Vom Unmut zum Zorn

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Autor: Josef Ruhaltinger

Streiks, Demonstrationen, Kündigungen: Nach Jahren des Jammerns wandert der Schmerzpegel des österreichischen Pflegepersonals in den Bereich des Unerträglichen. Das Ziel von 80.000 zusätzlichen Pflegekräften ist mittelfristig illusorisch. Daran ändern die jüngsten Reformversuche nichts. Es sind zu wenige. Und sie sind zu spät.

Bettensperren sind in der Gesundheitspolitik das, was „Mayday“ in der Luftfahrt bedeutet: Sie sind ein Hilferuf. Und sie signalisieren: Man steht kurz vor dem Absturz. Als sich im November und Dezember die Grippewelle mit dem gewohnt hohen Stand an Covid-Infektionen vereinte, knarzte es vernehmlich im Gebälk des „besten Gesundheitssystems der Welt“ – wieder einmal. Im Wiener Gesundheitsverbund (Wigev) waren mit Stichtag 22. November 820 Spitalsbetten gesperrt, schrieb die Wiener Tageszeitung „Der Standard“. Dies waren immerhin 16 Prozent der Gesamtbettenkapazität (ohne AKH). In den Vorarlberger Landeskrankenhäusern blieb im November und Dezember jedes zehnte Bett leer. Und in Tirol „fehlt das Personal für 80 bis 110 Betten – je nachdem, wie sich die eigenen Krankenstände entwickeln“, stöhnt der Pflegedirektor des Uni-Klinikums Innsbruck, Franz Mannsberger.

Seine Kolleginnen und Kollegen in den anderen Bundesländern kämpfen mit derselben Situation: In den Kliniken werden Betten gesperrt. Und in den Pflegeheimen wird ein Aufnahmestopp verhängt – mit dem Ergebnis, dass Patienten in der Klinik bleiben müssen, obwohl sie nicht mehr spitalsbedürftig sind. In Innsbruck sind durch fehlende Nachversorgung 40 – 50 Akut­betten blockiert.

Alle Gesundheitseinrichtungen nennen denselben Grund: Personalmangel. Grippe und Covid haben die seit Langem überdehnten Dienstpläne der Pflege- und Ärzteschaft – in dieser Reihenfolge – zum Zerreißen gebracht. Selbst das AKH – bis vor Kurzem mit Personalanfragen verwöhnt – muss der Personalnot Rechnung tragen: Die Urologieabteilung muss immer wieder ihre Kapazitäten von drei auf einen OP-Tisch herunterfahren, weil es zu wenige OP-Pflegekräfte gibt. Für die Pflegedirektorin des AKH Wien, Sabine Wolf, ist dies das Ergebnis einer Entwicklung, „die sich schon lange abzeichnet“. Nach den Schockwellen der Pandemie finde sich „der Pflegedienst in einer Situation, in der Überstunden und Springerdienste zum Dauerzustand geworden sind“. Und ihr werde von ihren Mitarbeitern bedeutet: „Es geht nicht mehr.“ (Lesen Sie hier das Interview mit Sabine Wolf.)

Am Anschlag. Sabine Wolf ist die Pflegedirektorin des AKH Wien. Einst wurde Österreichs bekanntestes Krankenhaus mit Bewerbungen überhäuft. Heute kämpft sie um jeden Mitarbeiter. „Die Überlastung wurde zum Dauerzustand. Viele sagen: Es geht nicht mehr.“

Überdruck im Kessel

Bettensperren sind im Klinikmanagement so geläufig wie die Patientenlagerung am Gang. Aber dabei – und dies unterstreichen sämtliche Pflegemanager, -professoren und Krankenpfleger, mit denen die ÖKZ gesprochen hat – habe es sich immer um beschränkt auftretende Phänomene gehandelt. Dies sei heute anders. Nach der Covid-Krise beschreiben derartige Maßnahmen den Dauerzustand in den heimischen Spitälern.

