Freiheit auf Zeit

Lesedauer beträgt 8 Minuten
Autor: Sissi Eigruber

Für viele Briten ist das National Health Service (NHS) ein Symbol staatlicher Identität. In der Pandemie wurde das oft geschmähte und doch geliebte Gesundheitssystem aus seinen Angeln gehoben.

Seine ersten Wochen als britischer Gesundheitsminister hatte sich Sajid Javid wohl anders vorgestellt. Der ehemalige Schatzkanzler, Innenminister und Manager der Deutschen Bank verkündete am 17. Juli per Twitter: „Heute Morgen war mein Covid-Test positiv. Ich warte auf mein PCR-­Testergebnis, aber ich bin froh, dass ich zwei Impfdosen bekommen habe, und bisher sind meine Symptome sehr mild.“ Die Diagnose kam ausgerechnet zwei Tage vor dem groß angekündigten „Freedom Day“, jenem Tag, an dem in Großbritannien alle wesentlichen Einschränkungen im Alltagsleben zur Eindämmung der Corona-­Pandemie aufgehoben wurden! Die Maskenpflicht soll seither auf der Insel der Geschichte angehören.
Für seinen Boss waren die Nachrichten lästig: Premierminister Boris Johnson musste als Kontaktperson seines Gesundheitsministers in Quarantäne und hielt seine Rede zum „Freedom Day“ per Videoschaltung. Die Anzahl der positiven Coronatests im Vereinigten Königreich war zu diesem Zeitpunkt fast wieder so hoch wie während der Mega-­Welle im vergangenen Winter.

„Pingdemie“ in der Pandemie

Laut Berichten war die Freiheit vieler Briten am „Freedom Day“ allerdings eher eingeschränkt: Rund 1,7 der 67,4 Millionen Einwohner Großbritanniens befanden sich in Quarantäne. Sie wurden „gepingt“. Das bedeutet, dass die Corona­-App angeschlagen hatte und mit einem „Ping“­-Geräusch in Quarantäne geschickt hat.

Die Corona-­App wurde in Großbritannien besser angenommen als in Österreich: Laut einer Preprint­-Studie zur Wirksamkeit der britischen Corona­ App der Universität Oxford und des Alan Turing Institute aus dem Vereinigten Königreich vom Februar 2021 wurde die App bereits zu diesem Zeitpunkt von 16,5 Millionen Nutzern und damit von rund 25 Prozent der Bevölkerung regelmäßig verwendet. In Österreich lag der Wert für die Nutzung der lokalen Corona­-App im Februar bei etwa 16 Prozent. In Großbritannien soll die Corona­ App laut Studie zwischen Oktober und Dezember 2020 etwa 200.000 bis 900.000 SARS­CoV­2­Infektionen verhindert haben.

Corona­-Apps sind nach wie vor umstritten. „Von Anfang an bestanden bei Experten für die Bluetooth­-Technologie größte Zwei­fel, ob diese Technologie dafür geeignet sein könnte, die Entfernung zwischen zwei Personen unter realen Bedingungen auch nur näherungsweise zu ermitteln“, wird Prof. Florian Gallwitz, Professor für Medieninformatik an der Technischen Hochschule Nürnberg vom „science media center germany“ zitiert. Im öffentlichen Nahverkehr sei es etwa unmöglich zu unterscheiden, „ob eine andere Person einen Meter oder zehn Meter von einer anderen entfernt sitzt“, gibt Gallwitz zu bedenken.

