Mit Daten gegen Omikron

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Autor: Nicole Thurn

Mit der Einrichtung des Austrian Micro Data Center werden wichtige Barrieren zugunsten einer präziseren Forschung beseitigt. Seit Jahreswechsel erleichtern Gesetzesnovellen die Verknüpfung anonymisierter Daten.

Hat die Omikron-Infektion etwas mit der Altersgruppe zu tun? In welchen Stadtteilen vermehrt sich die Mutante am stärksten? Wirkt sich der Bildungsstand eines Menschen auf seinen Impfstatus aus? Mit solchen Fragen kam die Pandemieforschung in Österreich bis dato rasch an ihre Grenzen. Forscher hatten keinen Zugriff auf wertvolle Mikrodaten aus der Bevölkerung und auch keine Möglichkeit, sie zu kombinieren. Mit dem neuen Austrian Micro Data Center (AMDC) soll sich die Datenlage ändern.

Was Wissenschaftler in Österreich seit 20 Jahren in Gang zu setzen versuchten, machte die Pandemie zu Jahreswechsel möglich: Durch die Novelle des Bundesstatistikgesetzes und des Forschungsorganisationsgesetzes erhalten ausgesuchte und akkreditierte Forschungseinrichtungen online Zugriff auf Mikro- und Registerdaten. Dadurch können sie Datensätze zu verschiedensten Merkmalen verknüpfen. Durch den Datenzugriff werden Rückschlüsse auf den Pandemieverlauf möglich, die in anderen Ländern seit Langem gezogen werden.

Ausgesuchtes Publikum

Josef Kytir, Leiter der Direktion Bevölkerung bei der Statistik Austria, wurde mit dem Aufbau des neuen Zentrums beauftragt. Mit einem Vierer-Team, das für die Einrichtung der IT-Infrastruktur verantwortlich ist, soll das Austrian Micro Data Center im Juli dieses Jahres startbereit sein. Ob die Online-Superdatenbank in der Direktion Bevölkerung oder in einer eigenen Unit angesiedelt wird, ist noch nicht klar.

Als Vorbild für das AMDC dient das Micro Data Center in Dänemark, mit dessen Leiter Josef Kytir seit Jahren in engem Austausch steht. Auch das dänische Micro Data Center ist innerhalb der nationalen Statistikbehörde zu Hause. Ähnlich arbeitet auch die Statistikbehörde Eurostat der Europäischen Union – nämlich nach dem Prinzip der statistischen Geheimhaltung. Auch hier erhalten ausschließlich akkreditierte Forschungseinrichtungen Zugang zu den aufbereiteten Mikrodaten.

Nur ausgewählte und akkreditierte Forschungseinrichtungen sollen Zugriff auf alle Erhebungen und Datensätze der Statistik Austria erhalten. Die Zahlenbehörde ist Zentrum und Mittelpunkt für sämtliche Registerdaten der heimischen Administration: In der Simmeringer Zentrale laufen die Daten aus dem Zentralen Melderegister, Gebäude- und Wohnungsregister, dem Unternehmensregister oder dem Bildungsstandsregister, aus Registern der Sozialversicherungsträger und des Arbeitsmarkt­services zusammen. Je nach Forschungsfrage bereiten die Statistiker des Amts die Datensätze für die Forscher auf.

Weitere Gesetze nötig

In der Statistik Austria hat man in den vergangenen Monaten im Auftrag des Wissenschaftsministeriums die soziodemographischen Hintergründe zum Impfstatus bei Lehrern an österreichischen Schulen ausgewertet. Für die Forschung sei vieles denkbar, allerdings bedürfe es bei heiklen Daten weiterer Gesetzesnovellen, sagt Josef Kytir: „Die Impfdaten bekommen wir über die Novelle des Epidemiegesetzes. Ob wir diese Daten anderen Forschungseinrichtungen im Micro Data Center zur Verfügung stellen können oder ob es eine entsprechende Verordnung auf Basis des Forschungsorganisationsgesetzes braucht, ist aktuell noch offen.“

Zugelassen sind per Gesetz Forschungseinrichtungen wie das Institut für Höhere Studien (IHS), das Wirtschaftsförderungsinstitut (WIFO) und alle Universitäten. Auch alle dort nicht genannten Forschungseinrichtungen und Forschungsabteilungen aus Ministerien und Verwaltungen (auch aus dem Ausland) erhalten Zugang zu den Datensätzen – allerdings nicht ohne Prüfung: „Die Antragsteller müssen einen Akkreditierungsprozess durchlaufen – nach Kriterien, die im Gesetz geregelt sind“, so Kytir.

