Embryomodell vs. Embryo: Forscher plädieren für neuen Ethik-Rahmen

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Autor: Scho

Mit Strukturen aus menschlichen Stammzellen, die an ein sehr frühes Embryo-Entwicklungsstadium erinnern, sorgten zuletzt Forscher für Aufsehen. Als „künstliche Embryonen“ sollten diese aber nicht bezeichnet werden, widersprachen österreichische Experten so mancher überzogener Darstellung. Klar ist jedoch, dass auf dem Gebiet der „Embryomodelle“ ungeheure Fortschritte erzielt werden. Forscher machen nun im Fachjournal „Cell“ einen Vorschlag für einen neuen ethischen Rahmen.

Żernicka-Goetz berichtete über ein aus menschlichen pluripotenten Stammzellen entwickeltes Zell-Ensemble, das in etwa dem Entwicklungsstand 14 Tage nach der Befruchtung einer Eizelle entspreche. Bei solchen, wissenschaftlich richtiger als Embryomodell bezeichneten Zellverbänden handelt es sich um einen Ansatz, der bereits seit einigen Jahren von mehreren Forschungsgruppen verfolgt wird.

Keineswegs könne aus den im Juni von einer Gruppe um Magdalena Żernicka-Goetz vom California Institute of Technology (USA) auf einem Symposium präsentierten Zellstrukturen ein Mensch werden. Das hielt etwa der Chef des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Jürgen Knoblich, im Juli vor Journalisten fest. Auch IMBA-Forscher Nicolas Rivron arbeitet an derartigen „Blastoiden“.

„Methoden, die die Befruchtung umgehen“

Er machte nun zusammen mit Kollegen aus Spanien, den USA, Großbritannien und den Niederlanden einen Vorschlag für einen ethischen Rahmen zur Verwendung von menschlichen Embryomodellen in der wissenschaftlichen Forschung. Die seit einiger Zeit mögliche Bildung solcher Modelle „unter Verwendung von Methoden, die die Befruchtung umgehen“, mache neue Überlegungen zu deren tatsächlichem Entwicklungspotenzial notwendig, heißt es in der Perspektiven-Arbeit.

Im Kern schlagen die Wissenschafter eine erweiterte Definition vor, die sich weniger an bestimmten Zeitabständen ab der ersten Zellteilung orientiert. Sie beschäftigen sich vor allem damit, ob und inwieweit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sich ein Embryomodell tatsächlich in Richtung Fötus weiterentwickeln kann – und dann auch den dementsprechenden rechtlichen Schutz erhalten sollte.

Als biologische Definition für einen „menschlichen Embryo“ schlagen Rivron und Kollegen „menschliche Zellen mit dem aktiven Potenzial, sich zu einem Fötus weiterzuentwickeln“ vor. Von einem Fötus spricht man beim Menschen in der Regel ab der 9. Schwangerschaftswoche.

„Extraembryonalen Funktionen“

Um in der Folge auch im rechtlichen Sinne von einem Embryo zu sprechen, müsste besagtes Embryomodell neben dieser Grundvoraussetzung aber auch Gewebestrukturen bilden, die Funktionen erfüllen, die es dem embryo-ähnlichen Zellensemble erlauben, sozusagen mit der Außenwelt zu kommunizieren. Die Forscher sprechen von „extraembryonalen Funktionen“.

Weiters müsste es in einer Art Unterstützungssystem gedeihen können, das Funktionen einer Gebärmutter erfüllt. Ist all dies der Fall und gibt es somit eine echte Chance, einen Fötus zu formen, wäre so ein „Modell“ dann als „Embryo“ anzusehen, so die Idee.

Um diese Voraussetzungen zu überprüfen schlagen die Wissenschafter zwei verschiedene Test-Ansätze vor. Einmal würde man das Embryomodell außerhalb des Uterus weiterwachsen lassen, und unter ethischen Gesichtspunkten entscheiden, ob es vertretbar ist, den jeweils nächsten Entwicklungsschritt zuzulassen. Der zweite Weg wäre das Beobachten der Weiterentwicklung in Tiermodellen in einer Gebärmutter. Wo bei verschiedenen Methoden dann jeweils die „Kipppunkte“ dahin gehend festzumachen sind, ab wann man von einem richtig entwicklungsfähigen Embryo spricht, sollte laut den Autoren eingehend erforscht, ethisch diskutiert und in den Rechtssystemen in den verschiedenen Ländern festgelegt werden.

Ethische Grenzziehungen

Noch habe zwar kein Embryomodell das Potenzial, einen Fötus zu bilden, es sei aber nicht ausgeschlossen, dass das in der Zukunft der Fall sein wird, schreiben die Wissenschafter. Habe ein solches Modell aber „einen bestimmten Kipppunkt überschritten, schlagen wir vor, es als vollwertigen Embryo zu betrachten – unabhängig davon, wie es entstanden ist“.

Für den Moraltheologen Jochen Sautermeister von der Universität Bonn legen die Autoren mit ihrer Arbeit „einen bemerkenswerten Vorschlag“ vor. Mit dem Kipppunkt-Ansatz „formulieren sie Kriterien für ethische Grenzziehungen, nach denen Embryomodelle wie menschliche Embryos behandelt werden sollen und damit der entsprechenden Schutzwürdigkeit unterliegen“, so Sautermeister gegenüber dem deutschen Science Media Center (SMC). Die Idee der Orientierung am „Entwicklungspotenzial“ sehen auch andere Experten durchaus positiv. Wie sich solche Kipppunkte tatsächlich festmachen lassen, sei allerdings offen. Auch zur Rolle der ethischen Begleitung würden Fragen offen bleiben.

Insgesamt befinde man sich bei dem Thema an einem Punkt, wo es tatsächlich neue Diskussionen braucht. Für Rüdiger Behr von deutschen Leibniz-Institut für Primatenforschung steht in der embryologischen Forschung eine „absehbare Zeitenwende“ bevor. Hier brauche es jedenfalls neue Vorgaben, denn die Arbeit von Rivron und Kollegen könne auch als „Hilferuf der Wissenschaft an die jeweiligen Gesetzgeber“ gedeutet werden.

Die Fachpublikation finden Sie hier.

(APA/red.)

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