Dem positiven Effekt einer vermeintlichen Eindämmung der Pandemie durch die Nutzung der Corona­-App stehen in Großbritannien negative Effekte gegenüber: Durch die umfassende Isolation von Covid-­Kontaktpersonen fehlen diese als Arbeitskräfte. Personalengpässe führten unter anderem zu Einschränkungen im U-­Bahnverkehr und zu leeren Regalen und eingeschränkten Öffnungszeiten in den Supermärkten. Daher macht eine neue Wortkreation die Runde: In britischen Medien ist oft nicht mehr von der Pandemie, sondern der „Pingdemie“ die Rede.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Doch trotz steigender Covid­-Infektionen und „Pingdemie“­bedingtem Personalmangel hielt der britische Premier Johnson an der Lockerung der Corona-­Maßnahmen fest: „Wenn nicht jetzt, wann dann“, sagte er in seiner Rede zum „Freedom Day“ am 19. Juli 2021. „Wenn wir jetzt nicht öffnen, dann riskieren wir sogar härtere Restriktionen in den kommenden Monaten“, warnte der Premierminister mit dem Verweis auf den „natürlichen Vorteil“, den das Virus saisonal bedingt im Winter wieder erlangen werde. Dabei kann die Bevölkerung Großbritanniens gegenüber anderen Ländern auf einen veritablen Startvorteil im Kampf gegen das Virus verweisen: Jenseits des Kanals stand sehr früh viel Impfstoff zur Verfügung. Und die Impfbereitschaft ist hoch. Somit waren im United Kingdom per 19. Juli 2021 bereits 68,5% der Bevölkerung zweimal geimpft, während in Österreich zu diesem Zeitpunkt erst knapp mehr als die Hälfte (51,7%) einen vollständigen Covid­19­Impfschutz hatte.

Hohe Sterberate in Großbritannien

Die dramatischste Entwicklung hatte es in Großbritannien zu Beginn der Pandemie gegeben: So schreibt das Office for National Statistics in seinem am 19. März 2021 publizierten Bericht „Comparisons of all­cause mortality between European Countries and regions: 2020“, dass das United Kingdom im Frühling und Herbst 2020 „beispiellos hohe Sterberaten“ verzeichnete. Demnach hatte das UK bis Juni 2020 die höchste kumulative Übersterblichkeitsrate in Europa mit einer Spitze von plus 101,5 Prozent in der Woche, die mit dem 17. April endete. Im Gesamtjahr 2020 lag die Übersterblichkeitsrate im UK 7,2 Prozent über dem Fünfjahresschnitt. In Großbritannien wurden allerdings vorerst nur die in Krankenhäusern gemeldeten Todesfälle in Zusammenhang mit Covid gezählt. Todesfälle in Alten­ und Pflegeheimen wurden erst Ende April in die Statistik aufgenommen. Die Dunkelziffer der tatsächlichen Covid-­Toten zu Beginn der Pandemie ist daher hoch. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zählte 2020 für die 29 OECD­-Mitgliedsländer um 1 Million mehr verstorbene Menschen als in den vergangenen Jahren. Dabei lag Großbritannien in absoluten Zahlen mit 94.400 Todesfällen als trauriger europäischer Spitzenreiten hinter den USA (458.000) und vor Italien (89.100).

Stolz und Ärger über das Gesundheitssystem

Ein doppelt frustrierendes Erlebnis für die Briten, denn sie sind stolz auf ihr staatliches Gesundheitssystem, den National Health Service (NHS). Wie identitätsstiftend das britische Gesundheitssystem für die Briten ist, zeigt zum Beispiel eine Aussage des bekannten Autors Nick Hornby in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, das am 7. Juli 2021 veröffentlicht wurde. Er äußert seinen Unmut über Premierminister Boris Johnson, hebt aber auch die Bedeutung des NHS hervor: „Ich war niemals so stolz darauf, Engländer zu sein, wie 2012, bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von London. Das war ein Land, in dem ich mich wiedererkannte, weil Dinge gefeiert wurden, die Teil meiner selbst waren, sei es das öffentliche Gesundheitssystem NHS oder (die Punkband, Red) The Clash. Da dachte ich: ‚Oh my god! This is my country!‘“

Die Pandemie führte den Briten vor Augen, wie schwach ihr Gesundheitssystem aufgestellt ist. Der NHS wurde 1948 unter Premierminister Clement Attlee gegründet und basiert auf der Grundidee des Wohlfahrtsstaates. Die Finanzierung erfolgt weitgehend aus Steuern aus dem Budget des Gesundheitsministeriums und mittelbar über die staatliche Agentur Public Health England (PHE). Jede in Großbritannien wohnhafte Person (resident) erhält weitgehend kostenlos medizinische Versorgung im primären (Hausarzt) und im sekundären Bereich (Krankenhäuser).

