Innovationen wecken Erwartungshaltungen: Erst kommt der Hype. Dann folgen Enttäuschung und Spott, weil die Hoffnungen nicht sofort erfüllt werden konnten. Erst nach einer gewissen Zeit pendelt sich die Sicht der Dinge auf ein „normales“ Maß der Hoffnung ein: Erinnern Sie sich an den „Cyberspace“ in den 90ern, „Web 2.0“ zur Jahrtausendwende oder die „Digitalisierung“ vor gar nicht mal so langer Zeit? Was einst neu und unbekannt war, ist mittlerweile Mainstream.
Die gesellschaftliche Verfasstheit beim Thema der Künstlichen Intelligenz befindet sich derzeit eindeutig im Hype-Modus. Die Kommentare reichen von extremem Enthusiasmus bis hin zur Maschinenstürmerei. Dabei empfinde ich die Aufregung für überflüssig: Veränderung ist ein Wesensmerkmal der Medizin. Die Röntgenologie von heute hat mit dem Fach aus meiner Ausbildungszeit nur mehr in ihren Basics zu tun. So wie KI die Medizin verändern wird, so haben bereits Röntgenapparat, PC oder die Entschlüsselung des Erbgutes die Medizin verändert.
Ich bin überzeugt: Künstliche Intelligenz kann so manche Irrtümer des Wandels reparieren. In der jüngeren Vergangenheit haben Maschinen die Medizin entmenschlicht. Die Apparatemedizin hat die Qualität der Medizin zwar gesteigert, aber den Faktor Mensch immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Zwischen Arzt und Patient steht immer ein Monitor und es klappert ein Keyboard. Dies geht so weit, dass es in bestimmten Fachgebieten gar keinen Arzt-Patienten-Kontakt mehr gibt. Der Mensch hat sich an die Maschinen angepasst.
KI bringt hier den Paradigmenwechsel. Erstmalig passt sich die Maschine dem Menschen an. Die Apparate sind durch das Verstehen von menschlicher Sprache so flexibel geworden, dass sie sich nach den Wünschen des Menschen richten. Dies gibt Raum, dass Arzt und Ärztin den Patienten wieder in den Mittelpunkt rücken. Wenn wir die Möglichkeiten der KI richtig nutzen, können wir Medizin wieder menschlicher machen. Beispiel: Heute bestimmen die Dokumentationspflichten gefühlt zu 80 Prozent den Arztberuf. Dokumentation ist in der Medizin lebenswichtig. Aber die menschliche Zeit ist viel zu wertvoll, um sie mit derartig simplen Tätigkeiten zu vergeuden. Das soll kein Mensch machen müssen – kein Arzt, keine Ärztin und kein Pfleger und keine Pflegerin. KI-Tools können das übernehmen – schon heute. Wir werden mittels KI künftig auch Sprachbarrieren überwinden – sowohl in der medizinischen Kommunikation als auch in der Verschriftlichung. Ich bin überzeugt, dass die KI in der Übernahme der Dokumentationsaufgaben die unmittelbarste Wirkung auf unser Gesundheitssystem entfalten wird – auch wenn dies nicht den glamourösesten Teil von KI darstellt.
Viele weitere Einsatzgebiete der KI im Monitoring, in der Diagnostik, bei OP-Systemen oder im Umfeld der Radiologie machen Medizin präziser und verringern Fehler. Sie bleiben in ihrem Charakter unterstützend. Ob sie irgendwann auch einmal Entscheidungen treffen, wird das Ergebnis intensiver gesellschaftlicher Diskussionen werden. Derzeit stellt sich die Frage nicht. Natürlich wird sich der Beruf des Arztes und der Ärztin durch KI verändern. Aber er wird nicht obsolet werden, wie manchmal in den Raum gestellt wird. Im Gegenteil: Wenn wir die Implementierung von KI besonnen, zügig und mit den nötigen Regularien versehen umsetzen, kann die Technologie beitragen, die Folgen der Schere aus Personalmangel und wachsendem medizinischen und pflegerischen Bedarf zumindest zu lindern.
Die Implementierung von KI-basierten Tools wird rasch erfolgen. Der Druck wird dabei von innen kommen. Die Ordination, die mit KI-Technologie kürzere Wartezeiten aufweist, wird größeren Zulauf haben als die konventionell agierende Nachbarpraxis, die erst in acht Wochen freie Termine vergibt. KI wird in der Medizin sehr bald Teil des Mainstreams werden. Dafür braucht es Rahmenbedingungen. Aber es besteht kein Grund, sich davor zu fürchten.
Dr. Felix Nensa ist Radiologie-Professor mit dem Schwerpunkt Künstliche Intelligenz (KI) an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Nensa studierte Computerwissenschaft (2001-2004) an der Universität Hagen und parallel Medizin (2001-2007) an der RUB und der Université Louis-Pasteur in Straßburg. Danach arbeitete er bis 2011 in einem von ihm mitgegründeten IT-Start-up. Seit 2019 leitet er die Gruppe KI und intelligente Krankenhausinformationsplattformen. Der Kommentar wurde notiert von Josef Ruhaltinger.