Die „Mangelwirtschaft“ (O-Ton Sabine Wolf) ist beileibe keine Überraschung: Die Welle des Personalbedarfs, die Österreichs Gesundheitseinrichtungen überrollt, wird seit Jahrzehnten vorhergesagt. Jeder halbwegs befähigte Statistiker konnte aus den demografischen Daten ablesen, dass zwischen 2020 und 2030 die Babyboomer der geburtenstarken Jahrgänge (1960 bis 1968) in Pension gehen werden. Dies betrifft 30 Prozent der Ärzteschaft und sogar 40 Prozent des Pflegedienstes, der stärker weiblich strukturiert ist. Je nach Studie wird der zusätzliche Personalbedarf in der Pflege bis 2030 mit 60.000 bis 80.000 zusätzlichen Köpfen beziffert.

In den Kliniken sorgt der Arbeitsstress mittlerweile für atmosphärische Veränderungen. Mit dem kollektiven Burn out im Gefolge der Pandemie „verpufft die Bereitschaft, 120 Prozent zu leisten“, stöhnt eine Krankenschwester des gehobenen Dienstes. Pflegerinnen und Pfleger klagen, dass der frühere Zusammenhalt auf den Stationen unter dem Druck von außen zu bröckeln beginne. Die Neigung, Dienste zu tauschen – einst ein Akt der Loyalität, der auf Gegenseitigkeit beruhte –, tendiere gegen Null. Die Schwestern und Pfleger nehmen in ihrer Freizeit keine Anrufe aus dem Spital oder von unterdrückten Nummern an. Zu groß ist die Angst, für den nächsten Notdienst einbestellt zu werden. „Wir stehen am Ende einer langen Entwicklung, in der nur zaghafte Versuche gestartet wurden, den Pflegedienst attraktiv zu machen“, unterstreicht Markus Golla seinen Befund. Modern ausgebildetes Personal verlange nach modern organisierten Strukturen. Als FH-Professor und Studiengangsleiter für Gesundheits- und Krankenpflege der IMC Krems hat Golla täglichen Umgang mit angehenden Pflegemitarbeitern: „Die Studierenden sind motiviert bis in die Haarspitzen. Aber sie wollen keinen alten Trott.“ Karriere und Weiterbildungschancen stünden für alle Absolventen ganz oben bei den Erwartungen. Pflegedirektorin Sabine Wolf – wie Golla einst selbst im gehobenen Pflegedienst aktiv – kommt zur gleichen Sichtweise: Es brauche ein bunteres und interessanteres Berufsbild. Aber ihre Einschätzung für den Status Quo ist wenig ermutigend: „Es gibt in Österreich keine Arbeitsbedingungen für eine höhere Qualifizierung und Professionalisierung.“

Herbst und Winter haben gezeigt, dass der Druck im Kessel steigt. Die Demonstrationen der Gesundheitsberufe im September, die wachsende Zahl der gesperrten Betten und OP-Tische, die steigende Frequenz der Ärztekammer-Aussendungen und –als stärkstes Indiz – die hohen Krankenstände unter den Pflegediensten sind Anzeichen für eine Gemengelage, in der Unmut in Wut umschlägt. Die 400.000 Beschäftigten im heimischen Gesundheits- und Langzeitpflegesystem zeigen sich immer weniger bereit, sich unter den immer schwieriger werdenden Umständen um die Kranken und Hilfsbedürftigen der Gesellschaft zu kümmern. Sie sind damit nicht allein: Der Pflegemangel – global fehlen laut jüngstem Bericht 2022 des International Council of Nurses 13 Millionen Pflegekräfte – treibt die Gesundheitsdienstleister auf die Straße: Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, nennt in einem Aufsatz den Engpass beim Gesundheits- und Pflegepersonal eine „tickende Zeitbombe, verschärft durch unzulängliche Daten, …, schlechtes Management, einen Mangel an strategischer Planung sowie unzureichende Investitionen in die Personalentwicklung“. Fehlendes Pflegepersonal ist für jedes Gesundheitssystem toxisch. Ein Pflegemanager nannte es die „Unabkömmlichkeit der sorgenden Hände“. Seine Begründung ist eindeutig: „Eine Klinik, die 14 Tage ohne Ärzte auskommen muss, wird besser durch die zwei Wochen kommen als ein Spital, das zwar über Mediziner, aber über keinen Pflegedienst verfügt.“