„Jeder ‚Resident‘ wird betreut“, berichtet Anna-­Maria Bauer über ihre Erfahrungen in England. Die Österreicherin lebt seit Februar 2021 in England und kann medizinische Leistungen über den NHS in Anspruch nehmen. Was ihr auffällt: „Für den NHS gibt es große Unterstützung in der Bevölkerung. Die Hilfsbereitschaft und der Zusammenhalt sind hier enorm“, Bauer. „Als die Corona-­Pandemie in Großbritannien angekommen war, gab es nicht nur zu wenig Spitalbetten und Schutzausrüstung, sondern auch zu wenig Personal. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass im Zuge des Brexits viele Angestellte, die aus EU-­Ländern stammen, wieder abgewandert sind. Zudem infizierte sich ein großer Teil des medizinischen Personals. Laut Royal College of Physicans war zeitweise jeder vierte Mediziner des NHS „krank oder in Isolation.“ Also bat die Regierung medizinisch ausgebildete Personen in Pension sowie Studenten aus dem medizinischen Bereich um Unterstützung. So konnten mehr als 60.000 fachlich qualifizierte Personen rekrutiert werden, die die medizinische Arbeit im Kampf gegen die Pandemie unterstützten. Zudem meldeten sich rund 500.000 freiwillige Helfer für den NHS. Im Land verteilt wurden sieben Feldspitäler zur Versorgung der Covid-Patienten errichtet.

Wirklich gut vorbereitet war wohl kein Land auf die Corona­ Pandemie, doch der unterfinanzierte und unterbesetzte NHS hatte im europäischen Vergleich schlechtere Voraussetzungen als andere Länder. Das zeigt zum Beispiel die Betrachtung der Anzahl der Intensivbetten pro 100.000 Einwohner. Laut dem Bericht der OECD/European Union (2020) „Health at a Glance: Europe 2020. State of Health in the EU Cycle“ liegt diese in UK (England) mit 10,5 unter dem EU­14­-Schnitt von 12,9.

Zum Vergleich: In Österreich gibt es 28,9 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner. Da für diesen Vergleich die jeweils letzten verfügbaren Daten betrachtet wurden, beziehen sich die Daten für Österreich auf das Jahr 2018 und jene für UK auf das Jahr 2020. Beim Vergleich der OECD-­Daten für die Gesundheitsausgaben als Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigt sich für 2019 mit 10,4 Prozent für Österreich und 10,3 Prozent für das Vereinigte Königreich ein ähnlicher Wert. Doch die Jahre davor lag das United Kingdom deutlich unter zehn Prozent des BIP. Seit der Finanzkrise 2008 habe es in Großbritannien eine Sparpolitik gegeben, analysiert der Historiker Florian Weis von der Rosa ­Luxemburg­ Stiftung in dem Youtube­-Video „Der NHS in Großbritannien“ vom 22. April 2020. „Darum ist das Hauptproblem des NHS eine chronische Unterfinanzierung, die sich jetzt in der aktuellen Krise besonders bitter rächt“, so Weis.

Zick-Zack-Boris

Der Kurs von Premierminister Johnson war in der Pandemie äußerst sprunghaft. Der erste Lockdown wurde relativ spät verhängt, nachdem Johnson zuerst auf das Konzept der Herdenimmunität gesetzt hatte. Der Epidemiologe und ehemalige Regierungsberater Neil Ferguson vom Imperial College schätzt, dass zu Beginn der Pandemie mindestens die Hälfte der Sterbefälle in Großbritannien hätten verhindert werden können, wäre der Lockdown im März eine Woche früher durchgesetzt worden.

Premier Boris Johnson hat inzwischen Fehler im Umgang mit der Pandemie eingeräumt. Dass mit dem „Freedom Day“ fast alle Beschränkungen zur Eindämmung des Corona-­Virus aufgehoben wurden, sieht Ferguson naturgemäß kritisch. „Ein Experiment“, wie er meint. Eines, das ein weiterer Puzzlestein im Zick­ Zack­-Kurs der Johnson­-Regierung sein könnte, sollten die Zahlen an Infektionen und Intensivpatienten wieder stark ansteigen. Dann war es nur Freiheit auf Zeit.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Weiterlesen

Aktionsbündnis Patientensicherheit: „Gemeinsam für eine sichere Medikation – transparent, digital, einfach“

Bei der zentralen Veranstaltung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e.V. (APS) zum Welttag der Patientensicherheit in Berlin waren sich alle Akteure einig: „Patientensicherheit ist absolut – man kann nicht ein bisschen Patientensicherheit machen“.