Prothese mit Gefühl

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Autor: Michael Krassnitzer

Das Start-up Saphenus will Prothesenträgern das Leben erleichtern. Das Badener Unternehmen entwickelt ein Nachrüstsystem für Prothesen, das den gefürchteten Phantomschmerz mildert und dem Gang der Patienten Sicherheit verleiht.

Die Prothetik – jene Branche, die sich mit der Entwicklung und Herstellung von Prothesen auseinandersetzt – kennt neben vielen kleinen zwei generelle Herausforderungen: Zum einen leiden etwa 50 Prozent der Prothesenträger an Phantomschmerzen. Ihr Gehirn versucht, Informationen von den fehlenden Gliedmaßen abzurufen. Oftmals können nur schwere Schmerzmittel (z.B. Opiate) Linderung versprechen – und dies meist nur vorübergehend. Zum anderen kämpfen viele Prothesenträger mit einer ständigen Unsicherheit beim Gehen und beim Stehen: Weil das Gehirn keine Informationen vom Fuß bekommt, scheuen sie sich, die Prothese voll zu belasten. Das kann zu Haltungsstörungen und in weiterer Folge zu Schmerzen führen. Ein österreichisches Unternehmen hat vor drei Jahren ein Medizinprodukt auf den Markt gebracht, das beiden Problemen gleichermaßen auf den Leib rückt: eine smarte Socke mit einem mehrteiligen Sensorsystem, die jede Prothese fühlend macht.

Nachrüstsatz für alle Prothesen

„Wir haben einen Weg gefunden, dass Prothesenträger mehr Gangqualität erhalten und weniger unter Phantomschmerzen leiden“, bekräftigt Rainer Schultheis, CEO des Unternehmens Saphenus, das die „fühlende Beinprothese“ marktreif gemacht hat und nun vertreibt. Das von Saphenus entwickelte Suralis Conversion Kit ist ein mehrteiliger Bausatz, mit dem auf Basis eines Feedbacksystems jede Prothese – unabhängig vom Hersteller – nachgerüstet werden kann. Die Basis stellt eine Socke dar, in die Sensoren integriert sind, die sämtliche Abrollbewegungen beim Gehen registrieren. Diese Informationen werden per Funk an den Körper übertragen. Im einfachsten Fall befindet sich oberhalb der Prothese eine Manschette mit vibrotaktilen Motoren, die einen bestimmten Oberschenkelnerv ansteuern, nämlich den nervus cutaneus, den einzigen sensiblen Nerv in dieser Körperregion. Diese nicht-invasive Informationsübertragung wird vom Gehirn als Information des verlorengegangenen Fußes wahrgenommen.

Stimulus für Rezeptoren: Ein Start-up aus Baden entwickelte einen Baukasten-Satz, in dessen Mittelpunkt eine smarte Socke mit Sensoren steht. Mithilfe der Saphenus-Technologie werden Phantomschmerzen und Gleichgewichtsprobleme gelindert – oft sogar behoben.

Aufgrund dieser sensorischen Informationen geht der Phantomschmerz zurück oder kann in vielen Fällen vollständig eliminiert werden. Dass durch regelmäßige Übertragung sensorischer Reize neuropathische Schmerzen gelindert werden können, ist auch die Grundlage der sensorischen Vibrationstherapie. Zwei Forscher, die dafür die medizinischen Grundlagen lieferten, wurden im Vorjahr mit dem Medizinnobelpreis ausgezeichnet – David Julius und Ardem Patapoutian. „Mit unserem System wird erstmals Phantomschmerz mithilfe der sensorischen Vibrationstherapie bekämpft“, erklärt Schultheis.

Ein weiterer Effekt der sensorischen Informationen: Durch das authentische Fühlen erkennt das Gehirn unterschiedliche Beschaffenheit des Bodens. Das verbessert die Gangstabilität und macht Gehen sicherer. „Die Betroffenen müssen nicht so oft auf den Boden schauen und gelangen zu einem aufrechteren Gang“, betont Schultheis. „Sie fühlen sich beim Gehen und Stehen sicherer und tun sich deutlich leichter im Alltag.“ Insbesondere in für Prothesenträger kritischen Situationen wie Stiegensteigen oder Gehen im Dunklen.

Versorgung bleibt unverändert

Suralis wird auf die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Patienten zugeschnitten. Ziel ist es, das Add-on ohne Veränderung der prothetischen Versorgung anzupassen. Dazu bietet Saphenus die Möglichkeit, das System 30 Tage lang zu testen, inklusive regelmäßige Gangtests, wie man sie aus der Rehabilitation kennt, und ein Schmerzmonitoring. Wenn der Phantomschmerz nach 20 Tagen noch nicht abgenommen hat, bietet das Unternehmen – in Kooperation unter anderem mit den Unfallspitälern der AUVA – einen selektiven Nerventransfer an, bei dem der laterale Fußnerv an das Hautareal des Stumpfes umgeleitet wird (Targeted Sensory Reinnervation, TSR). Dies ist bei ungefähr jedem zehnten Patienten notwendig. Die ursprüngliche Annahme, dass eine chirurgische Anpassung des Amputationsstumpfes bei den meisten Patienten notwendig sein würde, hat sich zum Glück als falsch erwiesen. „Wir haben gesehen, dass man konservativ, also ohne Operation, meist den gleichen Erfolg erzielen kann“, sagt Schultheis.

