Mythos Pflegekräftemangel

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Autor: Ernest G. Pichlbauer

Folgt man den Zahlen des Pflegeregisters, dann verfügt Österreich über mehr als genug ausgebildetes Pflegepersonal. Und trotzdem weisen viele Arbeitgeber einen Mangel an Pflegekräften aus. Ob es daran liegt, dass der Job so anstrengend ist, dass man ihn nur Teilzeit durchhält?

Seit Langem hören wir, es gäbe zu wenig Pflegekräfte und es werde immer schwerer solche zu finden. Ebenso lange wurde mit einer OECD-Statistik argumentiert, in der wir nur acht „Practising Nurses“ auf 1.000 Einwohner haben, und damit unter dem EU-Schnitt lägen; ebenso lange wurde die Fuß­note dieser Statistik ignoriert: Dort stand, dass Österreich nur die Spitalskräfte meldet. Wie viele eigentlich in der Pflege arbeiten, schien niemanden zu interessieren.

Nach zwei Jahrzehnten Diskussion hat sich die Politik durchringen können, auch bei uns ein Pflegeregister einzurichten. Ende 2020 erschien der erste Bericht, und das Ergebnis passte so gar nicht zum „Pflegenotstand“. 2019 waren demnach 140.000 Pflegekräfte (Diplomierte Pflege, Pflegefachassistenz und Pflegeassistenz) angestellt. Verglichen mit der EU (8,4) schwammen wir mit 15,9 pro 1.000 Einwohner geradezu in Pflegekräften. Doch das interessierte niemanden, das Narrativ war wichtiger. Weiter wurde MEHR gefordert, denn, man fände ja keine Pflegekräfte. Umso überraschender waren die Werte für 2020: ein Plus von 3.000, und das, obwohl von einem Abwandern der Pflegekräfte geredet wurde.

Spannend in dem Zusammenhang sind auch die neuesten OECD-Zahlen. Würden wir alle ausgebildeten Kräfte des Pflegeregisters melden, müssten es auf 1.000 Einwohner die genannten 15,9 sein; doch, dem ist nicht so. Denn bei uns gelten jetzt nur mehr Diplomierte als „Practising Nurses“. Warum Pflege­assistenten aus der Berechnung rausgeflogen sind, ist schwer nachvollziehbar. Mit 1.600 Ausbildungsstunden im Rahmen eines geregelten Curriculums zählt man kaum zu „angelernten“ Kräften. Doch damit bleibt die Zahl niedrig; bei 10,4. Wir haben zwar immer noch deutlich mehr Pflegekräfte als der EU-Schnitt, aber zur Spitze ist es noch weit – MEHR geht also immer noch.

Unser Pflegesystem setzt viel zu lange auf informelle Pflege. Pflege wird so zur Siechen-Versorgung, die aber mit moderner Pflege nichts zu tun hat. So etwas hält man nur geringer dosiert durch – also Teilzeit.

Wenn wir aber davon ausgehen, dass nur ein herbeigeredeter Pflegekräftemangel besteht, widerspricht das den Erfahrungen vieler Arbeitgeber.

Also wo sind diese ausgebildeten Kräfte?

Zieht man die wenigen Studien zu Rate (etwa Wifo und AK), ergibt sich folgendes Bild:
In Spitälern und Rehazentren arbeiten 70.000, 30 % davon Teilzeit; in Pflegeheimen 31.000, 40 % Teilzeit; und bei den mobilen Diensten 11.000, satte 85 % Teilzeit. Zusammen ergibt das aber nur 112.000 Pflegekräfte, also um etwa 30.000 Personen weniger, als registriert. Aber vielleicht sind die Teilzeitquoten höher, als in diesen Studien erfasst? Denn darin liegt der Hebel – und der Teufelskreis.

Überall wird heute deutlich über Kollektiv bezahlt – die Gehälter steigen. Und damit wird Teilzeit attraktiver. Das wiederum führt zu schwierigeren Nachbesetzungen und höheren Gehältern etc. etc.

Doch warum drängen so viele in Teilzeit?

Unser Pflegesystem, und auch das belegen internationale Zahlen, setzt viel zu lange und zu stark auf informelle Pflege. Das macht das Pflegesystem zwar billig, führt aber dazu, dass formelle Pflege erst eingesetzt wird, wenn es Patienten schon schlecht geht. Pflege wird so zur Siechen-Versorgung (nicht lachen, Sieche ist ein rechtlich korrekter Begriff für unser Pflegesystem), die aber mit moderner Pflege nichts zu tun hat. Es ist nicht erbaulich, unter Zeitdruck de facto finale Pflege umzusetzen. So etwas hält man nur geringer dosiert durch – also Teilzeit.

Wenn wir mit den vielen Kräften, die wir haben, versorgungswissenschaftlich effizient und patientenorientiert umgingen, wären viele bereit, diesen Beruf sowohl Wochenstunden als auch Lebensarbeitszeit betreffend länger auszuüben. Wir könnten mit früherem professionellem Einsatz der Pflege in der Bevölkerung die Pflegebedürftigkeit reduzieren, gesunde Lebensjahre erhöhen, die Freude am Pflegeberuf zurückbringen – und das …Trommelwirbel … bei reduzierten Kosten im Gesundheitssystem.    //

Zur Person:
Dr. Ernest Pichlbauer ist Gesundheitsökonom und Assistenzprofessor für evidenzbasierte Medizin an der Sigmund Freud PrivatUniversität.
Zudem betreibt er den Blog https://www.rezeptblog.info

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