Pharmakogenetik – Damit Pillen keine Placebo werden

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Autor: Alexandra Keller

Ein Salzburger Start-up unterstützt Ärztinnen und Ärzte bei der personalisierten Verschreibung und Dosierung von Arzneien. Das Verfahren der Pharmakogenetik erhöht die Treffsicherheit von medikamentösen Therapien dramatisch.

Wolfgang Schnitzel hat den pharmakologischen Nachweis, dass er einzigartig ist. Ihm wurde ein gängiges Präparat zur Entspannung der Muskeln verschrieben, dessen Wirksamkeit millionenfach erwiesen ist. Aber bei ihm zeitigte das Medikament gar keine Folgen. „Mein verspannter Rücken bleibt verspannt“, bedauert der Genetiker und Geschäftsführer der PharmGenetix GmbH. Schnitzel beschreibt das Glücksspiel, das jeder medikamentösen Behandlung innewohnt. Therapien schlagen bei einem Patienten an, bei anderen bleiben sie wirkungslos. Die Menschen bleiben mal erstaunt, mal ratlos und oft verzweifelt zurück.

Jeder Mensch verfügt über einen höchst individuellen Bauplan. Abseits sozialromantischer Konstrukte gilt diese Feststellung vor allem für essenzielle körperliche Funktionen, wie etwa das hochkomplexe Enzymsystem, das für den Arzneimittelmetabolismus zuständig ist – jenem Stoffwechselprozess, in dem Wirkstoffe aufgenommen, umgewandelt und abgebaut werden. Im schlimmsten Fall entwickeln sich bei einzelnen Individuen Nebenwirkungen, die aus dem angestrebten heilenden Effekt einen toxischen machen.

Gibt es genetisch bedingte Veränderungen in der DNA der Enzyme, weicht deren Aktivität von der Norm ab. 90 Prozent der Bevölkerung verfügen über derartige Mutationen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ein Patient aus der Durchschnitts-Welt der Pharmakologie gekickt wird. Dann laufen Therapie und Dosierung ins Leere.

Divers. Die Blutanalysen aus dem Salzburger Vorort Anif zeigen, ob ein Medikament bei bestimmten Patienten wirkt. Mithilfe einer Datenbank können alternative Wirkstoffe gefunden werden.

Jenseits der Wahrscheinlichkeit

Die Methode der Pharmakogenetik beseitigt den Zwang zum Mainstream. Mit ihrer Hilfe orientieren sich medikamentöse Therapien nicht mehr am Durchschnitt, sondern stellen individuelle Verträglichkeit in den Mittelpunkt. Die Ermittlung des genetischen Profils der Patienten beziehungsweise ihrer Enzyme ist dabei die Basis für einen großen Schritt in Richtung personalisierte Medizin. PharmGenetix-Chef Schnitzel bleibt bei seinem Beispiel: „Mein Profil zeigt, dass das Enzym, das für die Wirkung des Muskelrelaxanz-Präparates verantwortlich ist, ein hyperaktives ist. Das heißt, es baut den Wirkstoff viel zu schnell ab und ich muss die doppelte Dosis nehmen, damit es wirkt.“ Zahlreiche Medikamente dürften gemäß ihrer Zulassung erst nach einer pharmakogenetischen Analyse eingesetzt werden. „In der Fachinformation eines Medikaments, das nach einem Mammakarzinom gegeben wird, steht, dass die Wirkung um 75 Prozent geringer ist, wenn es einen Mangel an einem bestimmten Enzym gibt“, erklärt Schnitzel. Wird das Enzym nicht getestet, kann die Wirkung des Medikaments zu schwach sein und den Krebs wiederkehren lassen. Neben jenen für Krebsmedikamente liegen pharmakogenetische Profile auch für zahlreiche Psychopharmaka, Schmerzmedikamente, Medikamente zur Blutverdünnung oder Herzkreislaufmittel vor.

Nach der Analyse der Blutprobe im Labor werden den behandelnden Ärzten jene Medikamente aufgelistet, die mit der Genetik der Patienten harmonieren. Dabei werden ausschließlich jene Gene untersucht, die für die Wirkung oder Nebenwirkung von Medikamenten relevant sind. „Es ist schlimm, wenn das nicht getestet wird. Im Grunde genommen ist es sogar fahrlässig“, so Schnitzel. Die Information einer pharmakogenetischen Untersuchung ist statisch: Sie bleibt ein ganzes Leben lang gültig. Eine einzelne Untersuchung reicht aus, um auch bei künftigen Behandlungen geeignete Medikamente verschreiben zu können.

Verspannt. Wolfgang Schnitzel ist Geschäftsführer von PharmGenetix. Bei ihm wirkt aufgrund seiner genetischen Prädisposition ein millionenfach erprobtes Muskelrelaxans nicht. Den Grund dafür kennt er erst, seit er eine pharmakogenetische Blutanalyse durchführen ließ.

Verknüpfung von Profil und Wirkstoff

Schnitzel kokettiert, wenn er sagt, dass er in „grauen Vorzeiten“ Genetik studiert habe, als die Wissenschaft rund um die DNA „spannend war, aber noch keine große praktische“ Rolle spielte. Nach Jahren in der Pharmaindustrie dockte er vor fünf Jahren als Geschäftsführer beim Anifer Start-up an. Es wurde 2015 vom Südtiroler Mediziner Markus Paulmichl mitgegründet, dem langjährigen Leiter des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Kernstück des 25 Mitarbeiter-Unternehmens ist die Datenbank, in der die Wirkungsweisen von rund 1000 medizinischen Wirkstoffen aufgeschlüsselt sind – Tendenz weiter wachsend. Dabei wird die individuelle Enzym-Disposition eines Patienten mit den Wirkstoffen abgeglichen. Wirkungen oder Nebenwirkungen werden dabei genauso errechnet wie Wechselwirkungen verschiedener Medikamente, für die gegebenenfalls Alternativen vorgeschlagen werden. So erfahren Arzt und Patient, ob das Medikament verschrieben werden kann. Bei negativen Verknüpfungen werden alternative Wirkstoffe vorgeschlagen. 2023 wurde das PharmGenetix-Angebot in den sieben Kliniken der Südtiroler Sanitätsbetriebe stufenweise eingeführt. Schnitzel: „Wir sehen, dass Südtirol durchschnittlich ein anderes genetisches Profil hat als Europa oder Österreich.“ 

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