Agnes Wechsler-Fördös: „Es fehlt von allem etwas, von vielem viel“

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Autor: Martin Hehemann

Agnes Wechsler-Fördös, Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin und Vorstandsmitglied des Fachverbandes ÖGHMP, ärgert sich über die uneinheitliche Vorgangsweise der Kliniken in Hygienefragen und den geringen Stellenwert, der der Infektionsprävention in vielen Häusern eingeräumt wird.

Frau Dr. Wechsler-Fördös, geschätzte 95.000 Patienten infizieren sich pro Jahr in österreichischen Gesundheitseinrichtungen. Rund 4.500 bis 5.000 dieser nosokomialen Infektionen führen jährlich zum Tod. Ein Großteil der Infektionen könnte mit konsequenten Hygienemaßnahmen verhindert werden. Warum ist es so schwer, diesen Erkrankungen vorzubeugen?
Agnes Wechsler-Fördös: Krankenhaushygiene ist eine große Herausforderung. Um hier erfolgreich zu sein, brauchen Sie drei Dinge: Klare, verbindliche Regeln, die Bereitschaft zur Umsetzung dieser Regeln und die personellen Ressourcen, um das überhaupt bewältigen zu können.

Was fehlt?
Wenn ich mich kurzfassen sollte, würde ich sagen: von allem etwas, von vielem viel.

Agnes Wechsler-Fördös ist Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin. Sie gehört dem Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin (ÖGHMP) an, ist Präsidentin der Gesellschaft für antimikrobielle Chemotherapie und war von 1990 bis 2018 in der Wiener Rudolfstiftung als „Hygienebeauftragte Ärztin“ tätig.

Nehmen Sie sich ruhig etwas mehr Zeit. Wie schaut es mit den Regeln aus?
Auf der Ebene der einzelnen Krankenhäuser gibt es Regeln, Strukturen und Prozesse. Aber die sind nicht einheitlich. Ein Haus geht das Thema konsequenter an, das andere weniger. Ich würde mir dringend verpflichtende Vorgaben auf Bundesebene wünschen, die für alle Bundesländer gelten und auch eingefordert werden.

Es gibt seit 2002 die Leitlinie „PROHYG“, die von Bund und Ländern verab­schiedet worden ist. 2011 wurde eine Version 2.0 verfasst.
Genau. Aber leider ist diese Leitlinie eben nur das: eine Leitlinie. Sie ist nicht verbindlich und wird in der Praxis in jedem Bundesland etwas anders gelebt. Besonders schmerzhaft ist aus meiner Sicht, dass es keine klaren Vorgaben zur Personalausstattung für die Hygiene gibt. Denn was helfen mir die besten Regeln und Prozesse, wenn ich nicht das Personal habe, um sie vernünftig umzusetzen?

Punkt drei Ihres Anforderungskatalogs von oben …
… und aus meiner Sicht der allerwichtigste. In der Leitlinie hat man seinerzeit einen Vorschlag erarbeitet, wie viel Personal das Hygieneteam eines Krankenhauses braucht – also das Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich ausschließlich mit der Steuerung und Umsetzung der Hygieneprozesse befassen.

Von welchen Größenordnungen sprechen wir hier?
Die Zahlen unterschieden sich je nach Größe und Versorgungsauftrag des Hauses. Für eine Zentralkrankenanstalt mit bis zu 800 Betten waren zum Beispiel zwei Ärzte vorgesehen sowie eine Hygienefachkraft pro 150 Betten. Für eine Standardkrankenanstalt waren es ein Arzt pro 400 Betten und eine Hygienefachkraft pro 200 Betten.

Was geschah mit dieser Empfehlung?
Sie wurde 2015 durch den Qualitätsstandard zur Krankenhaushygiene ergänzt. In diesem finden sich jedoch keine konkreten Personalvorschläge mehr. Dort steht sinngemäß, dass die Personalkapazitäten je nach Versorgungsauftrag und Bettenzahl zu ermitteln und schriftlich festzulegen sind.

Das bedeutet: Aus einer unverbindlichen Empfehlung wurde keine Empfehlung?
So könnte man es formulieren.

Haben Sie eine Idee, warum das passiert ist?
Vermutlich ist es ein Problem der Finanzierung: Der Bund gibt die Regeln vor. Die Länder müssen dafür zahlen, ohne dass es Incentives gibt, in Qualität zu investieren. In Deutschland hat der Bund zum Beispiel die Implementierung von Hygieneteams finanziell unterstützt.

