Nachbarschaftliche Verhältnisse

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Autor: Heinz Brock

Das deutsche und das österreichische Gesundheitssystem haben gemeinsame Wurzeln in den „obligatorischen“ Bismarckschen Versicherungsreformen. Mit den Systemen ist es wie mit der Sprache: Sie sind verschieden.

„Aber wir Österreicher unterscheiden uns doch von den Deutschen durch so mancherlei, besonders durch die gleiche Sprache.“ Dieses Zitat von Karl Farkas könnte noch ergänzt werden durch „…und das gleiche Gesundheitssystem.“ Tatsächlich haben beide Gesundheitssysteme ihre historischen Wurzeln in der von Bismarck 1883 in Deutschland eingeführten Gesetzlichen Krankenversicherung, die paritätisch von Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert wird. Die Gesetzlichen Krankenversicherungen sind sowohl in Österreich als auch in Deutschland Selbstverwaltungskörperschaften des öffentlichen Rechts und agieren im gesetzlich vorgegebenen Rahmen organisatorisch und finanziell selbstständig. Bei dem identischen Ziel einer solidarisch finanzierten umfassenden Gesundheitsversorgung aller Bürgerinnen und Bürger gehen die beiden Länder allerdings durchaus unterschiedliche Wege.

Das österreichische Gesundheitswesen hat eine Bevölkerung von 8,7 Millionen zu versorgen, während das deutsche mit 83 Millionen eine zehnfach größere Population bedient. Nach internationalen Maßstäben bieten die beiden Nachbarländer ihrer Bevölkerung jeweils ein umfangreiches und frei zugängliches Angebot an Gesundheitsleistungen in Krankenhäusern, in selbstständigen ärztlichen und nicht-ärztlichen Ordinationen sowie in der Langzeitpflege und Rehabilitation. Dies jedoch zu einem hohen Preis. In Prozent des Brutto­inlandsprodukts gemessen, geben Deutschland (etwas über 11 %) und Österreich (etwas über 10 %) im internationalen Vergleich jeweils sehr viel Geld für die Gesundheitsversorgung aus.

Versicherungssysteme und Finanzierung

Der bedeutendste Unterschied zwischen den Sozialversicherungssystemen ergibt sich aus der Versicherungspflicht in Deutschland und der Pflichtversicherung in Österreich.

In Deutschland hat sich ein duales System von gesetzlichen (GKV) und substitutiven privaten (PKV) Krankenversicherungen etabliert. Die über 100 GKVs sind regional oder nach Berufssparten gegliedert. Rund 90 Prozent der deutschen Bevölkerung sind durch die Versicherungspflicht in einer GKV versichert. Bei der Wahl der Versicherung sind die deutschen Bürgerinnen und Bürger – zumeist – frei. Die Leistungen, auf die Versicherte im Krankheitsfall Anspruch haben, sind in einem Leistungskatalog festgelegt. Untersuchungen und Therapien, die nicht in diesem Katalog enthalten sind, werden von den Ärzten privat abgerechnet. Um die Chancengleichheit im Kassenwettbewerb zu wahren, wird ein Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen durchgeführt. Personen, deren Jahreseinkommen die Versicherungspflichtgrenze überschreitet, können zwischen einer freiwilligen Mitgliedschaft in der GKV oder einem Wechsel in eine PKV entscheiden. Art und Umfang der Leistungen einer PKV werden zwischen den Parteien ausgehandelt, die Tarife werden risikoäquivalent erhoben. PVK sind gesetzlich verpflichtet, auch einen Basistarif anzubieten, der in Art, Höhe und Umfang dem der GKV vergleichbar ist. Gleichwohl birgt das duale System die Gefahr, das Solidaritätsprinzip in der Gesundheitsversorgung zu schwächen.

