Mit Erscheinen der Ausgabe 3/2023 der QUALITAS ging an der a.ö. Krankenhaus St. Vinzenz Betriebs GmbH (KH Zams) das Projekt Gewaltschutzgruppe (GSG) in den Echtbetrieb. Nach zweijähriger Vorbereitungszeit durch das 23-köpfige, multidisziplinäre Team, das sich aus Gewaltschutzfachleuten im Kinder- und Erwachsenenbereich zusammensetzt, galt es, die Praxistauglichkeit der gemeinsam erarbeiteten Prozesse zu erproben. Parallel zur Schaffung einer reibungslosen Arbeitsweise wurde ein Schwerpunkt auf die Sensibilisierungsarbeit gelegt. Die anfänglichen Kickoffs zur Information der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren der Auftakt einer breit angelegten Schulungsreihe für über eintausend Bedienstete mit dem Ziel, Gewalt als gesamtgesellschaftliches Problem wahrzunehmen, gewaltbetroffene Menschen im beruflichen und privaten Alltag zu erkennen und Gewaltschutz im Sinne von professionell angelegten Strukturen in die Berufspraxis zu überführen. Während die Koordinatorin zu einer der ersten Forensic Nurses in Österreich ausgebildet wurde, fand zeitgleich eine einzigartige Kooperation mit den Bezirksstellen der Polizei und dem Österreichischen Roten Kreuz (ÖRK) ihren Anfang.
Erfolgreiche Kommunikation
Um alle umsetzbaren Anforderungen der Stakeholder berücksichtigen zu können, wurde in den einzelnen Stufen des Projektmanagements sowie der Ausarbeitung der Prozesse großer Wert auf eine multidisziplinäre Zusammenarbeit gelegt. Besonders bedeutsam waren die sehr frühen Kontakte zu Kollegenschaft und Entscheidungsträgern. Die Wichtigkeit einer vollkommen transparenten und nachvollziehbaren Vorgangsweise für alle Beteiligten war und ist Grundvoraussetzung für eine einheitliche Planung. Gleichzeitig ist sie aber auch Basis für die Akzeptanz und Umsetzung des Projektes, sowohl vonseiten der Trägerschaft, der Krankenhausführung und der in der Praxis ausführenden Kolleginnen und Kollegen. Als besonders hilfreich haben sich die nunmehr monatlich stattfindenden Teamsitzungen und Fallbesprechungen erwiesen. Dort geht es nicht nur um die Weiterentwicklung der Patientenversorgung, hier wird mit der Besprechung von Fällen auch wichtige Supervisionsarbeit geleistet. Es gilt, einen Spagat zu finden, um unaussprechliche Gräueltaten menschlich aufzuarbeiten und mit beruflichem Kalkül zu beleuchten.
Ein weiteres für die GSG-Arbeit gewichtiges Element ist neben den in den vorherigen drei Ausgaben der QUALITAS beschriebenen Strukturen die sehr gute Erreichbarkeit des Gewaltschutzteams.
Polizisten von vorne nach hinten: Obstlt. Christoph Patigler, BA, ChefInsp. Georg Plattner,
RevInsp.in Bianca Schmid.
Rettung von vorne nach hinten: Bezirksausbildungsreferent Martin Zangerl, Geschäftsführer Bezirksstelle Landeck Andreas Mayer.
Krankenhaus von vorne nach hinten:
Hausoberin Sr. Dr.in MMag.a Barbara Flad (links), GSG-Koordinatorin Barbara Stecher, BSc (rechts), Pflegedirektor Dominik Siegele, MSc MBA (Mitte), ärztlicher Direktor Prim. Univ.-Prof. Dr. Ewald Wöll (links), Qualitäts- und Risikomanager Elmar W. Zormann, MBA (rechts).
Meilenstein Schulungsarbeit
Begonnen wurde mit fünf Kickoffs zur ersten Information über die Arbeit der GSG und der Vorstellung des Teams. Es erfolgten Schwerpunktschulungen in den Ambulanzen in Form von regelmäßigen Mikroschulungen. In kurzen Einheiten von zehn bis fünfzehn Minuten, z.B. nach den Morgenbesprechungen der Ärztinnen und Ärzte, werden GSG-Inhalte schnell, regelmäßig und nachhaltig weitervermittelt. Die Erfahrung zeigt, dass diese Form der Schulung das Thema Gewaltschutz immer präsent bleiben lässt, ohne überladend zu wirken.