Bei nahezu 5.000 Toten pro Jahr: Spart man am falschen Ende?
Eines muss allen klar sein: Wer bei der Krankenhaushygiene spart, zahlt am Ende drauf. Rezente Daten der Charité in Berlin zeigen, dass Patientinnen und Patienten, die nach einer Operation eine Wundinfektion erleiden, ungefähr doppelt so lange im Krankenhaus bleiben. Damit verdoppeln sich auch die Kosten. Vom Leid, das die Patienten ertragen müssen und das mit einiger Sicherheit vermeidbar gewesen wäre, ganz zu schweigen.

Was ist notwendig, damit die Situation sich verbessert und die Zahl der Infektionen sinkt?
Aus meiner Sicht liegen die Fakten am Tisch. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine professionell aufgestellte Krankenhaushygiene. Bislang hat das Thema Hygiene aber bei vielen Ärzten und Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen immer noch nicht den Stellenwert, den es haben müsste.

Woran liegt das?
Das ist schwer zu sagen. Es ist möglicherweise eine Mischung von vielen Faktoren – Personalmangel, Überlastung, Kostendruck. Bezeichnend für den geringen Stellenwert der Hygiene ist übrigens auch die Bezahlung: Wenn man als Facharzt die Position des „Hygienebeauftragten Arztes“ annimmt, akzeptiert man meist beträchtliche Einkommenseinbußen. Das wird seit 30 Jahren kritisiert. Bis heute hat sich nichts geändert.

Wie schaut es mit der Qualität der Daten aus, die den Hygiene-Experten zur Verfügung stehen?
Sie könnten besser sein. Die Digitalisierung der Datenerfassung steckt oftmals noch in den Kinderschuhen. Es passiert immer wieder, dass wichtige Informationen für Analysen nicht in der elektronischen Krankenakte erfasst sind. Die muss man sich dann mühsam auf der jeweiligen Station besorgen. Wir Mediziner nennen das „Schuhsohlen-Surveillance“.

Immerhin: Es gibt das Projekt A-HAI, in dem die Krankenhäuser erstmals bestimmte Infektionen erfassen und einmelden müssen. Die Daten werden zentral gesammelt und den Häusern aufbereitet wieder zur Verfügung gestellt.
Ja, das ist eine gute Maßnahme, die ich begrüße. Mit diesen Daten kann man dann gezielte Interventionen planen.

Sie wirken dennoch nicht restlos überzeugt.
Das Projekt ist gut, aber ich komme zurück auf meinen wesentlichen Punkt: Was helfen mir die besten Daten, wenn ich nicht ausreichend ausgebildetes Personal zur Verfügung habe, das diese Daten auswertet, interpretiert und die richtigen Schlüsse zieht. Denn das ist ja das Ziel der ganzen Übung – aus den Daten lernen: Wo bin ich gut, wo nicht? Warum ist das so? Was kann ich tun, um mich zu verbessern? Und diese Analyse sollte von unabhängigen Experten durchgeführt werden, die darauf spezialisiert sind, um die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Kritiker bemängeln außerdem, dass A-HAI nur einen sehr beschränkten Einblick gibt: Es werden nur drei Infektionsarten, die auf der Intensivstation auftreten, und Wund­infektionen nach zwei ausgewählten Operationen erfasst.
Diese Kritik kann ich nachvollziehen. Das ist nicht viel. Zumal ich auch die Auswahl dieser beiden Operationen nicht für glücklich halte.

Erfasst werden Hüftgelenks- und die Gallenblasenoperationen.
Die Gallenblase kann ich nicht nachvollziehen. Das ist ein vergleichsweise komplikationsarmer Eingriff. Viel relevanter wäre die Dickdarmoperation gewesen. Hier kommt es durch die hohe Bakteriendichte naturgemäß häufiger zu Infektionen, und die Folgen davon können gravierend sein.

2025, also in den Daten für 2024, wird auch der Kaiserschnitt erfasst. Dann sind es drei Operationen.
Ja, das stimmt. Das Projekt wurde 2016 beschlossen. 2020 lag der erste Bericht vor. Und 2025 wird die Erfassung um eine Operation erweitert. So richtig dynamisch ist das leider nicht. 

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