In Österreich ist nahezu die gesamte Wohnbevölkerung entsprechend der berufsständischen Zugehörigkeit bei einem bestimmten Träger pflichtversichert. Ein Kassenwettbewerb ist damit ausgeschlossen. Träger sind die Österreichische Gesundheitskasse (die aus den neun Gebietskrankenkassen hervorgegangen ist), die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahn und Bergbau und die Sozialversicherungsanstalt für Selbständige. Private Krankenversicherungen sind in Österreich freiwillige Zusatzversicherungen und decken je nach Vertrag Leistungen außerhalb des Umfanges der gesetzlichen Pflichtversicherung sowie Leistungen von Anbietern ohne Vertrag mit der Pflichtversicherung ab. Es besteht die Sorge, dass mit der wachsenden Zahl von vertragslosen Ärztinnen und Ärzten (Wahlärzte) soziale und regionale Ungleichheiten im Zugang zur Gesundheitsversorgung sich verstärken könnten.
Die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitsbereichs in Österreich erfolgt zu etwa 60 Prozent durch die einkommensbezogenen Sozialversicherungsbeiträge und zu etwa 40 Prozent durch Steuermittel von Bund, Ländern und Gemeinden. Die Kosten für stationäre und ambulante Versorgungsleistungen von (öffentlichen) Krankenhäusern werden aus Steuermitteln und Sozialversicherungsbeiträgen gemeinsam über die Gesundheitsfonds getragen, die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit Kassenvertrag werden zu 100 Prozent von den Pflichtversicherungen bezahlt. Mehr als 75 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben der Österreicherinnen und Österreicher werden durch öffentliche Mittel (Steuern und Sozialversicherungsbeiträge) bestritten, etwa 18 Prozent werden direkt „out-of-pocket“ bezahlt, während die Privatversicherungen nur eine nachrangige Rolle spielen. Vergleichbare Zahlen für Deutschland sind 73,5 Prozent öffentliche Mittel und 12,5 Prozent „out-of-pocket“. Damit werden österreichische Haushalte im Vergleich zum Durchschnitt aller EU-Länder überdurchschnittlich, deutsche Haushalte unterdurchschnittlich mit privaten Zuzahlungen zur Gesundheitsversorgung belastet.

Ohne Nachschub.
Die Pflege ist in den beiden Nachbarländern zum Mangelberuf geworden. Polen und Slowakei können die Ausbildungslücken Deutschlands und Österreichs nicht länger füllen.

Humanressourcen

Österreich und Deutschland haben im internationalen Vergleich eine hohe Ärztedichte, sind jedoch gleichermaßen mit dem Phänomen eines Ärztemangels und insbesondere eines Pflegemangels konfrontiert. Die Mangelsituationen sind mit den statistischen Zahlen der gesamten personellen Ressourcen nicht erklärbar, die für eine ausreichende, wenn nicht sogar eine luxuriöse Personalausstattung sprechen. Die Gründe für den Personalmangel sind vielfältig, haben aber immer mit ungleicher Verteilung der Ressourcen zu tun. In Deutschland ist die Attraktivität einzelner Bundesländer für Ärztinnen und Ärzte höchst unterschiedlich, was sich an den Zahlen der ärztlich Tätigen ablesen lässt. In Deutschland und Österreich gleichermaßen problematisch ist die Landflucht der Medizinerinnen und Mediziner. In beiden Ländern kämpfen rurale Regionen zunehmend mit einer medizinischen Unterversorgung. Mit dem Rückgang des Anteils der Allgemeinmediziner in beiden Ländern entstehen sowohl Unterversorgung in der Primärversorgung als auch Überversorgung durch Inanspruchnahme spezialisierter Versorgungseinrichtungen. Die Sicherung ausreichender Personalressourcen stellt wohl für beide Gesundheitssysteme die größte Herausforderung in nächster Zukunft dar.

Intramuraler Versorgungsbereich

Die Spitalslastigkeit wird sowohl dem deutschen als auch dem österreichischen Gesundheitswesen als negatives Kriterium angelastet. Wobei: Diese ist in Österreich deutlich stärker ausgeprägt. 39 Prozent der gesamten österreichischen Gesundheitsausgaben werden für den intramuralen Sektor aufgewendet, in Deutschland sind dies etwa 28 Prozent. Deutschland und Österreich sind in der EU mit Abstand die Spitzenreiter bezüglich der Bereitstellung von Betten in Akutkrankenhäusern. In Deutschland ist im Gegensatz zu Österreich in den letzten drei Jahrzehnten die Zahl der Krankenhäuser in öffentlichem Eigentum um die Hälfte zurückgegangen und im Gegenzug hat sich die Zahl der privaten Krankenhäuser verdoppelt. Der Großteil der privaten Krankenhäuser hat jedoch auch Verträge mit den gesetzlichen Krankenversicherern. In einem dualen Finanzierungsmodus tragen die Länder die Investitionskosten für Krankenhäuser aus Steuergeldern. Durch kontinuierliche Kürzungen dieser Investitionsmittel hat sich über die letzten Jahrzehnte in Deutschland ein Investitionsstau aufgebaut, der nach seriösen Schätzungen das Doppelte des derzeitigen Investitionsvolumens beträgt.

Leistungen von öffentlichen Spitälern werden in Deutschland und Österreich nach Fallpauschalen-Systemen (DRG) vergütet. Durch die länderspezifischen Entwicklungen lassen sich das deutsche DRG und das österreichische LKF-System (steht für leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung) jedoch kaum vergleichen. Prinzipiell sollen Fallpauschalsysteme einen aufwandgerechten Kostenersatz ermöglichen und ökonomisches Denken der Krankenhausführung fördern. Als unerwünschte Nebenwirkung zeigt sich durch diese Vergütungslogik aber der Anreiz zur Selektion von wirtschaftlich vorteilhaften Leistungen bzw. die Aversion gegen risikobehaftete Fälle, wie Trauma- oder Intensivpatienten. Diese in Deutschland merklich ausgeprägte Tendenz wurde in mehreren österreichischen Bundesländern durch eine retrospektive Betriebsabgangsdeckung reduziert. Mit der österreichischen Lösung der Betriebsabgangsdeckung werden Anreize zur Fallselektion minimiert und das Risiko eines Konkurses für Krankenhäuser praktisch eliminiert. Andererseits sind damit auch die Steuerungswirkungen eines DRG-Systems abgeschwächt. Sonderfinanzierungen für Universitätskliniken bestehen in beiden Ländern.

Extramuraler Versorgungsbereich

Zentrale Anlaufstelle für medizinische Versorgung ist in beiden Gesundheitssystemen der niedergelassene Allgemeinmediziner, ohne allerdings eine formelle Gatekeeper-Funktion zu erfüllen. Die garantierte Wahlfreiheit unter allen Gesundheitsdienstleistern mit Kassenvertrag ist ein weiteres, von der Bevölkerung hochgeschätztes, gemeinsames Charakteristikum beider Systeme. Nahezu sämtliche Vertragsleistungen in diesen Systemen sind durch die Sozialversicherungen abgedeckt. Selbstbehalte und Zuzahlungen existieren, sind aber von untergeordneter Bedeutung. Da dieser niederschwellige Zugang zu medizinischen Leistungen, auch aus Gründen einer fehlenden Koordinationsfunktion, starke Tendenzen zur Überversorgung zur Folge hat, wurden in beiden Ländern Angebote im extramuralen Bereich entwickelt, welche eine organisatorisch festgelegte Kooperation unterschiedlicher Dienstleister zum Ziel hat. In Deutschland wurden Gruppenpraxen und interdisziplinäre Medizinische Versorgungszentren schon gefördert und umgesetzt, als in Österreich lediglich darüber diskutiert werden durfte. Während in Österreich in der jüngeren Vergangenheit noch Gruppenpraxen attraktiver gemacht wurden und erste interdisziplinäre Primärversorgungszentren den Betrieb aufnahmen, führte Deutschland bereits Disease Management Programme auf freiwilliger Basis ein, um Allgemeinmediziner und Spezialisten besser zu vernetzen und chronisch kranke Patienten enger im System führen zu können.

Steuerung

Entscheidungen und Reformen sind sowohl im deutschen wie auch im österreichischen Gesundheitssystem schwierig herbeizuführen, da Verantwortlichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen verteilt sind und den Konsens verschiedener Akteure erfordern. In beiden Ländern obliegt die Rahmengesetzgebung den bundesstaatlichen Gremien, die Krankenhausplanung liegt in der Hand der Bundesländer. Die Finanzierung der Spitalsleistungen erfolgt in Österreich über die Landesgesundheitsfonds, in welche Steuern und Sozialversicherungsbeiträge einfließen, in Deutschland über einen zentralen Gesundheitsfonds der Sozialversicherungen, welche anschließend über den Risikostrukturausgleich an die Krankenkassen zurückverteilt werden. Das deutsche Gesundheitssystem wird also trotz (oder wegen?) seiner zehnfach größeren Versorgungspopulation zentralistischer gesteuert als das österreichische.

Die Regierungen beider Länder sind laufend bemüht, der Fragmentierung und Intransparenz ihrer komplexen Gesundheitssysteme durch Gesetzesreformen Herr zu werden.
Das übergeordnete Ziel eines Gesundheitssystem ist es, den bestmöglichen Gesundheitszustand der versorgten Bevölkerung zu erreichen. Dieses Ziel erreichen Deutschland und Österreich in nahezu gleichem Ausmaß. In Anbetracht des sehr hohen Ressourceneinsatzes in beiden Ländern scheint die Effizienz doch noch optimierbar.    

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