Vom Wandern zur Prothetik

Der Geschäftsführer ist ein kompletter Quereinsteiger. Er arbeitete als Journalist beim ORF, wo er für Ö1 regelmäßig eine Radiosendung zum Thema Wandern gestaltete. Dabei lernte er den Prothesenforscher Hubert Egger kennen, der die gedankengesteuerte Armprothese entwickelt hatte. Bei seiner Entwicklung befehligt das Gehirn die Prothese über feinste Muskelbewegungen. Der Wissenschafter erzählte Schultheis, dass er gerade an einer fühlenden Beinprothese arbeite, bei der sensorische Impulse vom Amputationsstumpf ans Gehirn übermittelt werden. Schultheis war fasziniert und bot Egger an, ihn mit Pressearbeit zu unterstützen, wenn er mit seiner Entwicklung an die Öffentlichkeit gehen würde. Als Egger schließlich 2015 seine fühlende Beinprothese präsentierte, war das internationale mediale Echo enorm. Weil sich Egger jedoch in erster Linie als Erfinder und Hochschullehrer sieht und nicht als Unternehmer, ergriff Schultheis die Gelegenheit beim Schopf, gründete Saphenus und brachte das System schließlich auf den Markt – einen Markt, der ihm „ziemlich merkwürdig“ vorkam: „Viele Medizinprodukte­unternehmen scheuen sich, Innovationen auf den Markt zu bringen, weil sie Angst haben, dass diese nicht erstattet werden“, erklärt Schultheis. Innovationen im Bereich der Medizinprodukte gelangen nie zum Patienten, weil die regulatorischen Hürden zu hoch sind.

Einer der Co-Founder des Wiener Start-ups ist Schisprung-Olympiasieger, Ex-ÖSV-Trainer und TV-Kommentator Toni Innauer, der das Unternehmen in der externen Wahrnehmung unterstützt hat. Schultheis: „Ihn hat vor allem begeistert, eine Idee nachhaltig umzusetzen.“ Damit spielt der Geschäftsführer auf einen Aspekt an, der ihm sehr wichtig ist: nachhaltige Betriebsführung. Viele Gründer verkaufen ihr Unternehmen nach einer erfolgreichen Gründungsphase an etablierte Mitbewerber. Schultheis folgt der Idee der Gemeinwohlökonomie: Die von dem österreichischen Ökonomen Christian Felber begründete Bewegung stellt Werte wie Kooperation, Gemeinwesen und soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. „Wir waren das erste Medizintechnikunternehmen, das eine Gemeinwohlbilanz aufgestellt hat“, sagt Schultheis stolz. „Und wir werden das erste Unternehmen sein, das ein klimaneutrales Medizinprodukt auf den Markt bringt.“ Ohne den Ansatz der Nachhaltigkeit, vermutet Schultheis, hätte sein Unternehmen wohl nicht die renommierte Förderung EIC Accelerator der Europäischen Kommission erhalten.

Aufbau eines Kompetenzzentrums

Der Unternehmer hat noch einiges vor: „Es gibt noch viele Bereiche, in denen sensorisches Feedback zur Anwendung kommen kann“, bekräftigt er. Als Nächstes könnte das Feedback-System bei Patienten zum Einsatz kommen, die aufgrund einer Polyneuropathie die sensorische Wahrnehmung am Fuß verloren haben. Dabei würde das System als sensorischer Bypass genutzt werden: Die Signale von der Sensor-Socke werden an den nervus cutaneus im Oberschenkel übertragen, sodass der Patient wieder sensorisches Feedback von seinem Fuß erhält. Diese Therapie der Polyneuropathie soll mit einer weiteren regenerativen Therapieform verbunden werden: der extrakorporalen Stoßwelltherapie. Mit dieser Behandlung soll zunächst das Wachstum der Nerven gefördert werden, bevor diese dann mit sensorischen Informationen beliefert werden. Spätestens im Jahr 2024 will Saphenus ein Kompetenzzentrum aufbauen, in dem Stoßwellentherapie und sensorische Vibrationstherapie miteinander kombiniert werden. 

Vom Wanderer zum Gründer: Der früherer Journalist Rainer Schultheis – seine Spezialität waren Wanderreportagen – gründete Saphenus, weil der ursprüngliche Erfinder der Technologie lieber in der Wissen­schaft blieb.

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