Die verschleppte Reform

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Autor: Christian F. Freisleben

Nach jahrelangen Diskussionen wird der Maßnahmenvollzug neu definiert. Die Beliebigkeit einer theoretisch unbegrenzten Verwahrung psychisch kranker Straftäter soll neuen Regeln weichen. Mit Ende der Begutachtungsfrist kam der Reformprozess kurz vorm Ziel ins Stocken.

Ein Neubeginn lässt schon lange auf sich warten. „Eine gesetzliche Reform des Maßnahmenvollzuges ist unumgänglich“, fordert fordert Volksanwalt Werner Amon in einer APA-Aussendung. Und weiter: „Es muss genau kontrolliert werden, wer in den Maßnahmenvollzug gehört und wer nicht.“ Denn gedacht sei er für psychisch kranke Rechtsbrecher und nicht für Personen, die straffällig wurden und bei denen man „schlicht und ergreifend nicht weiß, wo man sie sonst unterbringen soll“. Bereits 2015 hat das Nachrichtenmagazin „profil“ getitelt: „Maßnahmenvollzug: Österreichs heimliches Guantanamo“.
Die Kritik richtet sich gegen einen speziellen Paragrafen des österreichischen Strafgesetzbuches. Im Zuge der großen Broda-Reform 1975 wurde „die Möglichkeit der Unterbringung im Maßnahmenvollzug“ eingeführt. Im Wesentlichen werden damit „vorbeugende, freiheitsentziehende Maßnahmen zur Unterbringung von Täterinnen und Tätern mit psychischer Erkrankung oder intellektueller Beeinträchtigung“ bezeichnet, „denen zum Zeitpunkt der Tat ….. die Zurechnungsfähigkeit gefehlt hat“. Im Gegensatz zur Strafhaft wird die Maßnahme zeitlich unbegrenzt ausgesprochen – ein drakonisches Instrument, das beliebig Anwendung findet: Mehr als die Hälfte der PatientInnen im Maßnahmenvollzug wird wegen minderschwerer Delikte wie gefährliche Drohung, (versuchter) Widerstand gegen die Staatsgewalt oder (versuchte) Nötigung eingewiesen, schreibt der Verein „VertretungsNetz“ auf seiner Homepage.

Fast 8.500 InsassInnen

Mit Guantanamo habe dies aber nichts zu tun, entgegnet Adelheid Kastner, medizinische Leiterin der Klinik für Psychiatrie mit Forensischem Schwerpunkt am Kepler Universitäts-Klinikum in Linz: „Das würde ja bedeuten, dort sei ein rechtsfreier Raum. Das kann man für Österreich mit Sicherheit nicht behaupten. Die Frage ist eher, ob die gesetzlichen Regelungen aus 1975 die aktuellen gesellschaftspolitischen Positionen noch abbilden“, kritisiert die Psychiaterin. Laut Statistik des Justizministeriums wurden in Österreich mit Stand 1. Juli 2021 8.474 Personen als InsassInnen im Maßnahmenvollzug gezählt – eine Verdopplung innerhalb der letzten zehn Jahren. 512 sind davon in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht. Bei 1.340 Häftlingen handelt es sich um geistig abnorme Rechtsbrecher sowie entwöhnungsbedürftige RechtsbrecherInnen, oft ohne zeitliche Limitierung. Adelheid Kastner beklagt, dass in der Debatte über den Maßnahmenvollzug zurechnungsunfähige (§ 21 Abs 1 Strafgesetzbuch) und zurechnungsfähige geistig abnorme Rechtsbrecher (§ 21 Abs 2) über einen Kamm geschert werden. Erstere könnten auch in psychia­trischen Abteilungen von Spitälern betreut werden, bei zweiteren „sollten die Eingangskriterien nachgeschärft werden, dann wären auch deutlich weniger in dieser Gruppe“, so Kastner.

