Ziele

Lesedauer beträgt 4 Minuten
Autor: Heinz K. Stahl

Ein Ziel ist ein positiv besetztes inneres Bild, das – anders als etwa die Erinnerung − auf ein zukünftiges Ergebnis gerichtet ist. Dieses Ergebnis wird durch bewusstes Handeln angestrebt, was mit persönlicher Anstrengung verbunden ist. Denn ein Ziel muss immer wieder aktiviert werden, und das kostet Energie. Wer sich hingegen in seinem Handeln auf den energiesparenden „Autopiloten“ verlässt, verzichtet auf Ziele. Stattdessen lösen bestimmte Signale oder unbewusste Motive ein erlerntes Verhalten aus.

Der Wert von Zielen liegt in ihrer Bindungskraft. Sobald wir uns etwas fest vorgenommen haben, sind unsere Sinne darauf ausgerichtet. Wir sehen, hören und fühlen Dinge, die mit unserem Ziel zu tun haben und die wir vorher gar nicht wahrgenommen haben. Die Bindung an ein Ziel ist umso stärker, je attraktiver wir den Zustand der Zielerreichung einschätzen und je freier wir uns fühlen, das Ziel selbst festlegen zu können. Die in den 1950er-Jahren von dem Management-Vordenker Peter Drucker vorgeschlagene Methode, Ziele zwischen Führungskraft und Mitarbeiter zu vereinbaren, kommt diesem Punkt zwar entgegen. Zweckmäßiger ist es jedoch, die Ziele mit den einzelnen Teams gemeinsam zu erarbeiten, weil auf diese Weise das Wir-Bewusstsein seine Hebelwirkung entfalten kann.

Das Thema Bindungswirkung ist damit noch nicht erschöpft. Es lohnt sich, noch weitere Merkmale von Zielen unter die Lupe zu nehmen. Das erste Merkmal lautet, ein Ziel muss konkret (lat. concretus = gegenständlich) sein. Diese Bedingung ist am besten zu erfüllen, wenn das Ziel (a) positiv formuliert ist, (b) einen Zustand beschreibt, der anschaulich ist, und (c) mit einem Zeitpunkt versehen ist. Vorsätze als Verneinungen, z.B. „Ich will mich in Zukunft nicht mehr so verzetteln“, entfalten keine Bindungskraft, weil die Gedanken ständig um das Negative kreisen. Ein Zielzustand ist anschaulich, wenn er sinnlich erfassbar und im Idealfall gemessen werden kann. Arbeitszufriedenheit ist z.B. viel zu abstrakt, sie muss erst in Beobachtbares wie Fehlzeiten oder Abwanderungsraten aufgeschlüsselt werden. Auf den Zeitbezug wird bei der Zielbildung oft vergessen. Die Anzahl weiblicher Führungskräfte um 20 Prozent zu erhöhen, ist eine wohlgemeinte Absicht, aber kein Ziel. Eine Absicht entfaltet keine Bindung, weil ich sie einfach in die Zukunft verschieben kann.

Ein Ziel muss, zweitens, ambitioniert (lat. ambitio = mit Ehrgeiz nach etwas streben) sein. Es darf weder als über- noch als unterfordernd empfunden werden. Beide Merkmale verursachen Stress: Die Überforderung durch das Auseinanderklaffen zwischen den Anforderungen und den eigenen Ressourcen, die Unterforderung durch ständigen Zweifel an den eigene Fähigkeiten. Zwischen ambitioniert und utopisch liegen jene Ziele, die wir als „Stretch Goals“ kennen. Diese Bezeichnung wird Jack Welch zugeschrieben, dem ehemaligen Gefahr ausstrahlenden („Neutronen-Jack“) CEO von General Electric. Seine Ziele waren oft so hochgespannt, dass sich niemand vorstellen konnte, wie sie zu erreichen wären. Solche „außerirdischen“ Ziele sind zwiespältig. Sie können zwar eine träge gewordene Truppe elektrisieren, zugleich aber Menschen in die Resignation treiben.

Ein Ziel muss, drittens, prominent (lat. prominere = herausragen) sein. Nur wenn es über die Alltagsroutine hinausragt, kann es seine Bindungskraft entfalten. In der Praxis wird dagegen oft in dreifacher Hinsicht verstoßen: Organisationen werden mit zu vielen Zielen ohne logischen Zusammenhang überfrachtet; Ziele werden als selbstredend eingeschätzt, die sich ohnedies aus dem betrieblichen Alltag ergeben („Darüber haben wir ja schon oft gesprochen…“); und Ziele werden quasi im Vorübergehen erteilt („Und übrigens, für das zweite Quartal erwarte ich…“). Ziele brauchen eine Inszenierung. Diese erinnert die Mitarbeiter an den psychologischen Vertrag, den sie mit dem Unternehmen stillschweigend eingegangen sind.

Dass Ziele, viertens, auch unterstützt werden sollen, erschließt sich aus den Bedingungen unserer Zeit. Wenn sich morgen die Welt schon wieder ganz anders darstellt, muss dem Mitarbeiter Hilfestellung auf dem Weg zur Zielerreichung angeboten, allerdings weder aufgedrängt noch verweigert werden. Große Ziele werde ich in Etappenziele aufteilen, um die Chancen des frühzeitigen Feedbacks und der Unterstützung zu wahren. Eine solche Zielbegleitung, bei der ich mit dem Mitarbeiter Zwischenergebnisse, geänderte Umstände und notwendige Unterstützung erörtern kann, führt zu einer höheren und robusteren Leistungsbereitschaft.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Weiterlesen

Vom Unmut zum Zorn

Streiks, Demonstrationen, Kündigungen: Nach Jahren des Jammerns wandert der Schmerzpegel des österreichischen Pflegepersonals in den Bereich des Unerträglichen. Das Ziel von 80.000 zusätzlichen Pflegekräften ist mittelfristig illusorisch. Daran ändern die jüngsten Reformversuche nichts. Es sind zu wenige. Und sie sind zu spät.

Weiterlesen

Umweltfolgenabschätzung als Teil von Health Technology Assessment

Wäre der Gesundheitssektor ein Land, so wäre es der fünftgrößte CO2-Emittent der Welt. Laut eines Berichts der NGO „Health Care without Harm“ machen die Länder der Europäischen Union mehr als die Hälfte des weltweiten Klima-Fußabdrucks des Gesundheitswesens aus. Der Gesundheitssektor trägt daher Verantwortung, die Umweltschäden zu minimieren, zumal diese umgekehrt enorme negative Folgen für die Gesundheit mit sich bringen. Health Technology Assessment ist prädestiniert, die Umweltfolgen von Gesundheitstechnologien als weiteren Baustein der Entscheidungsunterstützung darzustellen. Ein Konsens über geeignete Methoden fehlt jedoch noch.