ME/CFS-Experte: Patienten-Umgang einer der "größten Medizinskandale"

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Autor: Scho

Der Long Covid-Spezialist und Neurowissenschafter David Putrino fordert bei post-akuten Infektionssyndromen (PAIS) wie ME/CFS mehr Bewusstsein ein. Diese durch Corona stark angestiegenen Krankheiten dürften keinesfalls als „psychisch“ fehlgedeutet werden, sagte der Professor für Rehabilitation an der Icahn School of Medicine (Mount Sinai/New York) im APA-Interview. Im Umgang mit ME/CFS-Betroffenen sieht er einen der „größten Skandale des letzten Jahrhunderts in der Medizin“.

Wissenschafter und Wissenschafterinnen, die post-akute Infektionssyndrome wie Long Covid/Post Covid oder die Multisystemerkrankung ME/CFS untersuchen, müssten „ständig für die Tatsache eintreten, dass das, womit wir es zu tun haben, eine organische Krankheit ist“. Dies sei bedauerlich, sagte Putrino zu der auch in Teilen der Wissenschaft bzw. Ärzteschaft in Österreich nach wie vor bestehenden Diskussion, inwieweit derartige Syndrome überhaupt somatische (körperliche) Ursachen haben. Zuletzt hatten Patienten-Organisationen in Österreich, aber auch heimische Wissenschafter und Wissenschafterinnen davor gewarnt, post-akute Infektionssyndrome als psychische oder psychosomatische Erkrankungen fehlzudeuten.

„Viele Leute haben das gesagt – und ich stimme voll und ganz zu -, dass dies einer der größten Skandale des letzten Jahrhunderts in der Medizin ist: Die Art und Weise, wie Menschen mit ME/CFS, Long-Covid, chronischer Lyme-Borreliose und anderen post-akuten Infektionssyndromen behandelt wurden. Wir sind fest entschlossen, das zu ändern. Wir sind fest entschlossen, die Wissenschaft zu betreiben, die uns zu umsetzbaren Behandlungen und vielleicht sogar eines Tages zu Heilungen bringt“, sagte der Professor für Neurowissenschaft. Putrino ist auch im wissenschaftlichen Beirat der von der Wiener Bäckerei-Familie Ströck gegründeten WE&ME-Stiftung vertreten, die sich der Erforschung von ME/CFS verschrieben hat.

Neurowissenschafter David Putrino: „Wir wissen – übrigens ohne den geringsten Zweifel, die wissenschaftliche Arbeit dazu ist erledigt -, dass Menschen mit einem post-akuten Infektionssyndrom (wie etwa ME/CFS oder Long-Covid) körperliche Veränderungen haben, die messbar sind. Und das kann nicht durch eine psychosomatische oder psychische Erkrankung erklärt werden.“

„Die letzten 60 bis 70 Jahre, in denen versucht wurde, diese Krankheit mit psychologischem Management und Bewegung zu behandeln, sind kläglich gescheitert“, betonte Putrino. Es gebe „keine einzige“ peer-reviewte Studie, die zeigt, dass kognitive Verhaltenstherapie (KVT bzw. CBT) oder sogenannte abgestufte Bewegungstherapie (Graded exercise therapy/GET) „irgendeine Rolle“ bei der Heilung von Menschen mit ME/CFS oder Long-Covid spielen, „die nicht von seriösen Wissenschaftern völlig diskreditiert wurde“. Verhaltenstherapie und Bewegungstherapie seien nichtsdestotrotz Werkzeuge, nach denen gegriffen wird, „weil sie billig sind“ und somit „attraktiv für Regierungen“. Damit helfe man aber nicht: „Es ist eine so negative Situation, die schon seit Jahrzehnten andauert.“

Auch in den USA würden ME/CFS- oder Long-Covid-Betroffene weiterhin von „Medical Gaslighting“ betroffen sein (dem Absprechen bzw. Bagatellisieren ihrer Symptome) – seitens „medizinischen Fachkräften, die in der Fachliteratur nicht auf dem neuesten Stand sind“, so Putrino. Ärzte, die den Betroffenen eine psychosomatische oder psychologische Erkrankung attestieren, würden aber am „Rand“ stehen.

