Sabine Wolf: Heute ducken sich alle weg

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Autor: Josef Ruhaltinger

Sabine Wolf ist seit 2011 Pflegedirektorin des AKH Wien. Im Interview erklärt sie, warum die Pflege attraktivere Karrieremodelle benötigt und warum es wichtig ist, eine höhere Stabilität in den Berufsalltag zu bringen.

Frau Wolf, Sie sind Pflegedirektorin der größten Klinik Österreichs und für 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Pflegedienstes verantwortlich. Haben Sie zu wenig Personal?
Sabine Wolf: Ja. Leider. Das kann ich nicht anders formulieren.

Wie macht sich der Personalmangel im klinischen Alltag bemerkbar?
Wir sind eine Universitätsklinik und waren gewohnt, immer eine gute Bewerbungslage zu haben. Das verändert sich zusehends. Früher lag unsere natürliche Fluktuation in der Pflege bei rund 70 Freistellen, die es ständig zu besetzen gab. Jetzt habe ich 170 bis 200 Stellen, die offen sind. Das ist nicht mehr kompensierbar. Es müsste jeder statt einer 40-Stunden-Woche wieder eine 50-Stunden-Woche arbeiten, um die fehlenden Dienste einzuarbeiten.

Ab wann ist die Pflege in Schieflage gekommen?
Die Schere hat sich mit der Novelle des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes 2016 geöffnet. Damals wurden zur Professionalisierung des gehobenen Dienstes die Berufe der Pflegeassistenz und der Pflegefachassistenz geschaffen. Das diplomierte und später akademisierte Personal sollte sich auf die komplizierteren Aufgaben konzentrieren können, die Assistenzberufe übernehmen die Basispflegeversorgung. Das ist so nicht einfach umzusetzen. Die Pflegefachassistenz oder Pflegeassistenz kann nicht die diplomierte Pflegekraft ersetzen. Derzeit fehlt es jedoch vor allem am gehobenen Dienst.

Sabine Wolf ist seit 2011 Pflegedirektorin des AKH Wien. Dort begann auch ihre Berufslaufbahn: Nach ihrer Ausbildung startete sie als Gesundheits- und Krankenpflegerin in Österreichs größtem Spital. Nach Tätigkeit an einer Intensivstation begann sie ihre Führungslaufbahn als Stationsleitung 1991. 2003 wechselte Sabine Wolf in die Direktion der Burgenländischen Krankenanstalten-Gesellschaft KRAGES. 2004 wurde sie Pflegedirektorin am Allgemeinen öffentlichen Krankenhaus Oberpullendorf. 2008 kehrte sie als Leiterin der Abteilung Personalmanagement und Strategieentwicklung ans AKH Wien zurück.

Haben wir genug Ausbildungsplätze?
Es ist zu Verschiebungen gekommen. In manchen Bundesländern – Wien gehört da nicht dazu – sind die Plätze für die Diplomausbildung zugunsten der Pflegefachassistenten gekürzt worden. Früher konnte ich als Uni-Klinik immer mit einem Personalangebot aus den Bundesländern oder angrenzenden Ländern rechnen. Das ist deutlich eingeschränkt. Mit dem veränderten Gehaltschema ist Wien nicht mehr so lukrativ. Und COVID-19 hat die Zugänge aus anderen Ländern beeinflusst.

Hat die Pandemie Spuren in der Belegschaft hinterlassen?
Bei uns hat die Zahl der Kündigungen und Abgänge nicht zugenommen. Aber die Bereitschaft für Mehrarbeit ist nicht mehr da. Überstunden und Ersatzdienste waren früher ein kleineres Pro­blem, weil es eher die Ausnahme war. Heute, verständlich, ducken sich alle weg, weil es zur Regel geworden ist. Die Belastung ist einfach zu groß geworden. Meine Leute sind ausgebrannt. Kolleginnen und Kollegen gehen ein Jahr früher in Pension als geplant. Aber das ist nicht das einzige Problem. Aus meiner Sicht gibt es die neue Herausforderung an die Führungskräfte, mit dem veränderten Zugang der jungen Generation zur Arbeitswelt umzugehen.