Schlüsselfaktor Ausbildung

Die Akademisierung der Ausbildung sorgt in der Pflegecommunity für geteilte Lager. Mit der Einführung der Bologna-Bestimmungen 2016 wurde eine Übergangsregelung geschaffen, die – je nach Bundesland – im Dezember 2023 oder 2024 auslaufen soll. Die traditionelle Diplomausbildung ohne Matura wird sukzessive zurückgefahren und durch das maturapflichtige Bachelor-Studium ersetzt. Die Praktiker in der Pflege-Community haben damit ihre Probleme: Durch die Umstellung auf die akademisierte Pflegeausbildung und die rasche Reduktion der Diplomfachausbildung sei es zu einem Bruch unter den Absolventenzahlen gekommen. Franz Mannsberger, Pflegedirektor der Uniklinik Innsbruck, beklagt einen Absolventenrückgang „um ein Drittel“. Er führt dies auf die fehlenden Diplomfachkräfte zurück: „Die Anforderung der Matura ist ein Hindernis.“ Die Möglichkeiten der Studienberechtigungsprüfungen würden die Hemmschwellen der Zielgruppe nicht beiseite räumen. Und die Ausbildung zur Pflegefachassistenz sei kein Ersatz für die Diplomkarriere: „Im Grunde ist der PFA ein Hilfsjob.“ Und sei daher von überschaubarer Anziehungskraft.

Anna Maria Dieplinger ist Abteilungsleiterin für das Kompe­tenzmanagement für Gesundheits- und Sozialberufe der OÖ Gesundheitsholding. Sie entwickelt die Ausbildungsstrategie für die oberösterreichischen Landeskliniken und lehrt an FHs und Universitäten. Sie hält die Kritik der Pflegedirektoren für wenig stichhaltig: „Wir haben einen eigenen Bachelorlehrgang, in dem das erste Semester sich nur mit der Studienberechtigung auseinandersetzt.“ Für sie gibt es kein „Problem mit einer fehlenden Matura“. Sie sieht den Knackpunkt an der ungenügenden Karriereperspektive für Absolventen. „Da sind uns die skandinavischen und angloamerikanischen Ausbildungssysteme weit voraus.“ Spezialqualifikationen wie „Enhanced Recovery after Surgery“- (ERAS-) oder „Fasttrack“ sind Konzepte, die den Heilungsverlauf der Patienten optimieren und die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus verkürzen. Auch wird der Heilungsverlauf durch vorbeugende Pflegeschritte deutlich beschleunigt. Patient wie Gesundheitssystem würden dabei profitieren. Eine derartige Ausbildung ist komplex und muss entsprechend honoriert werden. Aber das Problem stellt sich nicht in Österreich: „Es gibt die Funktionen einfach nicht“, zuckt Dieplinger im Videocall verärgert mit den Schultern. Damit sei eine der vielen Gelegenheiten verschwendet, den Pflegeberuf spannend zu machen.

Eigentor. Für Franz Mannsberger war die Degradierung der traditionellen Diplompflegeausbildung ein Fehler. Die Matura erweise sich für zu viele Interessenten als Hürde.

