. Das hat man noch nicht überall mitbekommen“, meint Leon Bauer, Geschäftsführer des deutschen Personalberaters Onea Care, der sich auf die Anwerbung von Pflegekräften aus Drittstaaten spezialisiert hat. Bauer sieht vor dem Hintergrund der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung und den daraus entstehenden Konsequenzen für den Pflegebereich großen Handlungsbedarf in den EU-Ländern: „Der demografische Wandel ist eine mathematische Gewissheit.“
Diese mathematische Gewissheit hat man in Österreich spätestens im Jahr 2019 erhalten – und zwar in Form einer Prognose zum Bedarf an Pflegepersonal, die im Auftrag des Gesundheitsministeriums erstellt wurde. Das Ergebnis: Bis zum Jahr 2030 werden in Österreich zusätzlich 76.000 Pflegerinnen und Pfleger benötigt. Zur Einordung: Im Jahr 2019 waren rund 127.000 Personen im Pflegesektor beschäftigt – davon 67.000 in Krankenhäusern und 60.000 im sogenannten Langzeitbereich (Alten- und Pflegeheime). Die Ursache für diese Lücke, auf die auch die Studie hinweist, ist seit Jahrzehnten bekannt: die demografische Entwicklung. Einerseits wächst aufgrund der steigenden Lebenserwartung die Zahl der pflegebedürftigen Menschen. Gleichzeitig schrumpft die Zahl der jungen Menschen, die neu in das Berufsleben einsteigen, und damit der Pool an potenziellen Pflegerinnen und Pflegern.
AK-Expertin Hofbauer ist davon überzeugt, dass „Abwerbeaktionen aus dem Ausland nur ein Teil der Lösung sein können. Das Wichtigste ist, dass wir bei uns in Österreich unsere Hausaufgaben machen.“ Diese Hausaufgaben lassen sich so zusammenfassen: faire Bezahlung, finanzielle Unterstützung bei der Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen mit mehr Anerkennung, vorhersehbaren Dienstplänen und mehr Freizeit. „Es steigen ja durchaus viele Menschen in den Pflegeberuf ein, aber leider auch viele wieder aus“, so Hofbauer.
Kleiner Teil der Lösung
Wer die Ursachen für das Dilemma sucht, wird unter anderem beim österreichischen Föderalismus fündig. Dieser dämpft auch die Freude von Medbest-Geschäftsführer Krzywon über das erste Jahr im Bereich der Personalvermittlung: „Wir haben 27 verschiedene Ansprechpartner: den Landeshauptmann, die zuständige Fachhochschule und die Bezirkshauptmannschaft. Und das Ganze mal neun“, konstatiert Krzywon. Erschwerend kommt dazu, dass die Regelungen von Bundesland zu Bundesland variieren. Der Medbest-Geschäftsführer: „Die Zusammenarbeit mit den Behörden läuft gut. Aber der Gesamtprozess ist sicher noch nicht optimiert.“
Immerhin, mit dem 2022 präsentierten Pflegepaket und den Erleichterungen beim Zugang zur Rot-Weiß-Rot-Karte hat die Bundesregierung aus Sicht von vielen Experten einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Der Meinung ist auch Krzywon. Luft nach oben gibt es aber immer noch: „Der Prozess von der Auswahl des Kandidaten bis zum Zeitpunkt, an dem dieser die Arbeitsbewilligung in der Hand hält, dauert je nach Bundesland zwischen fünf und zehn Monate“, mein Krzywon. „In Deutschland sind es vier. Wenn Sie einen Aufpreis von 411 Euro für ein beschleunigtes Verfahren bezahlen, geht es sogar noch schneller.“ Rhetorische Frage: „Was glauben Sie, welches Land gewinnt?“
Die Frage nach Gewinner und Verlierer beschäftigt auch Kritiker der Anwerbungen in EU-Drittländern. In Deutschland wurden allein im Jahr 2020 rund 19.000 Pflegeabschlüsse aus EU-Drittstaaten anerkannt – besonders viele dieser Pflegerinnen und Pfleger kommen aus Bosnien-Herzegowina. Ein Vertreter der Pflegegewerkschaft im Landesteil Republika Srpska beurteilt diesen Brain Drain gegenüber dem deutschen Rundfunksender MDR sehr negativ: „Die Folgen sind katastrophal. Wir werden ohne Fachkräfte dastehen.“ Die Pflege in Bosnien ruhe momentan auf den Schultern der 50- bis 60-jährigen Pflegekräfte, die Generation der 1980er- bis Ende der 1990er-Jahre Geborenen sei fast ausnahmslos ins Ausland gegangen. So sei eine Lücke von 30 Jahren entstanden.
Medbest-Geschäftsführer Krzywon hält der Kritik für den Fall Tunesien entgegen, dass die Arbeitslosenquote im Land bei 16 Prozent liege und laut Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Tunesien kein Fachkräftemangel in medizinischen Berufen bestehe. Wifo-Expertin Famira-Mühlberger gibt allerdings zu bedenken, „dass auch in den Maghreb-Staaten wie Tunesien vermutlich nicht mehr Pflegekräfte ausgebildet werden, als man im Land tatsächlich benötigt.“ Sie sieht jedoch eine mögliche, pragmatische Lösung des Problems: Die europäischen Staaten könnten die Kosten für die Ausbildung von Pflegepersonal vor Ort übernehmen – und zwar in jenem Umfang, in dem sie Fachkräfte abwerben. „Damit wäre beiden Seiten geholfen.“