Wenn Irrtum vermeidbar ist

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Autor: Alexandra Keller

In einem Landeskrankenhaus wird einem Patienten das falsche Bein amputiert. Gegen derartige Verwechslungen wirken spezielle Sicherheitskonzepte. Allerdings werden diese ignoriert.

Verwechslungen im Gesundheitsbereich zeitigen oft fatale Folgen. Im Mai sorgte der Fall eines Patienten im LKH Freistadt für Aufsehen. Ihm war das falsche Bein amputiert worden. Die bittere Logik dieser Verwechslung war, dass dem Patienten dann auch das „richtige“ Bein amputiert werden musste, das kranke. Das Schlimme daran: Die Fehler sind vermeidbar.

Checkliste gegen den X-Faktor

Ein Blick auf die Checkliste der Österreichischen Plattform Patientensicherheit lässt erahnen, was schiefgelaufen sein muss (Das Verzeichnis ist online verfügbar auf www.plattformpatientensicherheit. at). Dabei handelt es sich um die österreichische Version der Prüfliste, mit der die WHO (Weltgesundheitsorganisation) 2009 die globale Krankenhauswelt wachrüttelte und die OP-­Teams zur Kommunikation auffordert. „Die WHO­-Checkliste verbessert die Kommunikation im OP. Nicht das Ankreuzen von Checkboxen, sondern das Gespräch im Team erhöht die Patientensicherheit“, unterstreicht der Ärztliche Direktor am KRH Klinikum Neustadt am Rübenberge, Markus Holtel, in einem Beitrag im Deutschen Ärzteblatt (Kommunikation: Die wichtigste Nebensache im OP, www.aerzteblatt. de; 2017). Checklisten hätten die Eigenschaft, Komplexität zu reduzieren, den Ablauf zu ritualisieren und einen Rahmen für Kommunikation zu schaffen. Die Einführung der Checks wird aber nicht immer gerne gesehen: „Mancher hoch qualifizierte Mitarbeiter in der Klinik mag die WHO-­Checkliste als Bevormundung oder Infragestellen seiner Qualitäten erleben. Es geht aber darum, ihm Raum für seine Kerntätigkeit zu verschaffen“, verweist Holtel Eitelkeiten aus dem OP­Saal. „Eine verbesserte Kommunikation bindet das gesamte Team ein, nutzt dessen Ressourcen und entlastet die Akteure von Nebenaspekten. Diese positiven Wirkungen kann die Checkliste aber nur entfalten, wenn sie ernst genommen wird.“ Und er warnt davor, Versuche an andere Beteiligte zu delegieren. Dies würde den Hauptzweck des Checks unterlaufen: dass die Aufmerksamkeit aller Beteiligten der anstehenden Operation gewidmet ist. Gelegentlich bearbeiten Teams die Liste auch zu anderen als den vorgesehenen Zeitpunkten. Durch diesen halbherzigen Einsatz verliere sie jedoch ihre Wirkung. Holtel: „Das Risiko für den Patienten kann sich sogar erhöhen.“

Wenig Beachtung

Im heimischen Krankenhaussystem spielen qualitätssichernde OP-­Vorbereitungen wie Checklisten nur eine untergeordnete Rolle. Maßnahmen zu strukturiertem Arbeiten im Team, Einhaltung standardisierter Prozeduren und eine professionelle Kommunikation im gesamten OP­-Team werden wenig ernst genommen. „Nachdem die WHO diese Checkliste veröffentlicht hatte, hieß es österreichweit, dass man diese Listen einführt. Die kleben oft an der Wand, werden einmal so und einmal so gehandhabt und bringen in der Form in Wahrheit nichts“, weiß Hans Härting. Härting ist AUA­-Flugkapitän und landete durch Zufall in der Welt der Patientensicherheit. Anfang der 2000er­ Jahre lernte er Norbert Pateisky kennen, der als Arzt in nahezu jeder Position des Spitalsmanagements Erfahrungen gesammelt hat. Dabei begegneten Pateisky immer wieder Probleme in der Umsetzung von Sicherheitsstrategien und qualitätssichernder Maßnahmen. Die Lösung dieser Aufgaben ist ein Ziel, das den in Sicherheitsfragen kompetenten Flugkapitän und den in den Krankenhausabläufen erfahrenen Arzt verbindet. 2004 gründeten sie die gemeinsame Firma Asseku-Risk, in deren Rahmen sie Unternehmen und Kliniken im Aufbau und der laufenden Optimierung einer „aktiven und gelebten Sicherheitskultur“ unterstützen. „Man glaubt immer, es sind medizinische Fehler, die da passieren. Aber wenn man sich im Detail damit beschäftigt, kommt man drauf, das sind gar keine medizinischen Fehler, sondern logistische Fehler, die im System Medizin passieren“, sagt Härting. Nicht ärztliche Kunstfehler seien es, die Sicherheitsstatistik verdunkeln, sondern die vermeidbaren Fehler. Härting unterstreicht, dass pro Minute mindestens fünf Patienten aufgrund von vermeidbaren Fehlern sterben. Und pro 1000 Aufnahmen gebe es zwischen fünf und sieben schwere oder bleibende Schäden. Hans Härting: „Das ist doch eine Sicherheitsstatistik, bei der man gar nicht mehr weiß, was man dazu sagen soll.“