Gut gemeint

Es war im Mai des Vorjahres, just am 202. Geburtstag von Florence Nightingale, als Gesundheitsminister Johannes Rauch mit einer Pflegereform vor die Presse trat. 20 Maßnahmen sollten helfen, den Pflegedienst attraktiver zu machen, und abertausende Pflegekräfte mobilisieren, um das Gesundheits- und Pflegesystem bis 2030 abzusichern. Stipendien, Gehaltserhöhungen, Rechtsanspruch auf Weiterbildung, Erleichterungen bei der Rot-Weiß-Rot-Karte – es mangelt in dem Maßnahmenbündel nicht an guten Vorsätzen. Zumal das Paket mit einer „Pflegemilliarde“ garniert wurde. Ein Personalvertreter kommentierte damals die Reform in der ÖKZ mit „Erleichterung“ und der Hoffnung, dass die Regierung „die Dringlichkeit endlich verstanden hätte“. Auch die Pflegewissenschaftler – sonst stets kritisch bei den Bemühungen der heimischen Gesundheitspolitik – urteilten mit leichtem Optimismus, dass die Schritte das System aus seiner Erstarrung lösen könnten. Zehn Monate später ist von der milden Aufbruchstimmung nichts übrig. Enis Smajic, OP-Fachpfleger im AKH mit (bald) dreifachem Masterabschluss ist ein typischer Vertreter der jungen, akademisierten Pflegergeneration, die es in ihrem Beruf zu etwas bringen will: Die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter habe sich nicht erhöht, Überstunden seien ein unverändertes Muss. Und zu guter Letzt gäbe „es kaum Bewerbungen“, die auf eine Trendwende hoffen ließen. „Das System ist an die Wand gefahren“, urteilt Smajic brachial. Die Pflegereform geht damit den Weg vieler Aktionen der gegenwärtigen Regierung: Sie verpufft – trotz passabler Ansätze – ohne jede Außenwirkung.

Vieles an Unmut unter den Pflegekräften Österreichs ist freilich das Ergebnis schlechten politischen Handwerks. So sorgt die Einführung des Pflegebonus als „15. Gehalt“ für extreme Frustration. Der Gehaltszuschuss sollte einer der großen Eckpfeiler der Pflegereform werden: 520 Millionen Euro sind dafür von der Pflegemilliarde gewidmet. Das Ziel der als „15. Gehalt“ angekündigten Maßnahme war, durch die Gehaltsaufbesserung von 2000 Euro brutto pro Jahr den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen. Das Zusatzgehalt soll fixer Gehaltsbestandteil werden: 2023 wird der Bonus aliquot 14-mal mit den monatlichen Gehaltsauszahlungen überwiesen werden. Die Crux dabei: Die Prämie wurde auf die Berufsgruppen des gehobenen Pflegedienstes, die Pflegeassistenzberufe, Diplom- und Fach-Sozialbetreuung sowie Heimhilfe beschränkt. Nicht in der Verordnung angeführte Berufe blieben unberücksichtigt. Enis Smajic beschreibt das Ergebnis der schludrigen Vorgangsweise: „Ein OP-Assistent bekommt keinen Bonus und die Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegeperson schon, obwohl beide drei Jahre während der Pandemie Seite an Seite im selben Raum zusammengearbeitet haben.“ Die Folge seien „Unmut, Neid, Wut und Frustration“.„Gut gemeint“ ist in der Politik keine Kategorie.

Die Chancen, bis 2030 60.000 bis 80.000 frische Pflegekräfte zu rekrutieren, sind unter den gegebenen Voraussetzungen illusorisch. Geld allein werde nicht die Wende bringen, ist Pflege-Professor Markus Golla überzeugt: „Wir haben pro Kopf die meisten Betten, die zweitmeisten Ärzte, aber im Vergleich dazu viel, viel weniger Pflegepersonal.“ Der Vorstoß von Gesundheitsminister und Landespolitikern, das System über den Weg des anstehenden Finanzausgleichs aufzubrechen, klinge zumindest vielversprechend. Er klingt dennoch wenig hoffnungsfroh, wenn er meint: „Es gibt leider keine Königslösung für unser Personalproblem.“ Und zum Ende eine besondere Form eines Post Scriptums: Schätzungen der WHO gehen davon aus, dass allein in Europa rund 50.000 Gesundheits- und Pflegefachkräfte aufgrund von COVID-19 ihr Leben verloren haben. 

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Das gesamte Interview mit Sabine Wolf lesen Sie hier.

Links und Quellen:

Pressebriefing WHO, Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa: www.who.int

International Council of Nurses 2022, Markus Golla: www.pflege-professionell.at

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