Anonymisierung als Kunstform.

Josef Kytir, Leiter der Direktion Bevölkerung, ist in der Statistik Austria für den Aufbau des neuen Datenzentrums beauftragt. Ab Sommer sollen Forscher eine verbesserte Datenlage vorfinden.

Ein Kriterium sei auch die Datensicherheit und entsprechende Infrastruktur der Institutionen. Die Forschungseinrichtungen sollen auf die freigegebenen Daten laut Novelle fünf Jahre lang Zugriff erhalten. Der Zugriff soll für die Forscher kostenpflichtig sein. Derzeit arbeitet man am Preismodell, das auf der Webseite veröffentlicht werden soll.

Pseudonym oder Pseudo-Datenschutz?

Für Wissenschaftler steht die gesetzeskonforme Aufbereitung der Daten im Vordergrund: Die Statistik Austria erhält die Informationen von Behörden bereits anonymisiert und pseudonymisiert. Auch Impfdaten oder Daten aus der elektronischen Gesundheitsakte ELGA „dürften uns nur pseudonymisiert übermittelt werden. Wir erhalten keine Namen oder SVA-Nummern“, betont Josef Kytir. Allerdings hätte auch die Pseudonymisierung – also die Zuordnung eines Individuums oder eines Unternehmens zu einem Code statt etwa dem Namen – ihre Grenzen: „Auf große österreichische Unternehmen beispielsweise könnte man mit einigen wenigen Informationen wie Branche, Mitarbeiterzahl und Ort rückschließen“, sagt Josef Kytir. Datenschützer kritisieren, dass auch Pseudonymisierungen über Personen mit bestimmten Detailinformationen oder über Verknüpfungen zu knacken sind – die sogenannte Re-Identifikation. Daher hält man sich am Austrian Micro Data Center auch an den Datenminimierungsgrundsatz: „Wir evaluieren die Forschungsanträge und geben nur die Datensätze und Merkmale frei, die zur Beantwortung der Forschungsfragen unbedingt benötigt werden“, so Kytir. Verstößt eine Forschungseinrichtung gegen datenschutzrechtliche Vorgaben, sind strafrechtliche Konsequenzen möglich.
Die Sorgen um Datenzusammenführung und Datenschutz waren in der Vergangenheit eher Vorwand, um „Partikularinteressen“ zu wahren, mutmaßt Komplexitätsforscher Peter Klimek (siehe Interview) – wohl von einzelnen Institutionen und Bundesländern, die sich so eine gewisse Macht über Datenschätze sichern konnten.

Was, wenn das neue Austrian Micro Data Center mit Anfragen allzu sehr gestürmt wird? „Es ist schwer zu sagen, welche personellen Ressourcen und Kapazitäten wir benötigen, da die Nachfrage nicht einzuschätzen ist“, sagt Kytir. Für das Jahr 2022 wird es 505.000 Euro vom Bund für den technischen Aufbau der Online-Plattform geben. Zum Vergleich: Das dänische Mikrodatenzentrum erhält mit 1,5 Millionen Euro jährlich das Dreifache an Budget. Aber auch das hat mal klein angefangen.    //

Digital Health: Pioniere und Pläne

Bis 2025 will die Europäische Kommission einen europäischen und DSGVO-konformen Gesundheitsdatenraum schaffen: So sollen Gesundheitsdaten wie elektronische Patientenakten, Genomikdaten und Patientenregisterdaten für die Gesundheitsversorgung, aber auch die Forschung, zentral zugänglich gemacht werden und ihr Austausch zwischen den Ländern ermöglicht werden. Der europäische Gesetzesentwurf zum European Health Data Space steht allerdings noch aus.
Vorbild ist Finnland: Dort hat man mit der Behörde Findata einen nationalen Gesundheitsdatenraum geschaffen. Findata liefert Forschern Zugang zu sozialen und Gesundheitsdaten, sorgt für die Anonymisierung und Pseudonymisierung der Daten. In Estland bündelt das Gesundheitsinformationsnetzwerk (ENHIS) alle Gesundheitsdaten von Geburt bis zum Tod und digitale Gesundheitsdienste, Patienten haben als Eigentümer volle Kontrolle über ihre Daten. Dänemark kann ebenso auf elektronische Patientenverwaltung und ein Micro Data Center verweisen. Israel erhebt kontinuierlich Gesundheitsdaten in der Bevölkerung und liefert etwa Immunisierungsdaten zu den Impfungen in Echtzeit – auch an Pharmakonzerne im Austausch gegen bevorzugte Versorgung.


„Sorge um den Datenschutz war oft nur ein Vorwand“

Peter Klimek, Komplexitätsforscher am Complexity Science Hub Vienna und „Wissenschaftler des Jahres 2021“, hofft auf die Mikrodaten am AMDC. Denn bislang können Österreichs Forscher nicht prognostizieren, wie viele Spitalsaufenthalte Omikron bringen wird.

Wie sehen Sie den bisherigen Umgang mit Medizindaten in Österreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern?
Peter Klimek: Wir haben es in Österreich die letzten Jahre und Jahrzehnte nicht geschafft, Strukturen aufzubauen, um mit sensiblen Daten sinnvoll in der Forschung arbeiten zu können. Andere Länder arbeiten in einem strengeren rechtlichen Rahmen und es ist dennoch mehr möglich. In den skandinavischen Ländern werden Daten in Registern qualitätsgesichert aufbereitet, Forscher greifen darauf zu und können Datensätze je nach Forschungsfrage verknüpfen. Hier hatten wir Aufholbedarf und ich sehe im Austrian Micro Data Center einen ersten Schritt, das zu tun, was andere Länder seit Jahrzehnten machen. Die ersten Patientenregister wurden etwa in Dänemark in den 1950ern angelegt.

Sie forschen mithilfe von Big Data zur Pandemieentwicklung und aktuell zu Omikron. Was versprechen Sie sich hier vom Austrian Micro Data Center?
Für die Pandemieentwicklung werden Daten erhoben, aber nicht verknüpft. So haben wir bei Omikron die Frage, wie viele Spitalsaufenthalte zu erwarten sind. Um das zu prognostizieren, müssten wir Daten zum Infektions- und Ansteckungsgeschehen mit den Spitalsdaten verknüpfen. Ob Sie es glauben oder nicht, diese Verknüpfung funktioniert in Österreich weder tagesaktuell noch bundesweit. Wir haben auch mit einem fragmentierten Datensystem im österreichischen Gesundheitssystem zu tun: Unterschiedliche Daten liegen bei verschiedenen Trägern der Länder und des Bundes. Einer zentralen Verknüpfung standen bisher Partikularinteressen im Wege – die politische Sorge um den Datenschutz war auch oft nur ein Vorwand. Ich erwarte mir vom neuen Center, dass die Verknüpfung von sozioökonomischen Merkmalen von unterschiedlichen Datensätzen schneller möglich ist, damit wir Risikogruppen schneller identifizieren können.

Welches Potenzial sehen Sie in Zukunft noch im AMDC in Sachen Medizinforschung?
Ein wichtiges Thema wird künftig in der Pharmaforschung sein, auf Basis von Registerdaten besser monitoren zu können, wie es mit der Medikamentensicherheit und -wirksamkeit in der Bevölkerung aussieht. Ich hoffe, dass wir hier das Potenzial solcher Daten zu heben beginnen – auch um den Forschungs- und Wirtschaftsstandort zu fördern. Den großen Nutzen sehe ich aber darin, dass die Datenverarbeitung unter Wahrung des Datenschutzes mit einer sicheren Infrastruktur möglich sein wird.

Komplexer Forscher.

Der Physiker Peter Klimek will endlich Daten zum Infektionsgeschehen mit Spitalsdaten verknüpfen. Das ist bisher nicht möglich.

Wie ordnen Sie Bedenken von einigen Datenschützern ein?
Personenbezogene Gesundheitsdaten sind natürlich besonders sensibel und schützenswert. Man muss als Forscher immer glaubhaft machen, dass der Forschungsnutzen das Risiko überwiegt. Bestimmte Daten werden auch immer wieder der Ethikkommission vorgelegt. Es herrscht auch das Prinzip der Datenminimierung: Man bekommt nur die Daten, die man auch für den Forschungszweck braucht. Wir bilden auch unsere Studierenden im sicheren Umgang mit Daten aus. Es bleibt immer ein Restrisiko, das man aber mit einer sicheren technischen Infrastruktur und rechtlichen Regelungen regeln kann. Genau das soll es mit dem Austrian Micro Data Center geben.


Links:
Europäischer Gesundheitsdatenraum
Statistik Austria: Strategie 2025
Finnish Social and Health Data Permit Authority Findata
Austrian Micro Data Center – datengetriebene Forschung auf internationalem Niveau

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