„Wir wissen – übrigens ohne den geringsten Zweifel, die wissenschaftliche Arbeit dazu ist erledigt -, dass Menschen mit einem post-akuten Infektionssyndrom (wie etwa ME/CFS oder Long-Covid) körperliche Veränderungen haben, die messbar sind. Und das kann nicht durch eine psychosomatische oder psychische Erkrankung erklärt werden“, so Putrino. ME/CFS ist seit 1969 seitens der Weltgesundheitsorganisation WHO beschrieben und auch anerkannt, wird aber bis heute nicht ausreichend verstanden und erforscht. Als Auslöser gelten in erster Linie bakterielle oder virale Infektionen. Auch Operationen oder u.a. Traumata werden von Patienten als mögliche Trigger genannt.

T-Zell-Erschöpfung

Putrino verwies darauf, dass man mittlerweile u.a. signifikante und klare Veränderungen der neuroendokrinen Funktion gemessen habe, „also Veränderungen des Testosteronspiegels, des Östrogenspiegels und des Cortisolspiegels“. „Das sind übrigens Veränderungen, die eigentlich das Gegenteil von denen sind, die im Laufe der Jahre mit Angstzuständen und Depressionen in Verbindung gebracht wurden“, betonte er. Man sehe auch Veränderungen in der Immunfunktion, „die darauf hindeuten, dass der Körper über einen längeren Zeitraum gegen etwas kämpft“. „Wir sehen also Dinge wie T-Zell-Erschöpfung und dass (…) andere Viren, die zuvor latent waren, wie z.B. Herpesviren, im Körper reaktiviert werden.“

Auch kognitive Veränderungen, Veränderungen des autonomen Nervensystems, „die messbar und objektivierbar sind“, wie posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS), seien feststellbar. Dies sei „keine psychosomatische Veränderung“. Es sei bedauerlich, dass das immer noch eine Frage ist, sagte er. „Die Wissenschaft ist gefestigt und kein seriöser Wissenschafter wird Ihnen sagen, dass es sich um psychische Krankheiten handelt.“

Auch plädiert der Experte dafür, die Patienten sowohl bei ihrer Behandlung als auch bei der Forschung stark einzubinden: „Ein wirklich gutes Beispiel dafür ist eines der Hauptsymptome sowohl von ME/CFS als auch von Long-Covid: Post-Exertional Malaise“, sprach Putrino die schwere Belastungs-Erholungsstörung PEM an, die laut Experten wie Kathryn Hoffmann von der MedUni Wien als Kardinalsyndrom von ME/CFS gilt. Seit Jahrzehnten würden „sogenannte ME/CFS- und Long-Covid-Forscher“ PEM „wegerklären oder missverstehen“, so Putrino. „Manchmal unterscheiden sie es nicht einmal von Müdigkeit, was ein großer Fehler und ein grundlegendes Missverständnis ist.“ Auch werde PEM allen möglichen psychologischen Problemen zugeordnet.

„Über das Psychologische hinausblicken“

Die Betroffenen selbst wüssten aber, dass PEM keine Müdigkeit ist. Viele seien früher Sportler gewesen oder auf Berge geklettert und würden die Forscher regelrecht „anschreien“, dass sie wissen, wie sich Müdigkeit anfühlt. Es brauche nur Forscher, „die sich das tatsächlich anhören, um die Einsicht zu gewinnen: Was wäre, wenn wir über das Psychologische hinausblicken?“ Man müsse tiefer blicken als bei Standard-Labordiagnosen, die der Hausarzt durchführt. „Und ich möchte es klarstellen: Jedes Mal, wenn ein Forscher das getan hat, hat er etwas gefunden“, verwies er etwa auf Arbeiten von Rob Wüst von der Universität Amsterdam, die zeigen, dass bei Personen mit PEM „abnormale, schädigende Proteine ​​in den Muskeln“ produziert werden.

