Sieben Siegel

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Autor: Alexandra Keller

Mit dem „White Paper für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem“ haben deutsche Experten Handlungsempfehlungen für sieben Reformziele präsentiert. Der Pflegebereich ist auch bei den Nachbarn das größte Sorgenkind.

Ein Blick in den Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung zeigt, wo die Prioritäten liegen. „Festgelegt wurden Investitionen in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung, drei Prozent für Forschung und Entwicklung. Aber für Gesundheit? Nichts“, stellte Wolfgang Branoner, ehemaliger Berliner Wirtschaftssenator, im Juli 2022 in einem Interview mit der Initiative Pharma Fakten fest.

Branoner fordert Maßnahmen weit jenseits des kurzfristigen Löcher-Stopfens. Die Beratungsfirma SNPC, deren Geschäftsführender Gesellschafter Branoner ist, fungiert als Herausgeberin des „White Paper für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem“, in dem namhafte Experten Handlungsempfehlungen ausgearbeitet haben, um den gesundheitspolitischen Reformdiskussionen konkrete Grundlagen zu geben.

Sorgenvoll.
Das deutsche Gesundheitssystem kämpft in vielen Bereichen mit vergleichbaren Problemen wie Österreich. Ein Weißbuch postuliert sieben Stellschrauben, an denen das deutsche System gesunden soll.

Patientensicht

Aus dem Wunsch nach mehr Patientenpartizipation bei der Ausarbeitung von Reformvorschlägen entstand die „Roadmap für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem“ und daraus die Initiative für das White Paper. Im Ziel 2 des Papiers geht es beispielsweise darum, die „Versorgung von Patient:innen durch Sektoren-übergreifende Koordination (zu) verbessern“. Die Schnittstellen von stationärer und ambulanter Versorgung werden dabei unter die Lupe genommen. Dabei wird festgehalten, dass die mangelnde Vernetzung zur Verschwendung von Ressourcen führt. Das massive Stottern im österreichischen ELGA-Getriebe soll dabei helfen, ähnliche Fehler in Deutschland zu vermeiden. Diskutiert werden auch Maßnahmen und Programme in der Prävention. In dem Zusammenhang werden im White Paper niederschwellige „Gesundheitsschulungen“ durch Unikliniken in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen, zielgruppengerechte, evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen für ältere Generationen oder ein präventionsbezogenes Bonussystem in der Krankenversicherung auch für Menschen mit Vorerkrankungen vorgeschlagen.

Sehr konkret werden mögliche Maßnahmen am „Beispiel Corona“ ausgeführt. „Zahlreiche Patienten benötigen nach der Behandlung im Krankenhaus eine langfristige, fachkundige Nachsorge und Rehabilitation. Entsprechende Strukturen unter Einbeziehung von Krankenhäusern, ambulanter Versorgung und Reha-Kliniken mit spezieller Expertise sind derzeit noch nicht etabliert“, heißt es. Zur kontinuierlichen Betreuung der Patienten nach der Entlassung aus der stationären Behandlung werden „Corona-Lotsen“ als Ergänzung zur hausärztlichen Versorgung vorgeschlagen, wobei das Modell von „Case-Lotsen“ auch generell zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von psychisch Erkrankten, von Patientinnen und Patienten mit schweren onkologischen Erkrankungen oder zur Nachsorge vorgeschlagen wird.

Demokratisierung des Systems

Sehr nahe an den Patienten beziehungsweise an der strukturellen Schnittstelle von Betroffenen und medizinischem oder pflegendem Personal sind jene Maßnahmen, die im Ziel 4 „Vertrauensvolle Kommunikation zwischen Ärzt:innen, Patient:innen, Pflegefachpersonen und Plegeemfänger:innen als wichtigste Säule der Versorgung anerkennen“ genannt werden. Hier findet die im Papier geforderte Demokratisierung des Gesundheitssystems ihren Niederschlag, in der eine Art Kulturrevolution für das Gesundheitswesen steckt. Beteiligung, Information, Gesundheitskompetenz-Förderung und Aufklärung zählen ebenso zu den vorgeschlagenen Maßnahmen wie die Vergütung der Beratungstätigkeiten durch Mediziner oder Pflegefachpersonen. Professionelle Kommunikation ist der rote Faden all dieser Maßnahmen.

Das größte Problemkind des deutschen Gesundheitswesens ist – auch – die Pflege. Die Versäumnisse im Zusammenhang mit dem vielleicht heikelsten Thema der Gesundheitssysteme sind in Deutschland dieselben wie in Österreich. Fachkräfte, Arbeitsbedingungen, Finanzen, Ausbildung, Handlungskompetenzen. Angesichts der Tatsache, dass in absehbarer Zeit nach deutschen Statistiken rund 18 Millionen Babyboomer in Pension gehen und im Jahr 2030 mit knapp sechs Millionen Pflegebedürftigen gerechnet werden muss, wird schon jetzt von einem Pflege-Blackout gesprochen. „Bald müssen wir unsere Angehörigen im Krankenhaus selber pflegen, weil wir nicht mehr genügend Pflegekräfte haben“, sagt Doris C. Schmitt, Kommunikationstrainerin und Mitautorin des Weißbuches. Noch schmerze die Mangelsituation zu wenig, um die Bevölkerung entsprechend aufzurütteln, „dabei sind es Horrorszenarien, auf die wir zusteuern.“

Leitlinien

Das „White Paper für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem“ formuliert sieben Ziele. Die acht Autoren und Autorinnen des Papiers haben sich auf drei Handlungsfelder konzentriert: Koordination der Sektoren, Pflege und Patientenbeteiligung. Dazu wurden Maßnahmen und Forderungen zu folgenden Punkten erarbeitet:

1) Zugang zur fachärztlichen und spezialisierten Versorgung verbessern
2) Versorgung von PatientInnen durch Sektoren-übergreifende Koordination verbessern
3) Notfallversorgung regional strukturieren unter Beteiligung der Universitätsmedizin
4) Vertrauensvolle Kommunikation zwischen ÄrztInnen, PatientInnen, Pflegefachpersonen und PflegeempfängerInnen als wichtigste Säule der Versorgung anerkennen
5) Über Digitalisierung nicht nur reden, sondern auch umsetzen
6) Rahmenbedingungen für die pflegerische Versorgung verbessern
7) Finanzierung bedarfsgerechter gestalten

Quelle und weiterführender Lesetipp:

White Paper für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem

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