Die ständige Kritik blieb nicht ungehört. Bereits 2015 wurde unter Rot-Schwarz ein erster Entwurf zu einer Reform des Maßnahmenvollzugs erarbeitet. In Begutachtung kam diese Version jedoch nie. Einige Regierungen später war es wieder so weit: Türkis-Grün nahm sich erneut des Themas an. Am 6. Juli endete der Begutachtungsentwurf. Seither wurde es wieder ruhig um die Reformabsichten. „Der aktuell vorliegende Ministerialentwurf ist zwar ein erster Schritt. Er ist aber in keiner Weise ausreichend“, betont Martin Marlovits, stellvertretender Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung beim Verein „VertretungsNetz“. Der Verein kritisiert das System des Maßnahmenvollzugs seit Jahren. Marlovits stellt die Frage, inwieweit die Behandlung von psychisch kranken Personen in (Sonder-) Justizanstalten gewährleistet werden kann. „Es muss nach Alternativen gesucht werden.“ Insbesondere dürfe die Möglichkeit der psychiatrischen Versorgung nach dem Unterbringungsgesetz nicht aus den Augen verloren werden. Eine vom Bundesministerium für Justiz eingesetzte Arbeitsgruppe lieferte schon im Jänner 2015 Vorschläge, wonach zurechnungsunfähige TäterInnen dem Gesundheits- und Sozialsystem der Länder zur Behandlung und Betreuung übergeben werden sollten. Denn der Prozentsatz jener Einsassen, die schwere Delikte gegen Leib und Leben oder Sexualdelikte begangen haben, ist vergleichsweise klein.

Erstarrt.
Im Sommer endete das Begutachtungsverfahren. Seither liegt die Novelle zum Maßnahmenvollzug auf Eis. Corona hat die Reform wieder vom Tisch gewischt.

Lust und Laune

Die Hauptkritik richtet sich gegen die Beliebigkeit, mit der theoretisch unbegrenzter Freiheitsentzug nach den geltenden Gesetzesbestimmungen angeordnet werden kann. „Es ist oft Zufall, ob jemand in den Maßnahmenvollzug kommt, ob er auf einer psychiatrischen Abteilung (kurzfristig) untergebracht wird oder ob er lediglich von der Polizei verwarnt wird“, kritisiert Marlovits. Auch die Rückfallquote von Personen, die aus dem Maßnahmenvollzug entlassen werden, sei vergleichsweise gering, wenn eine adäquate Therapie danach erfolgt. „Für das Argument, Personen im Maßnahmenvollzug seien etwa für das Personal in einer psychiatrischen Abteilung besonders gefährlich, fehlen die Grundlagen“, betont der Erwachsenenvertreter. Auf keinen Fall sei jedenfalls gerechtfertigt, Personen im Maßnahmenvollzug ohne zeitliche Limits wegzusperren.

Besonders kritisch sieht Marlovits die steigende Zahl von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, die im Maßnahmenvollzug untergebracht werden: Hier handelt es sich etwa um Personen mit demenzieller Erkrankung, die vorher in einem Pflegeheim oder einer Behinderteneinrichtung aggressiv geworden sind. „Diese Personen können in aller Regel nicht verstehen, warum sie nun plötzlich in einer Art Gefängnis sind.“ Dass Einrichtungen für ältere Personen oder Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen mit deren Betreuung überfordert sind, dürfe kein Grund sein für eine Überführung in den Maßnahmenvollzug.

Die Betreuungseinrichtungen platzen aus allen Nähten. Marlovits nennt die Sonderjustizanstalt Göllersdorf und das Forensische Zentrum Asten als Beispiele der Überforderung. Die Fachärztin für Psychiatrie, Adelheid Kastner, sieht dies ähnlich: „Die Mankos in der psychiatrischen Versorgung betreffen die begrenzte Zahl an Psychiatriebetten und die viel zu kurzen Aufenthaltsdauer von Menschen mit Schizophrenie.“ Sie nennt das Vorbild von Italien, wo es keine Großeinrichtungen im psychiatrischen Bereich gibt, sondern kleinstrukturierte, regionale Angebote, die personell gut ausgestattet sind.

Erste Schritte

Im aktuellen Entwurf zur Reform des Maßnahmenvollzugs ist diese Ausrichtung angedeutet. Aber ohne entsprechende Finanzierung bleibe „dies ein Lippenbekenntnis“, so Marlovits. Er beanstandet, dass es zu wenige GutachterInnen mit einer speziellen Ausbildung gibt, um die ‚Gefährlichkeit‘ einer Person entsprechend einzuschätzen. Im aktuellen Ministerialentwurf ist die Rede von Gutachtern mit Expertise in forensischer Kriminalprognostik. Davon gebe es in Österreich „höchstens eine Handvoll“. Die Zahl der Gutachten in Österreich, die zu Fehleinschätzungen führen, sei deutlich höher als in anderen Ländern. Positiv zu betrachten sei, dass Gerichte künftig dazu angehalten sind, alle alternativen Möglichkeiten auszuschöpfen, bevor eine Unterbringung im Maßnahmenvollzug erfolgt. Was weitgehend fehlt, sind Nachsorgeeinrichtungen. Marlovits: „Oft warten Betroffene nur deswegen jahrelang auf ihre Entlassung, weil es zu wenige Wohnplätze in sozialtherapeutischen Einrichtungen gibt.“    

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