Schaut man genau hin und folgt den Instinkten der Patienten, dann lerne die Forschung, so Putrino. Daher sei die Teilnahme an Patienten-organisierter Forschung oder Symposien wichtig, verwies er etwa auf eine von Betroffenen organisierte Online-Konferenz im Mai (Titel: „UniteToFight“), bei der er auch selbst als Redner teilnehmen wird und die für jeden frei zugänglich ist. Bei dieser laut den Initiatoren bisher größten internationalen Tagung (15./16. Mai, https://unitetofight2024.world) sind zahlreiche renommierte Experten versammelt. Neben Putrino sind u.a. die Immunologin Akiko Iwasaki von der Yale University (USA), der deutschen Stigmatisierungsforscher und Psychiater Georg Schomerus von der Universität Leipzig oder die ME/CFS-Spezialistin Carmen Scheibenbogen von der Berliner Chariete als Redner angekündigt.

Auch brauche es weltweit Aufklärungskampagnen wie jene in den 1980er-Jahren zu Aids, so Putrino: „Ich halte das für absolut entscheidend.“ Die meisten Menschen würden sich schlicht nicht bewusst sein, was mit Betroffenen von post-akuten Infektionssyndromen passiert. Man müsse „ein Licht darauf werfen, um zu zeigen, wie Menschen mit ME/CFS leben: Ohne medizinische Versorgung und mit einer völligen Verleugnung der Tatsache, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt“. Dies werde viele Menschen „auf der ganzen Welt wütend machen – und Wut führt zum Handeln“. Viele Menschen seien sich auch nicht bewusst, dass auch sie von Long-Covid (und der stärksten Ausprägung ME/CFS) betroffen sein könnten. Angesichts der Häufung der Fälle müsse man mittlerweile von einer Long-Covid-„Epidemie“ sprechen, meinte Putrino.

Eindeutig klar sei die Ursache für Long bzw. Post Covid, betonte Putrino, „nämlich eine SARS-COV-2-Infektion“. Daher plädiert er für Prävention: „Natürlich gibt es Impfungen, aber es gibt auch HEPA-Filter. Es gibt auch eine gute Belüftung in den Räumen.“ Auch könne man mit ultravioletten Lichtsystemen Viren vernichten. „Und natürlich gibt es Masken.“ Die Maßnahmen seien nicht teuer, betonte er: „Das Öffnen eines Fensters ist recht kostengünstig.“ Auch um mit UV-Lichtsystemen große Mengen an Quadratmetern abzudecken, wären „nur ein paar 1.000 US-Dollar“ nötig. Seine einzige Bitte an die politisch Verantwortlichen sei es, „der eigenen Forschung zu folgen“, wie er mit Blick auf die Daten der US-Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention) sagte: Deren Zahlen zufolge ist die Anzahl der Menschen mit Long-Covid in den USA zuletzt von 5,3 auf 6,8 Prozent gestiegen (Jänner 2024).

„Wir können uns wünschen, dass es nicht wahr ist“, sagte er zu den Ursachen – aber dies ändere nichts. „Alle wollen zurück zur Normalität. Das Problem ist, dass wir nicht die Zauberstäbe haben, um das zu erreichen.“ Es sei politisch einfach, schlicht so zu tun, als würde Prävention nicht funktionieren. Man müsse aber verstehen – „und wir haben dieses Verständnis aus der Forschung“ -, dass dieses Vorgehen „in zehn oder 15 Jahren zu katastrophalen Folgen führen wird“, warnte Putrino mit Blick auf die Langzeitschäden von wiederholten Infektionen. „Oder wir könnten tatsächlich die Ärmel hochkrempeln und versuchen, die Probleme direkt anzugehen. Und das ist es, was wir jetzt von der Politik brauchen.“

(APA/red.)

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