Der Ambulanzbereich mit der Akutversorgung Gewaltbetroffener stellt eine Schlüsselstelle dar. Hier sind das Erkennen und Ansprechen besonders wichtig. Die aufwendige forensische Dokumentation stellt eine große Herausforderung dar, gerade in der äußerst hoch frequentierten Wintersaison. Hier ist es wichtig, dass eine gute Struktur geschaffen wird, die dem Behandlungsteam viel Arbeit abnimmt. Dies ist mit den GSG-Boxen gelungen (QUALITAS 3/2023, S. 6). In den Schulungen werden die Kolleginnen und Kollegen im Umgang mit dem Inhalt der Boxen vertraut gemacht. Das Konzept der GSG-Boxen hat sich mittlerweile als bedeutender Erfolgsfaktor erwiesen.
Die zweite Säule des Schulungskonzepts sind Schulungen für bestimmte Bereiche. In Teamsitzungen werden in 30 bis 60 Minuten allgemeine Informationen und speziell auf die Teams zugeschnittene Informationen weitervermittelt. Z.B. Gesprächsführung im Team der Seelsorge oder die forensische Dokumentation im Team der Turnusärztinnen und -ärzte. Bei bis zu 150 neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pro Jahr werden GSG-Schulungsinhalte auch bei den Einführungstagen vermittelt.
Das Herz des Schulungskonzepts sind Ganztagesschulungen, die nach Beschluss der Kollegialen Führung verpflichtend für alle über eintausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Fortbildungskalender zu finden sind. Mehrere interne und externe Referentinnen und Referenten vermitteln sowohl die handwerklichen Fähigkeiten im Umgang mit Gewaltbetroffenen, wie die Abnahme von DNA-Proben oder die Anfertigung forensischer Fotos, als auch Erklärungen mit AHA-Faktor, z.B. warum es Gewaltbetroffenen so schwerfällt, sich aus Gewaltbeziehungen zu lösen, oder wie oft Schutzsuchende das Problem ansprechen, ohne gehört zu werden.
Neue Projekte bzw. Veränderungsprozesse benötigen entsprechende Führungsarbeit, damit sie zum Erfolg geführt werden. Der Pflegedirektor Dominik Siegele unterstützte das Projekt GSG von Beginn an und ermöglichte seinen 14 Bereichsleitungen eine eigene Ganztagesschulung. Bis Jahresende sollten rund 350 Kolleginnen und Kollegen aus Medizin, Pflege und Verwaltung in den Ganztagesschulungen befähigt werden, mit Opfern (häuslicher) Gewalt umgehen zu können.
Gewaltschutz ist Teamarbeit
Wird der Teambegriff außerhalb der Gesundheitseinrichtung mitgedacht, so wird schnell klar, dass das Krankenhaus eine sehr wichtige Teilrolle im Aufarbeitungs- und Präventionsprozess Gewaltbetroffener zu leisten hat, vergleichbar mit einem Puzzle, bei dem jeder Einzelne ein unverzichtbares Puzzleteil im Prozess des Opferschutzes spielt. Aus diesem Grund war der frühe Kontakt mit externen Stellen wichtig, um einerseits deren Anforderungen in den neuen Prozessen berücksichtigen zu können, aber auch um größer zu denken und gleichzeitig multidisziplinär enger zusammenzurücken. Gerade in der Vorbereitung des Schulungskonzeptes flossen so wichtige Informationen von allen Seiten ein. Besonders hervorzuheben ist hier die vorbehaltlose Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Gewaltschutzgruppen. Sie stellten uns vorbehaltlos Erfahrungen, Informationen, Konzepte und Unterlagen zur Verfügung.
„Für Gewaltbetroffene sind Gesundheitseinrichtungen oft die erste und einzige Anlaufstelle. Unser wichtiger Beitrag im Krankenhaus ist das selbstverständliche Ansprechen von Gewalt, eine sorgfältige, forensische Dokumentation und die individuelle und umfassende Beratung der gewaltbetroffenen Person“, so die Koordinatorin der GSG, Barbara Stecher.
Schulungskooperation mit Polizei und dem ÖRK
Durch die intensive extramurale Kooperation während des Projektes ist das KH Zams v.a. mit der Bezirkspolizeiinspektion und dem ÖRK des Bezirkes Landeck noch enger zusammengewachsen. Die Polizei des gesamten Bezirkes Landeck sollte im Umgang mit Betroffenen sowie Täterinnen und Tätern häuslicher Gewalt geschult werden. Ebenso bekam das ÖRK vom Bund den Auftrag, ihre Sanitäterinnen und Sanitäter im Umgang mit sog. vulnerablen Personengruppen zu schulen. „Es ist in Tirol, wenn nicht sogar in Österreich, einzigartig, dass die Polizei mit der Rettung und dem Krankenhaus gemeinsame Schulungen durchführt. Selbst unsere Ermittlungsarbeiten werden durch die forensische Dokumentation massiv unterstützt“, so Bezirkspolizeikommandat Christoph Patigler.
Im Zuge der Kooperation unterstützen die GSG-Koordinatorin und die Projektleitung des KH Zams diese Partner als Referenten in deren Fortbildungen. Das Ziel ist es, ein gegenseitiges Verständnis zu schaffen und offene Fragen und Anliegen zu klären. Dies wird als wesentliches Element in der Qualitätssicherung gesehen.
Somit wurden Schwerpunkte des Krankenhauses in der GSG-Arbeit und gemeinsam erarbeitete Vorgehensweisen bei 120 Polizistinnen und Polizisten sowie rund 130 Kolleginnen und Kollegen des ÖRK weitergegeben. Die Fortbildungen der zuletzt genannten Partner werden noch bis Juni 2024 andauern.
„Medial und politisch wird häusliche Gewalt regelmäßig aufgegriffen und als Wahlkampfthema verwendet, der Aufschrei nach einem Femizid ist jedes Mal groß. Präventionsmaßnahmen sind immer noch nicht ausreichend ausgebaut und auch der Opferschutz steht regelmäßig in der Kritik, unzureichend zu sein. Kliniken sind zwar verpflichtet, sogenannte Opferschutzgruppen zu führen, die Betroffenen im Krankenhaus helfen können, sie können aber nur mit dem arbeiten, was sie sehen und ihnen erzählt wird. Der Rettungsdienst, der vor Ort mehr sieht und erfährt, als Ambulanzpersonal es je kann, nimmt hier eine zentrale Rolle zur Übermittlung von Informationen einerseits und zum Aufbau von Vertrauen in das Gesundheitssystem bei den Betroffenen andererseits ein. Deshalb ist es wichtig, dass der Rettungsdienst sensibilisiert in eine Einsatzsituation geht und unklare Einsatzsituationen erkennen und abschätzen kann“, so Martin Zangerl, Bezirksausbildungsreferent ÖRK Landeck.
Die Schulungen wirken – die Identifikationsrate Betroffener nimmt zu
Am Ende der Fortbildungen resümierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft wie folgt: „Wie viele Patienten habe ich wohl schon übersehen oder gaben mir Hinweise, die ich überhört habe?“ oder „Ich kann mich an folgenden Fall erinnern, … da hatte ich ein ungutes Bauchgefühl, … aber ich habe nicht weitergefragt …“
Mit den bisherigen Fortbildungen und Sensibilisierungen konnten die Kolleginnen und Kollegen nun aber recht gut „abgeholt“ werden, wie die Zahlen zeigen. Seit Start der GSG in den Realbetrieb im Oktober 2023 bis Ende Februar 2024 konnten bereits 61 gewaltbetroffene Personen betreut werden. „Wenn sich die Zahlen so weiterentwickeln, werden wir heuer mit etwa 100 Betroffenen rechnen müssen – zwei Personen pro Woche!“, so Elmar Zormann.
Unter den identifizierten Personen konnte die GSG auch sechs Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Organisation unterstützen. „Als Eigentümer des Krankenhauses freuen wir uns, dass wir mit dem GSG-Projekt neben der Gesundheitsversorgung unsere vinzentinischen Grundsätze vollkommen erfüllen! Besonders beeindruckend für mich ist, dass in dieser kurzen Zeit bereits 61 Menschen geholfen werden konnte, die psychische und/oder physische Gewalt erlitten haben!“, so Sr. Barbara Flad, Hausoberin der Barmherzigen Schwestern in Zams.
Kritische Reflexion
Trotz der bisherigen Erfolge läuft noch nicht alles rund! Es geschehen noch immer Fehler im Betreuungsprozess der Betroffenen, das interne Marketing ist noch nicht abgeschlossen und die Codierungsmethode im LKF-System noch nicht ausdiskutiert.
Und das nächste Projekt steckt schon in den Startlöchern: Mit der GSG möchte das KH Zams die Betroffenen von (häuslicher) Gewalt abholen. Aber wie sieht es mit dem Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor aggressiven Patientinnen und Patienten oder Begleitpersonen aus? Hier wird das professionelle Deeskalationsmanagement eine bedeutende Rolle einnehmen.
Autorin und Autor:
Barbara Stecher, BsC
Koordination Gewaltschutzgruppe
DGKP Innere Medizin
a.ö. Krankenhaus St. Vinzenz Betriebs GmbH
barbara.stecher@krankenhaus-zams.at
Elmar W. Zormann, MBA
Projektleitung Gewaltschutzgruppe
Leitung Qualitäts- u. Risikomanagement
a.ö. Krankenhaus St. Vinzenz Betriebs GmbH
elmar.zormann@krankenhaus-zams.at