Ein verpflichtendes Surveillance-System soll helfen, österreichweit einen Überblick über das Infektionsgeschehen bei „Gesundheitssystem-assoziierten Infektionen“ zu erhalten. Das Problem: Es werden nur wenige Infektionsarten erfasst.
Die Lösung klingt einfach: „Professionelle Händehygiene müsste so selbstverständlich werden wie das Anlegen des Sicherheitsgurtes im Auto. Das würde die Situation deutlich verbessern.“ Brigitte Ettl, Präsidentin der Plattform Patient:innensicherheit, verwendet nicht zufällig zweimal den Konjunktiv. Händehygiene ist in vielen österreichischen Gesundheitseinrichtungen nicht auf dem Standard, den sich Experten wünschen.
„Zu Hause reicht es, sich einfach nur die Hände mit Seife zu waschen, aber in Gesundheitseinrichtungen müssen Hände, Instrumente und Umgebung mit alkoholbasierten Desinfektionsmitteln behandelt werden“, so Johannes Culen, Generalsekretär der Semmelweis Gesellschaft. „In Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen sollte das für das Spitalspersonal tägliche Routine und Standard sein, aber auch Besucherinnen und Besucher können mit einem selbstverständlichen Gang zum Desinfektionsmittelspender sehr viel bewirken.“
Pi mal Daumen. Das nationale Hygiene-Surveillance-System erfasst nur zwei Arten von Wundinfektionen und drei Formen der Infektionen auf der Intensivstation. Der Rest der „Gesundheitssystem-assoziierten Infektionen“ bleibt Bauchgefühl.
In Wirklichkeit noch höher
Laut Schätzungen auf Basis von Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) infizieren sich in Österreich jedes Jahr 95.000 Menschen in Gesundheitseinrichtungen mit sogenannten Krankenhauskeimen – für 4.500 bis 5.000 von ihnen endet das tödlich. Culen vermutet, dass „die Gesamtzahlen in Wirklichkeit noch deutlich höher sind: Das ist eine Blackbox. Es gibt hier aktuell leider keine genauen Daten.“
Krankenhauskeime – darauf weisen die Fachleute hin – ist als Begriff nicht ganz korrekt. Sie verwenden den Begriff „Gesundheitssystem-assoziierte Infektionen“. Die Abkürzung dafür stammt aus dem Englischen. Sie lautet HAI und wird von den Experten so ausgesprochen wie der gleichnamige Meeresräuber. Unter HAI versteht man Infektionen, „die ursächlich in Zusammenhang mit einer Behandlung in einer Gesundheitseinrichtung stehen, bei Behandlungsbeginn jedoch noch nicht vorhanden waren“, auch nicht in der Inkubationsphase, erläutert Reinhild Strauss, Abteilungsleiterin im Gesundheitsministerium.
Man unterscheidet zwischen endogenen Infektionen, die durch die eigene mikrobielle Besiedlung des Patienten verursacht werden, und exogenen Infektionen durch Erreger aus der Umgebung des Patienten – beispielsweise anderen Personen, Oberflächen oder medizinischen Geräten. Die Vermeidung von exogenen Infektionen ist die klassische Aufgabe der Krankenhaushygiene. Dabei weisen viele Mediziner darauf hin, dass es die klassische Erregerhochburg Krankenhaus streng genommen nicht gibt. Die Erreger treten in anderen öffentlichen Gebäuden ebenso auf wie im Privatbereich. Der große Unterschied: „In einem Krankenhaus ist die Zahl der Menschen mit einem geschwächten Gesundheitszustand naturgemäß höher. Das bedeutet: Sie sind anfälliger für eine Infektion“, meint Franz Bauer, Leiter der Abteilung Hygienemanagement der Oberösterreichischen Gesundheitsholding (OÖG). „Darum ist die konsequente Krankenhaushygiene so wichtig.“
Mehr als 50 Prozent vermeidbar
Am häufigsten treten nach Angabe des Gesundheitsministeriums Infektionen der Atemwege, Harnwegsinfektionen, postoperative Wundinfektionen sowie Infekte des Blutkreislaufs und des Verdauungstraktes auf. Das Ministerium in einem Bericht zum Thema HAI: „Nicht jede dieser Infektionen ist zu vermeiden“, aber durch „konsequente Umsetzung von Hygienevorgaben und Prozessoptimierungen“ ließe sich eine deutliche Reduktion erzielen. Manche Studien gehen von 20 bis 30 Prozent aus, die WHO sogar von 50 Prozent oder mehr.
