Ein Plädoyer für den Ellbogen-Gruß

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Autor: Alexandra Keller

In Österreich erkrankt fast jeder 25. Spitalspatient an einem Krankenhauskeim. Eine Studie sieht die Nation im Kampf gegen nosokomiale Infektionen im guten Mittelfeld. Ojan Assadian, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, erklärt,
warum die Umsetzung von wirksamen Hygienemaßnahmen so mühsam ist.

Jährlich kommt es bei rund 95.000 Patienten österreichischer Krankenanstalten zu einer Infektion während des Spitalsaufenthaltes. Bis zu 5.000 Menschen sterben in dem Zeitraum an nosokomialen Infektionen, die durch sogenannte „Krankenhauskeime“ hervorgerufen werden. Therapieresistente Erreger verdüstern das Bild, das kein geringerer als Alexander Fleming, der Erfinder des ersten Antibiotikums, 1945 skizzierte. Im Rahmen der Verleihung des Medizin-Nobelpreises sagte Fleming: „Es wird die Zeit kommen, in der Penicillin von jedermann gekauft werden kann. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Unwissende das Penicillin in zu niedrigen Dosen verwendet. Indem er die Mikroben nun nicht tödlichen Dosen aussetzt, macht er sie resistent.“

Infektiosität am Prüfstand

Der Bericht „Health at a Glance: Europa“ stellt die Gesundheitssysteme der EU- und OECD-Staaten jährlich auf den Prüfstand. Der in Zusammenarbeit von Europäischer Kommission, OECD und der Europäischen Beobachtungsstelle für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik erstellte Report analysiert die nationalen Gesundheitssysteme und liefert Vergleiche. Die Ausgabe im Pandemiejahr 2020 zeigt, dass sich Flemings Prophezeiung bewahrheitet hat. Das Kapitel „Health Care-Associated Infec­tions“ (Seite 198 f) lässt keinen Zweifel, dass Hygienemaßnahmen in Europas Gesundheitssystemen nur geringe Priorität genießen. Laut Bericht reicht der Anteil der nosokomialen Infektionen (Nosokomeion steht im Altgriechischen für ‚Krankenhaus‘) am gesamten Infektionsgeschehen Europas von 3 % Prävalenz (Litauen) bis zu 10 % (Griechenland). Österreich liegt mit 4,2 % im vorderen Mittelfeld. Es bedeutet aber immer noch, dass sich fast jeder 25. Patient eines österreichischen Krankenhauses einen Infekt holt.

Interessant sind die Prävalenzen bezüglich der durch antibiotikaresistente Keime verursachten Infektionen. In Estland sind 13 Prozent der Krankenhausinfektionen auf antibiotikaresistente Keime zurückzuführen, in Zypern 51 Prozent und in Österreich verhältnismäßig geringe 12 Prozent. Erschreckend ist die Mortalität. Laut „Health at a Glance 2020“ sterben in der EU, Island, Norwegen und Großbritannien zusammengezählt jedes Jahr 90.000 Patienten an den sechs häufigsten Varianten von Spitalsinfektionen. Eine weitere gesundheitspolitische Zahl aus dem Bericht: Jede Infektion mit einem resistenten Keim verursacht Mehrkosten zwischen 8.500 und 34.000 Euro.

Das wirklich Schlimme an den Zahlen: Die hohe Sterblichkeit ist unnötig. Allein durch verbesserte Händedesinfektion könnte die Zahl der nosokomialen Infektionen um 40 Prozent gesenkt werden. Die Österreichische Gesellschaft für Krankenhaushygiene (ÖGKH) kämpft einen steten Kampf gegen Waschmuffel und Handeschüttler – seit der Pandemie immerhin deutlich erfolgreicher. Um das Blatt endgültig zu wenden, fordert die ÖGKH verbindliche und bundesweit einheitliche Hygienestandards, eine Stärkung der Rolle des Hygienepersonals und eine starke Einbindung der Patientenschaft.

Windmühlen.
Ojan Assadian, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, kämpft für strikte Regeln in der Krankenhaushygiene. Nicht immer zeigt sich das Personal von den Vorgaben begeistert.

Der Präsident im Interview

Ojan Assadian ist als Präsident des ÖGKH erster Lobbyist für gewaschene Hände. Er erzählt im Interview von den Windflügeln, gegen die er und seine Berufskolleginnen immer wieder anrennen. Assadian ist Professor und Facharzt für Hygiene und Mikrobiologie und seit Ende 2020 auch Ärztlicher Direktor des Landesklinikums Wiener Neustadt.

ÖKZ: Für einen Präsident der ÖGKH zählt der Kampf für optimierte Hygienemaßnahmen in Krankenanstalten zum täglichen Brot. Woran krankt es?

Ojan Assadian: Eines der ganz besonders wichtigen Anliegen der ÖGKH ist eine Verbesserung des Ausbildungsniveaus sowie der Arbeitsbedingungen von Hygienefachkräften in Österreich. Selbstverständlich erreicht man damit letztlich auch die Umsetzung wissenschaftlich fundierter und optimal implementierter Hygienemaßnahmen in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Das trägt letztlich zur Steigerung der Patientensicherheit bei.

Was sind dabei die größten Schwierigkeiten?

In den vergangenen Jahren waren wir mit zwei wesentlichen Hürden konfrontiert. Zum einen stehen wir seit 2015 noch immer ohne eine vom Gesundheitsministerium erlassene Ausbildungsverordnung für die Spezialisierungen gemäß Paragraf 70 des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes da. Hier sind wir aber in guter Kommunikation mit dem Ministerium und hoffen auf eine nahe Lösung, die eine gehobene Ausbildung für Hygienefachkräfte auf Masterniveau ermöglichen soll. Die falsche Wahrnehmung der Hygiene im Rahmen der Gesundheitsfinanzierung ist die zweite Hürde und die ist wesentlich schwieriger zu meistern. Nach wie vor zählt nur, was Leistungen zur Beseitigung bestehender Erkrankungen erbringt. Die Leistungserbringung der Prävention kann nach wie vor nur schwierig dargestellt werden, obwohl die Kosten, die damit verbunden sind, exakt in Euro beziffert werden können. Die Wahrnehmung der Hygiene im Kontext der medizinischen Leistungserbringung ist aus unserer Sicht deutlich verbesserungswürdig. Die aktuelle Corona-Pandemie hat eine Wende gebracht. Die Frage ist nur, wie nachhaltig dieser Effekt sein wird.

Hat die Pandemie das Bewusstsein für Hygiene in den Krankenanstalten geschärft?

Ja, auf jeden Fall. Obwohl seit Jahren von Experten und Behörden eine adäquate personelle Ausstattung mit Hygienefachkräften gefordert wurde, haben viele Einrichtungen – nicht im bösen Sinn – versucht, diese Personalressourcen möglichst am unteren Limit vorzuhalten. Über Nacht ist man darauf gekommen, dass man dringendst Hygienefachkräfte zur Beantwortung vieler Entscheidungen und zur Umsetzung von konkreten Hygienemaßnahmen inklusive Planung und Umsetzung von Desinfektionsmaßnahmen benötig. Indirekt hat man dabei auch den Wert dieser Expertise zur Vermeidung anderer Infektionen erkannt. Wie sehr dies jedoch ein Thema sein wird, kann objektiv erst ein bis zwei Jahre nach der aktuellen Pandemie beurteilt werden.

Lassen Sie uns träumen: Wenn medizinische Einrichtungen, wie von Ihnen gefordert, Hygienemaßnahmen am Stande der Wissenschaft umsetzen würden – welchen Effekt hätte dies auf die sogenannten Krankenhauskeime?

Wir hätten – konservativ gerechnet – circa ein Drittel weniger Komplikationen durch Infektionen. Wenn wir davon ausgehen, dass vor Corona rund fünf Prozent aller stationär aufgenommenen Patienten eine bis mehrere nosokomiale Infektionen im Verlauf ihrer Diagnostik oder Therapie akquiriert haben, kann man ausrechnen, wie viele Patienten weniger betroffen wären, wenn wir von diesen fünf Prozent ein Drittel weniger Fälle hätten. Bedauerlicherweise ist das unmittelbare, direkte und patientenbezogene Ergebnis nicht direkt der Leistung zuordenbar. Man kann nichts messen, was eben durch Prävention nicht eingetreten ist. Wir haben hier nach wie vor das Problem, dass man auch sagen könnte, dass bei einem Patienten auch ohne Präventionsmaßnahme keine Infektion entstanden ist.

Sie sind seit Ende 2020 neuer Ärztlicher Direktor im Landesklinikum Wiener Neustadt. Welche neuen Hygienemaßnahmen haben Sie in Ihrem Haus getroffen?

Bedauerlicherweise hat sich mein Fokus umstandsbedingt extrem stark auf die Kontrolle der Corona-Pandemie beschränkt. Hier von großen Leistungen oder Implementierung von Innovationen zu sprechen, wäre überzeichnet. Ich bin in der glücklichen Lage, in meinem Haus ein sehr starkes und fachlich exzellentes Hygieneteam zu haben. Angesichts der dramatischen Herausforderungen war es aus meiner Sicht die stärkste Leistung, das bereits vor der Pandemie hohe Niveau der Hygiene in Wiener Neustadt aufrechtzuerhalten und nicht der Verlockung zu folgen, wichtige Maßnahmen zur Prävention postoperativer Infektionen, Katheterinfektionen oder anderer device-assoziierter Infektionen aufzuweichen oder aufzugeben.

Laien kämpfen mit der Angst, dass die Medizin irgendwann keine wirksamen Antibiotika mehr zur Verfügung hat. Wie viele Erkrankungen aufgrund resistenter Krankenhauskeime gibt es?

Dieses Bild ist für den Laien sehr plakativ, entspricht infektiologisch aber nicht der Tatsache. In der Tat stehen zahlreiche Antibiotika für die Behandlung von bakteriellen Infektionen zur Verfügung. Auch gegen Infektionen, die durch multiresistente Bakterien verursacht werden. Neue Antibiotika in Händen von Experten ergänzen zusätzlich unsere Möglichkeiten. Das Problem lässt sich vielleicht anders gut in Zahlen darstellen. Noch in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren konnte man aufgrund der damaligen Resistenzsituation davon ausgehen, dass bei Vorliegen eines Harnwegsinfektes fast jedes Antibiotikum ohne genaue Untersuchung des Resistenzverhaltens klinisch nach fünf bis sieben Tagen gute Ergebnisse und eine vollständige Heilung bringen wird. Heute werden Sie bei sechs von zehn Harnwegsinfektionen ein Therapieversagen sehen, falls ein Antibiotikum ohne vorherige Erregerdiagnostik und Erstellung eines sogenannten Antibiograms verschrieben wird.   

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