Führung verstehen: Kultur

Lesedauer beträgt 2 Minuten
Autor: Heinz K. Stahl

Führung verstehen. Eine Kolumne von ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl.

Nein, dieser Beitrag ist kein politischer. Er ist zum Vorbeugen gedacht. Denn zurzeit grassiert in der Politik das Virus der Leitkultur. Und es wäre verheerend, würde dieser Erreger auch auf all die tapferen Organisationen übergreifen, die tagtäglich ihre Kultur gegen sinnbefreite politische Interventionen immunisieren müssen. Der Begriff „Leitkultur“ ist ein weißer Schimmel, denn in einer Kultur ist das Leitende immer schon enthalten. Eine Kultur umfasst die Gesamtheit aller Selbstverständlichkeiten, die von der Mehrzahl der Mitglieder eines sozialen Systems geteilt werden. Diese Selbstverständlichkeiten entwickeln sich durch Nachahmung, Gewöhnung und Verinnerlichung. Ihr unschätzbarer Vorteil liegt darin, dass sie automatisch handlungsleitend wirken. Das spart Zeit und Energie. Und es lässt Freiräume für jene, die mit manchen Selbstverständlichkeiten nichts oder noch nichts anzufangen wissen.

Die Absicht der Politik, bestimmte Selbstverständlichkeiten zu verordnen und sie damit allgemein verbindlich zu machen, bedeutet nichts anderes, als die Kultur durch eine zweckrationale Ordnung zu ersetzen. Oder anders ausgedrückt: Das Regelwerk der Bürokratie verschlingt die Selbststeuerung der Kultur. Hätten doch die politischen Akteure ihre Bunker hie und da verlassen, um sich in unpolitischen Organisationen umzuhören, wie denn das so ist mit den Eingriffen in gewachsene Kulturen. Immer mehr Organisationen haben inzwischen gelernt, dass die alte Vorstellung, man brauche bloß auf die richtigen Knöpfe zu drücken, um die Kultur als Knetmasse wunschgemäß zu formen, so nicht funktionieren kann. Diese irrige Vorstellung drückt sich in dem Satz aus: „Jede Organisation hat eine Kultur.“ Dann wäre die Organisationskultur eine Stellgröße, mit der man das System „Organisation“ beliebig steuern kann.

Die sinnvollere Position lautet: „Jede Organisation ist eine Kultur.“ Ihre Gestaltbarkeit setzt das Verstehen der Organisation voraus. Jedes Mitglied hat eine ganz persönliche Vorstellung von „seiner“ Organisation. Die Pflegerin wird sie anders erfahren als der Arzt, der Sanitäter anders als die Stationsleiterin. Was sie eint, sind die Selbstverständlichkeiten, die sie teilen. Und diese Selbstverständlichkeiten entstehen nicht durch oktroyierte Grundsätze oder Leitbilder, sondern durch das „Lernen“ von jenen Personen in der Organisation, die Glaubwürdigkeit genießen. Das müssen nicht unbedingt Führungskräfte sein. Wichtig ist, dass diese Personen beobachtbar, nachahmenswert und in ihrem Handeln widerspruchsfrei sind.

Jede Kultur, und damit jede Organisation, findet sich innerhalb eines Spektrums wieder, das durch zwei Pole begrenzt ist: geschlossen = homogen, stabil, geordnet; und offen = vielfältig, wandelbar, fließend. In einer sehr geschlossenen Organisationskultur gilt der Grundsatz der Gleichschaltung. Entscheidungen werden ausschließlich von oben getroffen und nach unten durchgedrückt. Das Kollektiv hat Vorrang vor dem Individuum. In einer sehr offenen Organisationskultur wird Vielfalt gepflegt. Das Individuum zählt mehr als die uniforme Ganzheit der Organisation. Entscheidungen werden gemeinsam gesucht, wobei jedes Mitglied Einwände einbringen kann.

Natürlich hat alles seinen Preis. Eine offene Kultur ist zwar innovativ. Dieser Vorzug ist jedoch mit der Mühsal zu bezahlen, vieles zuzulassen, was man ansonsten einfach unterbunden hätte. In einer offenen Kultur wird gerne ad hoc, also aus dem Moment heraus, agiert. Dies verlangt hohe Toleranz gegenüber Irrtümern. Eine offene Kultur atmet zudem anregende Meinungsvielfalt. Dagegen ist jedoch ein hoher Aufwand für Koordination zu buchen.

Was bedeutet das nun für Organisationen, wenn Eingriffe von außen die störrische Kultur nicht einfach nach Belieben umzuformen vermögen? Sich vielleicht daran erinnern, dass Organisationen lernfähige soziale Systeme sind. Es ist ihnen durchaus möglich, neue Selbstverständlichkeiten zu „erlernen“ und sinnlos gewordene zu „entlernen“. Das braucht viel Zeit und Geduld zum Beobachten, Nachahmen, Ausprobieren, Wiederholen, Festigen, Weitergeben. Alles hohe Hürden, aber sonst wäre die Anpassung von Kultur ja ein Kinderspiel.

Autor:

ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl

Research Associate, Interdisziplinäres Institut für verhaltenswissen­schaftlich orientiertes Management, Wirtschaftsuniversität Wien
info@hks-research.at
www.hks-research.at

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