Baby-Boomer werden zu Alterspsychiatrie-Patienten

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Autor: Scho

Weltweit leben derzeit rund 55 Millionen Menschen mit Demenz. Laut WHO kommen jährlich zehn Millionen Betroffene hinzu. Doch es gibt immer mehr Hinweise auf mögliche Prävention dieser Hirnleistungsstörungen. Die Gesellschaft wird alle Kraft benötigen, um in Zukunft Versorgung und Pflege der Gerontopsychiatrie-Patienten zu schaffen, hieß beim Welt-Psychiatriekongress in Wien.

Die Herausforderungen an die Alterspsychiatrie steigen mit der demografischen Entwicklung enorm an. „Von den Baby-Boomern zu den Geronto-Boomern“, lautete deshalb eines der Themen. In Österreich sind derzeit laut offiziellen Schätzungen 115.000 bis 130.000 Menschen von Demenz betroffen. Man rechnet mit einer Verdoppelung der Zahl der Patienten bis zum Jahr 2050.

Der Wiener Gerontopsychiater und Ärztlicher Leiter der Psychosozialen Dienst (PSD-Wien), Georg Psota, nannte „3 Ds“ als die größten Probleme psychischer Störungen in einer alternden Bevölkerung: Demenz, Delir (akute Verwirrtheitszustände; Anm.) und Depressionen. „Jeder Vierte im Alter über 80 Jahren ist an Demenz erkrankt. Vier von fünf Demenzpatienten leben zu Hause. Drei von vier Demenzkranken werden von Familienangehörigen betreut. Zwei von drei dieser Betreuenden sind über 60 Jahre alt“, stellte der Experte fest.

„Die Katze wird einen nicht versorgen“

Die Gesellschaft müsse sich dringend und eingehend mit dem Problem der rasant wachsenden Zahl an Patienten, Pflegebedürftigen und auch „nur“ weniger intensiv täglich zu Versorgenden beschäftigen. Psota führte an, dass schon um die Jahrtausendwende in einer Stadt wie München der „Ein-Personen-Haushalt mit Katze“ die häufigste Lebensform gewesen sei. „Allein kann man schon leben. Aber die Katze wird einen nicht versorgen“, erklärte der Psychiater. Im Jahr 2000 seien in Europa noch rund 70 Erwerbstätige auf einen Demenzpatienten gekommen. „Im Jahr 2050 werden es 21 Erwerbstätige pro Demenzkranken sein. Das muss man erst einmal stemmen“, erklärte Psota.

Die dringendsten Maßnahmen sollten deshalb sein: Berücksichtigung der demografischen Entwicklung in allen (gesundheits-)politischen Entscheidungen, Unterstützung der Familiensysteme, Kampagnen zur Anwerbung von entschieden mehr Pflegepersonal, mehr Ausbildung in Gerontopsychiatrie und Nutzung der Kapazitäten auch von bereits pensionierten Psychiatern, die noch zeitweise arbeiten können. „Die Aufgabe, nett zu leben, reicht nicht“, sagte Psota.

Es gibt zwar erste Arzneimittel, welche bei Morbus Alzheimer ursächlich eingreifen und die Entwicklung der Krankheit ein wenig verlangsamen können, doch laut der Leipziger Sozialmedizinerin Steffi Riedel-Heller werden sie in Sachen Demenz kein „Game Changer“ sein. „Demenz ist nicht heilbar. Demenzprävention ist aber möglich“, sagte die Expertin.

Deutlicher Rückgang registriert

In jüngster Zeit werde zumindest in den westlichen Industriestaaten ein Rückgang der Zahl der Demenz-Neuerkrankungen registriert“, sagte die Sozialmedizinerin. Hier gehe es mittlerweile um eine Reduktion um knapp 30 Prozent. Die Ursachen seien noch nicht ganz klar. Wahrscheinlich spielten dabei aber Lebensstilfaktoren eine bedeutende Rolle. Insgesamt müsse man von den Risikofaktoren zu Präventionsprogrammen kommen.

Was bisher bekannt ist, so die Expertin: Beeinflussbare bis hin zu vermeidbare Risikofaktoren für eine spätere Demenzerkrankung gibt es von der Kindheit bis ins Alter. Eine psychisch belastende Kindheit, wenig Bildung, traumatische Hirnverletzungen, schlechte Ernährung, Adipositas, Rauchen, Alkoholmissbrauch, Diabetes, Bluthochdruck und andere Faktoren sind explizit durch wissenschaftliche Forschungen dokumentierte negative Einflussfaktoren.

Steffi Riedel-Heller: „Bei einer Reduktion der Risikofaktoren um 15 Prozent ließe sich die Zahl der Betroffenen bis 2033 um 138.000 reduzieren.“

Hier können Präventionsmaßnahmen – am besten an mehreren Hebeln gleichzeitig – ansetzen. Laut Schätzungen ließen sich rund 40 Prozent der Demenzerkrankungen mit häufigen Risikofaktoren in Verbindung bringen, stellte Steffi Riedel-Hiller fest. In Deutschland erkranken beispielsweise pro Jahr zwischen 360.000 und 400.000 Menschen im Alter über 65 Jahren neu an einer Demenz. Die Expertin: „Bei einer Reduktion der Risikofaktoren um 15 Prozent ließe sich die Zahl der Betroffenen bis 2033 um 138.000 reduzieren.“ Würde man die Risikofaktoren zu 30 Prozent zurückdrängen, wäre das Doppelte erreichbar.

Eine Studie mit 1.300 Personen im Alter zwischen 60 und 77 Jahren (Aufnahme in die Untersuchung), zu 39 Prozent Diabetiker, zu 87 Prozent Personen mit Bluthochdruck und mit einem Anteil von Adipösen von 55 Prozent mit einem intensiven Präventionsprogramm (Ernährungsberatung, kognitives Training, körperliche Aktivität etc.) hat binnen zwei Jahren keinen signifikanten Vorteil bezüglich der kognitive Leistung (Vergleich mit „Placebo-Gruppe“) allgemein ergeben. Doch bei den Probanden mit dem geringsten Ausbildungsniveau zeigten sich doch deutliche Verbesserungen. Wahrscheinlich war einfach die Beobachtungszeit von zwei Jahren für die Gesamtgruppe einfach zu kurz.

Problematisch ist schließlich auch als belastend empfundene Einsamkeit, betont der Grazer Alterspsychiater Christian Jagsch. Das sei von zeitweise selbst gewähltem Alleinsein wesentlich zu unterscheiden. Schädigende erzwungene Einsamkeit fördere psychische und somatische Erkrankungen. Jagsch sprach von „Einsamkeit, das Schicksal im Alter“. „Jeder dritte ältere Mensch über 65 in der EU erlebt emotionale oder soziale Einsamkeit.“ Das führe zu chronischem Stress. Physische und psychische Schmerzen bzw. Leidenszustände würde sich gegenseitig bedingen. Das ließe sich sogar an dabei ablaufende Veränderungen im Gehirn ablesen.

Gegen diese „schlechte Einsamkeit“ sollte jedenfalls angekämpft werden, weil sie auch psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen verursachen und eine Demenz fördern können. Betroffene sollte beim Aufbau von Kontakten geholfen werden, sie brauchen soziale Unterstützung, eine Vertrauen fördernde Umgebung und müssten im Fall des Falles in der Trauerarbeit unterstützt werden. „Wir brauchen andere, wir bedürfen aber auch, von anderen gebraucht zu werden“, schloss Jagsch.

(APA/red.)

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