Aus Sicht von Semmelweis-Gesellschaft-Generalsekretär Culen ist es um die konsequente Umsetzung von Hygienemaßnahmen in den Krankenhäusern nicht optimal bestellt. Er verweist auf eine Publikation aus dem Jahr 2018, „die verdeutlicht, dass Hygiene und Infektionsprävention in den österreichischen Gesundheitseinrichtungen nicht den notwendigen Stellenwert hat“. Die WHO hat damals einen Fragebogen für ein „Self-Assessment“ ihrer Hygiene-Maßnahmen an 127 österreichische Krankenhäuser geschickt. Das Ergebnis: „Nur 65 haben überhaupt geantwortet. Also gerade einmal die Hälfte. Davon haben 38 einen ordentlichen Wert erzielt und lagen über dem Durchschnitt-Score. Die übrigen wiesen grobe Defizite auf“, so Culen.
Die Hoffnung von vielen Fachleuten, dass die Covid-Pandemie zu einem nachhaltigen Anstieg des Hygiene-Niveaus führt, hat sich laut Culen nicht erfüllt: „Während der Pandemie war das Bewusstsein sicher höher – beim Personal und bei den Patienten. Aber jetzt liegen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder auf dem alten Niveau.“ Zu diesem Ergebnis kommt auch eine aktuelle Studie aus Dänemark. Deren nüchternes Fazit: „Die COVID-19-Pandemie hat die Händehygiene-Compliance nicht verbessert.“
Überfordert und ausgebrannt. Viele HAI werden gar nicht erfasst, weil das Personal mit anderen Tätigkeiten überlastet ist. Zudem wird eine nosokomiale Infektion immer noch als persönliches Versagen interpretiert. „Wir brauchen eine andere Fehlerkultur“, ist sich Johannes Culen, Generalsekretär der Semmelweis Gesellschaft, sicher.
Keine verbindlichen Vorgaben
Kritiker stoßen sich vor allem daran, dass für die österreichischen Gesundheitseinrichtungen keine verbindlichen Vorgaben des Ministeriums zu Hygienemaßnahmen existieren. Was es gibt, ist eine Leitlinie aus dem Jahr 2002 mit dem vielversprechenden Namen „PROHYG“, von der 2011 eine Version 2.0 erstellt worden ist. Am grundsätzlichen Geburtsfehler der Leitlinie hat sich dadurch aber nichts geändert: Die PROHYG gibt nur Empfehlungen ab. Die Umsetzung ist nicht verpflichtend. Agnes Wechsler-Fördös, Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, die in der Wiener Rudolfstiftung jahrelang als „Hygienebeauftragte Ärztin“ mit dem Thema befasst war: „Das ist ein echtes Problem. Ich würde mir dringend verpflichtende Vorgaben auf Bundesebene wünschen, die für alle Bundesländer gelten und auch eingefordert werden.“
Kenner des österreichischen Gesundheitswesens bezweifeln, dass dieser Wunsch noch in diesem Jahrhundert in Erfüllung geht. Völlig aussichtslos ist die Hoffnung auf Fortschritte im Kampf gegen die HAI aber nicht. Vor einigen Jahren hat das Gesundheitsministerium das Projekt Austria-HAI (A-HAI) ins Leben gerufen. Das oberste Ziel: Die Zahl der HAI senken. Als ersten Schritt in dieser Richtung haben sich Bund, Länder und Sozialversicherung 2016 darauf verständigt, ein verpflichtendes Surveillance-System zu schaffen, in dem die Krankenhäuser die auftretenden HAI-Fälle erfassen müssen.