Was meinen Sie damit?
Führungskräfte in der Pflege sind zu zwei Drittel 50 Jahre und älter. Und daneben gibt es rund ein Drittel an jüngeren Pflegemanagern, deren Arbeitsverständnis sich grundsätzlich von jenem ihrer älteren Kollegen unterscheidet. Die Generation Doppel Z ist gut ausgebildet, hat in der Regel Maturaabschluss, jetzt vielfach auch den Bachelor. Die jungen Stations- und Abteilungsleiterinnen haben viel in ihre Ausbildung investiert. Im Gegenzug erwarten sie Perspektiven und Karrierechancen. Und sie achten wesentlich mehr auf ihre Work Life Balance. Die Generation ist nicht mehr bereit, regelmäßig für andere Dienste einzuspringen. Und sie arbeiten viel mehr in Teilzeit, weil sie nebenher noch andere Ziele im Auge haben. Sie suchen einen 30-Stunden-Vertrag, um nebenher noch z.B. in einer Beratungsstelle aktiv zu werden oder ein Masterstudium durchzuziehen. Dieser Drang zur Fachkarriere ist neu.

Bietet die Pflege zu wenig Karrierechancen?
Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen ja. Der Berufsalltag einer Führungskraft an der Station besteht aus der Organisation einer Mangelwirtschaft. Primär muss getrachtet werden, dass trotz Krankenständen, Ausfällen und Urlauben das System funktioniert. Wenn man weiß, dass weitere zwei Kolleginnen in der Station sich verändern und keine neuen Bewerbungen am Tisch liegen, dann überlegt man sich, wie man die Wünsche einer Mitarbeiterin nach einem größeren Ausbildungsprogramm befürworten kann. Mit einer weiteren Absenz ist eine Station heute oft nicht mehr arbeitsfähig. Natürlich ist mir klar: Wenn ein Sabbatical abgelehnt wird, läuft man Gefahr, die diplomierte Pflegekraft zur Gänze zu verlieren.

Was ist der Ausweg?
Ich kenne keinen kurzfristigen. Die Pflege benötigt attraktivere Karrieremodelle. Das macht unseren Beruf hochwertiger und deutlich attraktiver. Unsere Mitarbeiter müssen die Perspektive einer spannenden und anerkannten Spezialisierung haben. Gerade an der Uni-Klinik findet Innovation statt. Aber dafür gibt es in Österreich noch keinen Raum und keine modernen Berufsbilder.

Warum nicht?
Das AKH verfügt über einen hohen Anteil an Intensivmedizin. Seit Covid-19 auch einen Schwerpunkt in der Pulmologie. Spitzenmedizin verlangt nach Spitzenpflege. Wir benötigen Experten und Expertinnen, die auf die Entwöhnung von Patienten von den Beatmungsgeräten spezialisiert sind. In Österreich gibt es aber eine derartige Ausbildung aktuell nicht. Wir haben keine Arbeitsbedingungen für eine höhere Qualifizierung und Professionalisierung. Das wären Schritte, die der so stark geforderten Attraktivierung des Berufes mehr bringen würden als jedes noch so laute Klatschen am Balkon.

Das sind Langfristkonzepte. Was kann kurzfristig verbessert werden?
Wir müssen eine höhere Stabilität in den Berufsalltag bringen. Die Leute wollen sich auf Dienstpläne verlassen können. Sie wollen in den Jobs und auf den Stationen arbeiten, für die sie ausgebildet wurden. Sie suchen Planbarkeit. Geld ist wichtig, die faire Abgeltung von Sonderleistungen muss geregelt sein. Aber das ist nicht der springende Punkt. Die Arbeitszufriedenheit muss stimmen. Wir haben auch ein anderes Leben.

Lesen Sie hier die aktuelle Titelstory zum Thema Pflegenotstand.

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