Selbsterkenntnisse

Sprachlos reagierte die Welt, als 1999 der Institute of Medicine (IOM) Report „To Err is Human: Building a Safer Health System“ veröffentlicht wurde. Damals wurde geschätzt, dass jährlich 98.000 Patienten an der medizinischen Behandlung sterben und nicht an ihrer, der Behandlung zugrunde liegenden medizinischen Kondition. Die Zahlen mussten im Lauf der Zeit nach oben korrigiert werden. In der systematischen Überblicksarbeit (systematic review) „What’s new in the Patient Safety World. How Often Do Preventable Errors Occur?” stellten die Autoren im August 2019 fest, dass „einer von 20 Patienten Schäden durch vermeidbare Fehler in der medizinischen Behandlung“ erleidet und 12 Prozent dieser Fälle zu bleibenden Schäden oder zum Tod des Patienten führen. Die Wissenschaftler hielten in ihrer Arbeit zu­ dem fest, dass die Folgekosten von vermeidbaren Fehlern allein das US­-amerikanische Gesundheitssystem jährlich mit 9,3 Milliarden Dollar belasten.

Luftfahrt wie Medizin sind Hochsicherheitsbranchen. Doch von der Strenge, mit der in der Luftfahrt auf Sicherheit gepocht wird, ist in der Medizin kaum etwas zu spüren.

15 Prozent Irrtums-Steuer

Die volkswirtschaftlichen Kosten aufgrund der Auswirkungen von Schäden durch vermeidbare medizinische Fehler auf die Biografien der Betroffenen sind nur schwer zu erfassen, doch hat die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) im Jahr 2017 für ihre 38 Mitgliedsländer festgehalten, dass die Kosten für vermeidbare Fehler 15 Prozent der Krankenhausbudgets verschlingen. Hans Härting greift bei den Trainings und Schulungen von Asseku-Risk bewusst auf die Systeme der Luftfahrt zurück. In der Luftfahrt wie in der Medizin gefährden Fehler Menschenleben. Beide sind Hochsicherheitsbranchen, doch von der Strenge, mit der in der Luftfahrt auf Sicherheit gepocht wird, ist in der Medizin kaum etwas zu spüren. Zwischenfälle in der Luftfahrt werden von nationalen und internationalen Institutionen haarklein untersucht. Die Einhaltung etwa der von der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) erarbeiteten Sicherheitsstandards ist keine Frage der Freiwilligkeit. Dagegen ist die Plattform Patientensicherheit, die in Österreich ambitioniert um die Hebung der Sicherheitsstandards kämpft, als Verein organisiert. Ohne Macht.

Strukturen und Standards

„Ich mache gerade meine Requalifizierung am Airbus 320 und sitze tagelang, um meine Procedures zu lernen“, erzählt Härting. „Diese Procedures und standardisierten Checklisten sind entscheidend dafür, dass ein Team in der Luft funktioniert.“ Diese strukturierten und immer gleichen Abläufe sowie die unerbittliche Strenge bei der Umsetzung sei auch Kern der Sicherheitskonzepte, die in der Medizin helfen, vermeidbare Fehler auch wirklich zu vermeiden. Dazu müssten entsprechende Sicherheitskonzepte Teil der Ausbildung aller medizinischen Berufe werden. Härting: „Es ist wirklich höchste Zeit, dass sich etwas ändert.“

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