Plattform Patient:innensicherheit-Präsidentin Ettl begrüßt diese Initiative. „A-HAI ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Es dient vor allem dazu, das Bewusstsein für die Problematik bei den Verantwortlichen zu stärken“, meint Ettl. „Das Projekt hat sicher einen guten, weiteren Anstoß zu Verbesserungen gegeben“, sagt OÖG-Hygieneverantwortlicher Bauer. „Wir verfolgen einen klaren Ansatz: Wir erfassen Auffälligkeiten und Infektionen, analysieren die Ergebnisse und prüfen dann, was gut oder nicht so gut gelaufen ist und wie wir uns weiter verbessern können.“
Bis A-HAI den gewünschten Anschub geben konnte, hat es allerdings eine ganze Weile gedauert. Nachdem das Projekt im Jahr 2016 beschlossen worden war, lag erst 2021 der erste A-HAI Bericht vor, mit Daten aus dem Jahr 2019. Der zweite Bericht mit Daten aus 2020 wurde 2022 erstellt. Die Zahlen für 2021 sollen demnächst veröffentlicht werden. Was war das Problem? Zunächst wurde intensiv darüber verhandelt, mit welchen Systemen die Infektionen erfasst werden sollen. Der Hintergrund: In der Vergangenheit hatten die einzelnen Häuser unterschiedliche Systeme eingesetzt, manche von ihnen auch Eigenentwicklungen. Man einigte sich schließlich auf einen Kompromiss, der einen nicht ganz unwesentlichen Schwachpunkt aufwies: Für die Erfassung der Daten im A-HAI-Projekt durften die Häuser zwischen vier Systemen wählen. Die Daten aus den einzelnen Systemen waren aber nicht miteinander vergleichbar. Es vergingen mehrere Jahre, bis dieses Problem gelöst werden konnte.
Eingeschränktes Bild
Eine weitere Schwäche des A-HAI-Projekts besteht nach wie vor: Es werden nur wenige Infektionsarten erfasst. Dabei handelt es sich einerseits um zwei Wundinfektionen, die nach Operationen auftreten können – und zwar nach der Hüftgelenk- und nach der Gallenblasenoperation. Anderseits werden drei Infektionen erfasst, die auf der Intensivstation auftreten – Lungenentzündung, Harnwegsinfektion und Bakteriämie (Anwesenheit von Bakterien im Blutkreislauf). „Das Projekt ist schön und gut. Aber die A-HAI-Berichte zeigen nur ein sehr eingeschränktes Bild der gesamten Infektionslage“, meint ein Hygiene-Experte. HAI-Expertin Strauss vom Gesundheitsministerium hält dem entgegen, „dass A-HAI Schritt für Schritt ausgebaut werden soll.“ Strauss weiter: „Das Ziel war, dass alle Krankenhäuser an der Erfassung teilnehmen. Daher hat man sich auf einen pragmatischen Ansatz geeinigt. In den Daten für 2024 wird mit dem Kaiserschnitt eine dritte Operation erfasst.“
Die Ergebnisse der ersten beiden A-HAI-Berichte lesen sich recht positiv. So sank die Infektionsdichte (Infektionen pro 100 Operationen) bei Operationen der Gallenblase von 1,5 im Jahr 2019 auf 1,3 im Jahr 2020. Bei der Hüftgelenkoperation blieb sie stabil bei 1,4. Mit diesen Werten liegt Österreich mehr oder weniger im europäischen Mittelfeld. Der EU-Durchschnitt betrug im Fall der Gallenblasenoperation im Jahr 2017 – neue Zahlen liegen nicht vor – 1,7. Im Fall der Hüftgelenkoperation waren es genau 1.
Hygieneexperten glauben allerdings auch gar nicht, dass die Situation in Österreich signifikant schlechter ist als in anderen EU-Ländern. Sie vermuten, dass die Krankenhausmanager in allen Ländern vor ähnlichen Herausforderungen stehen. „Für wirksame Hygienemaßnahmen braucht es zwei Dinge: Die Disziplin des Personals und die finanziellen Mittel. Hygienemaßnahmen kosten nun mal Zeit und Geld“, meint ein Krankenhausmanager.
Semmelweis-Gesellschaft-Vertreter Culen befürchtet, „dass die Zahlen in den diversen Berichten nicht das wahre Infektionsgeschehen wiedergeben“. Viele HAI, so Culen weiter, „werden vermutlich gar nicht erfasst, weil das Personal mit anderen Tätigkeiten überlastet ist“. Zudem würden viele Mitarbeiter eine bakterielle Infektion als ein eigenes Versagen betrachten und bei der Erfassung unter den Tisch fallen lassen. Culen: „Hier braucht es Mut und eine offene Fehlerkultur. Eine Infektion kann vorkommen. Das ist noch nicht unbedingt ein Versagen. Das wird es erst, wenn man aus Fehlern nicht lernt.“
Quellen und Links: