Demenz: Smarter Schweiß

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Autor: Martin Hehemann

In einem ambitionierten EU-Projekt arbeiten Wissenschafter aus neun Ländern an einem Durchbruch im Kampf gegen die Demenz. Geleitet wird das Vorhaben von Forschern aus Österreich.

Das Pensum hat es in sich: 30 Minuten Krafttraining, 30 Minuten Aerobic, Schulungen zu Ernährung und Gesundheit, Gedächtnistraining, Logikrätsel, Entspannungsübungen und andere Aktivitäten, die nicht zwangsläufig vergnügungssteuerpflichtig, aber der Gesundheit zuträglich sind. „Es ist wichtig, dass die Teilnehmer täglich und kontinuierlich aktiv sind“, so Elisabeth Stögmann, Leiterin der Demenzambulanz von AKH und MedUni Wien.
Das mitunter schweißtreibende Fitnessprogramm für Körper und Geist, das unter der Leitung von Stögmann entwickelt wurde, dient nicht nur der persönlichen Ertüchtigung der Damen und Herren, sondern einem höheren Zweck. Es ist Teil einer klinischen Pilotstudie für das EU-Forschungsprojekt LETHE, in dem Wissenschafter an einem Durchbruch im Kampf gegen die Demenz arbeiten. Das mit einem Fördervolumen von sechs Millionen Euro dotierte Vorhaben wird unter dem Dach des EU-Rahmenprogramms für Forschung und Innovation Horizon durchgeführt. Beteiligt sind Forscher aus 15 Organisationen und neun Ländern der Union. Gesteuert wird es von zwei Forschern aus Österreich: von der Wiener Demenzforscherin Stögmann und Sten Hanke, Wissenschafter am eHealth-Institut der FH Joanneum in Graz.

Kampf gegen die Dunkelheit. Ein EU-weites Forschungsprogramm zur Demenzprävention nutzt die Eigenschaften
von Wearables zur Dokumentation. Gesucht werden Zusammenhänge von Aktivität und Gehirnleistung.

Pilotstudie in vier Ländern

Die Forscher arbeiten an einem Modell zur Früherkennung des persönlichen Demenzrisikos von Patienten. Hierbei wollen sie 120.000 Datensätze aus bisherigen Studien und Erkenntnisse aus der klinischen Pilotstudie von Demenzforscherin Stögmann analysieren. Diese Pilotstudie wurde im Februar gestartet. Sie läuft zwei Jahre lang in vier Ländern – neben Österreich in Finnland, Italien und Schweden. An ihr nehmen insgesamt 80 Probanten und eine gleich große Testgruppe teil. Bei der Selektion der Probanten ging Studienleiterin Stögmann nach klar definierten Kriterien vor: Die Teilnehmer sind alle zwischen 50 und 70 Jahre alt und noch nicht an einer Demenz erkrankt. „Sie weisen höchstens geringfügige Beeinträchtigungen auf, haben aber ein gewisses Risikoprofil wie Übergewicht oder hohen Blutdruck.“

Das Besondere an der LETHE-Studie: Sie ist digital. Bei bisherigen Studien mussten die Probanten in regelmäßigen Abständen Klinik oder Arzt aufsuchen, damit Messwerte aufgenommen werden konnten. Bei LETHE ist das nicht mehr notwendig: Die Teilnehmer erhalten eine smarte Armbanduhr, die automatisch Werte wie Herzfrequenz oder Schrittfolge misst. Zudem werden sie von einem digitalen Coach auf einer App betreut, der sie bei der Umsetzung ihrer Aktivitäten begleitet und sie daran erinnert, diszipliniert täglich zusätzliche Daten einzugeben. Dazu gehören beispielsweise Blutdruckwerte oder Angaben darüber, wieviel und was sie gegessen haben und wieviel Alkohol oder Zigaretten sie konsumiert haben. Projektkoordinator Hanke: „Diese Daten haben natürlich eine ganz andere Qualität. Es ist ein Unterschied, ob ich einmal im Monat etwas erhebe oder jeden Tag.“

Die derart gewonnenen Informationen, die Experten sprechen von digitalen Biomarkern, werden mithilfe von künstlicher Intelligenz ausgewertet und analysiert. Das Ziel: Es soll ermittelt werden, ob und wie die diversen Maßnahmen – von Fitnessübungen bis zu Gedächtnistrainings – anschlagen und den Krankheitsverlauf mildern. Die Experten der FH Joanneum wollen zudem eine App entwickeln, die eine verlässliche Vorhersage über den Krankheitsverlauf liefern kann. „Die App soll dem Patienten eine klare Prognose geben: Verschlechtert sich dein Zustand oder bleibt er stabil?“, so Projektkoordinator Hanke vom eHealth-Institut der FH Joanneum. Für Robert Mischak, den Leiter des eHealth-Instituts, ist LETHE „ein echtes Leuchtturmprojekt“. An dem EU-Projekt arbeiten laut Mischak praktisch alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts mit. „Es umfasst sämtliche Anforderungen, die uns bei der Ausbildung wichtig sind. Dazu gehören technische, medizinische und rechtliche Anforderungen ebenso wie ethische und Aspekte der Public Health.“

Die Demenz ist ein Thema von großer Relevanz für die öffentliche Gesundheit. Bei ihr handelt es sich um eine chronisch fortschreitende Erkrankung des Gehirns. Gekennzeichnet ist sie durch Einbußen an kognitiven, emotionalen, aber auch sozialen Fähigkeiten. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu Beeinträchtigungen bei Denkvermögen, Gedächtnis, Orientierung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Urteilsvermögen und Motorik.

130.000 Demenzfälle in Österreich

Weltweit leiden 50 Millionen Menschen an Demenz. In Österreich sind es 130.000 Personen – vor allem ältere. Das Risiko, an Demenz zu erkranken, steigt laut Demenzexpertin Stögmann „im Alter deutlich an“. So ist ab dem 60. Lebensjahr ein Prozent der Bevölkerung betroffen. Mit 80 Jahren sind es schon 15 bis 20 Prozent. Aufgrund der demografischen Entwicklung mit dem steigenden Durchschnittsalter der Gesellschaft gehen Experten daher davon aus, dass sich der Anteil der Demenzpatienten an der Bevölkerung bis zum Jahr 2050 verdoppeln wird.

Die Ursachen für die Erkrankung sind nur bedingt erforscht, und sie gilt bislang als unheilbar. Neueste Studien, die in Skandinavien und in China durchgeführt wurden, zeigen aber, dass es möglich ist, über einen bewussten Lebensstil das Risiko einer Erkrankung zu verringern und den Verlauf zu verlang­samen. In anderen Worten: Wer gesünder lebt, lebt länger gesund. „Bis zu 40 Prozent der Demenzerkrankungen könnten durch die Vermeidung bestimmter Risikofaktoren verhindert werden“, so Demenzexpertin Stögmann.

Die Forschung hat insgesamt zwölf Risikofaktoren ausgemacht. Auf einige – wie der Zugang zu Bildung oder das Ausmaß der Umweltverschmutzung – haben die Patienten wenig Einfluss. Die übrigen Faktoren lesen sich allerdings wie das Who-is-Who der kleinen, aber gemeinen Sünden: Wer reichlich Nikotin und Alkohol konsumiert, sich wenig bewegt und sich schlecht ernährt, an Übergewicht und Bluthochdruck leidet und unter Dauerstress steht, erfüllt die Kriterien für einen Hochrisiko-Kandidaten. Die gute Nachricht: Die Betroffenen können das Risiko selbst senken. Dabei ist es laut Demenzforscherin Stögmann sehr wichtig, dass bereits bei den ersten Anzeichen einer Erkrankung gehandelt wird. „Je früher man etwas unternimmt, desto besser.“

Kleine Gewohnheiten – große Wirkung

„Unternehmen“ bedeutet vor allem das Verhalten ändern. Die Wissenschafter im LETHE-Projekt setzen dabei auf Erkenntnisse aus der Psychologie, die unter der Bezeichnung Tiny Habits bekannt sind. „Es geht darum, das Verhalten nachhaltig zu ändern“, so Projektkoordinator Hanke. „Das geht mit kleinen Veränderungen der Gewohnheiten, die auf lange Sicht große Wirkung zeigen.“ Ein Beispiel dafür: Der Probant wird vom digitalen Coach auf seiner App aufgefordert, 15 Minuten zu warten, bevor er beim Essen einen Nachschlag nimmt. Nach Ablauf der 15 Minuten stellt er dann meistens fest, dass er gar keinen Appetit mehr hat. „Am Anfang braucht man noch die Unterstützung durch den digitalen Coach. Aber nach einigen Monaten verfestigt sich die Verhaltensänderung“, erläutert Hanke.

Bis es soweit ist, werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von ihrem virtuellen Coach nach digitalen Leibeskräften bei Laune gehalten. Dieser setzt weniger auf Kasernenhof-Kommandos, sondern auf aufmunternde Botschaften wie diese, die bei der Umstellung der Gewohnheiten helfen sollen: „Eine bunte Mahlzeit ist oft gesund. Wie viele Farben sind heute auf deinem Teller?“ 

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