Bei welchem Patienten könnte sich in Kürze eine schwere Infektion entwickeln? Welche Patientin ist besonders gefährdet für eine ernste Sturzverletzung, bei wem ist ein Druckgeschwür zu befürchten? Künftig könnten individuelle Risiken wie diese genauer vorhergesagt werden. In einem Pilotprojekt am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) soll erstmalig ein auf künstlicher Intelligenz (KI) beruhendes System zur Früherkennung von Komplikationen und Krankheiten implementiert werden.
Das UKSH startet dafür eine wissenschaftliche, anwendungsorientierte Kooperation mit der Tiplu GmbH, die die KI-basierte Software „MAIA“ derzeit entwickelt. Finanziert wird das Vorhaben teilweise durch den Krankenhauszukunftsfonds des Bundes zur Förderung der digitalen Transformation in Krankenhäusern (KHZG).
Das System soll das Erkennen und möglichst frühe Vorhersagen klinischer Risiken ermöglichen und so ärztliches und pflegerisches Personal bei Entscheidungen unterstützen; zum Beispiel, ob bestimmte diagnostische oder therapeutische Vorsorgemaßnahmen erwogen werden sollten. „MAIA“ soll bei erfolgreicher wissenschaftlicher Validierung perspektivisch im gesamten Klinikum zum Einsatz kommen.
KI für „eine menschliche Medizin“
„Künstliche Intelligenz bietet das Potential, die Medizin nachhaltig zu verbessern, medizinische Maßnahmen können zielgenauer greifen, die Zahl der Komplikationen und die Behandlungsdauer kann sich verringern“, sagt Projektleiter Prof. Dr. Kai Wehkamp, Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Innere Medizin I des UKSH, Campus Kiel. „Neben den eher technischen und prozessbezogenen Herausforderungen gilt es dabei auch ethische, gesellschaftliche und rechtliche Anforderungen zu moderieren, denn nur so kann Vertrauen in die KI-gestützte Medizin gewährleistet werden. Wir wollen ein System, dass die Medizin dabei unterstützt, der einzelnen Patientin, dem einzelnen Patienten noch besser gerecht zu werden und so auch eine menschliche Medizin fördert.“
Die Software nutzt Algorithmen der künstlichen Intelligenz, um basierend auf Patientendaten (zum Beispiel Laborwerte, Vitalparameter, Medikamentenpläne oder Informationen über frühere Behandlungen) Muster für die Erkennung bzw. Vorhersage von Erkrankungen zu finden oder mögliche Diagnosen zu vorliegenden Symptomen zu generieren. Technisch basiert das Programm auf modernsten Methoden des maschinellen Lernens. Die Risikoeinschätzung des Systems soll durch Erklärungen ergänzt werden, die es den behandelnden Fachleuten ermöglichen, Warnungen und Vorschläge besser nachzuvollziehen. Die tatsächlichen Behandlungsentscheidungen werden aber immer bei den Ärztinnen und Ärzten liegen.
„Das UKSH weist durch seine Größe und den hohen Digitalisierungsgrad sehr gute Bedingungen für Training und Einsatz von Machine-Learning-Anwendungen in der Patientenversorgung auf. Dies ist aus unserer Sicht neben der für uns wichtigen wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit ein entscheidender Faktor für das klinische Potential“, sagt Dr. Moritz Augustin, Leiter Maschinelles Lernen bei Tiplu.
KI-Training
Bevor die KI-basierte Software zum Einsatz kommt, müssen digitale Daten für das Training der KI-Modelle wie auch für den Live-Einsatz passend bereitgestellt werden; außerdem klinische Eigenschaften und Konstellationen ausgewählt werden, um medizinisch relevante „Labels“ für das KI-Training zu erhalten. Nicht zuletzt soll sich das System in wissenschaftlichen Studien einer Überprüfung der Genauigkeit und des tatsächlichen Nutzens unterziehen. Mit der Zertifizierung von „MAIA“ als Medizinprodukt – eine Voraussetzung für den Einsatz im Krankenhaus – wird Ende des Jahres gerechnet.
Das UKSH verfolgt unter seinem Vorstandsvorsitzenden (CEO) Prof. Dr. Dr. h.c. Jens Scholz seit Jahren eine konsequente Digitalisierungsstrategie. Die Unternehmensstudie „Digital Champions 2022 – Unternehmen mit Zukunft“ zählte das UKSH zusammen mit der Charité Universitätsmedizin kürzlich zu den beiden am besten digitalisierten Universitätskliniken Deutschlands. Die Standorte Kiel und Lübeck spielen eine wichtige Rolle im Bereich der Medizininformatikinitiative, auf die unter anderem das Medizinische Datenintegrationszentrum (MEDIC) als Grundlage für datenbasierte Forschungsprojekte zurückgeht. Auch künstliche Intelligenz soll in anderen Projekten des UKSH und der Universitäten in Kiel und Lübeck zunehmend eingesetzt werden, etwa bei einem Pilotprojekt zur Erkennung medizinischer Risiken in der Intensivmedizin oder bei der Diagnostik von Frakturen bei Kindern.