Gunda Gittler: Die Pharmawirtschaft hat das System extrem optimiert

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Autor: Josef Ruhaltinger

Gunda Gittler beschafft die Medikamente für sämtliche Kliniken der Barmherzigen Brüder. Sie erzählt von ihrer europaweiten Fahndung nach seltenen Arzneien, will die Pharmafirmen zu nationaler Lagerhaltung verpflichtet wissen und hat genaue Vorstellungen, wie der Wiederaufbau einer europäischen Pharmaproduktion funktionieren könnte.

Frau Gittler, wie überraschend kommt die aktuelle Versorgungskrise bei Medikamenten für Sie?
Gunda Gittler: Überraschend ist dabei nichts. Ich habe bereits 2018 im Gesundheitsministerium einen Vortrag über den Versorgungsengpass bestimmter Arzneien gehalten. Und ich war da nicht die Erste, die das Problem angesprochen hat. Schon damals wurden die gleichen Gründe für die Lieferschwierigkeiten festgemacht wie heute. Da gibt es nichts Neues.

Das müssen Sie erläutern …
Es hat sich bereits vor zehn Jahren abgezeichnet, dass die Auslagerung der Pharmaproduktion in den asiatischen Raum ein Problem darstellt. Und der Trend wurde nie gebrochen. Im Gegenteil: Die Pandemie hat die Situation verschärft. Die Produktionsanlagen in China wurden gesperrt und die Lieferketten von Asien nach Europa eingeschränkt. Die Pharmawirtschaft hat ihr System auf die extreme Optimierung ausgelegt. Das macht es anfällig.

Inwiefern?
Die Produktionsanlagen haben Vorlaufzeiten von einem halben Jahr bis einem Jahr. So lange dauert es, bis bestimmte Medikamente wieder nachproduziert werden. Und es gibt einen optimierten Verteilungsprozess. Lukrativere Märkte werden nachhaltiger beliefert als Märkte, in denen die Preise unter Druck sind. Dazu kommen Konzentrationsprozesse: Für immer mehr Wirkstoffgruppen gibt es immer weniger Anbieter. Das sind Entwicklungen, die wir bereits 2018 prognostiziert haben. Nirgends wurde gegengesteuert.

Zur Verteidigung: Das österreichische Gesundheitsministerium kann schwerlich die Globalisierungsstrategien der Pharmakonzerne beeinflussen …
Die österreichischen Träger des Gesundheitssystems können die Preise nur in gewissen Grenzen beeinflussen. Die Preisgestaltung bei den Sozialversicherungen für Arzneimittel ist in Österreich sehr starr. Es gibt keine indexierten Preisanpassungen. Österreich repräsentiert ca. 0,5 Prozent des Medikamenten-Weltmarktes und die Sozialversicherungen pochen darauf, bei den Generika einen minimalen Preis zu bezahlen. Die Pharma-Hersteller verteilen ihre Produkte dorthin, wo mehr bezahlt wird. Wir haben es hier mit einer äußerst marktwirtschaftlich orientierten Branche zu tun.

Angesagte Krise. Gunda Gittler hat bereits 2018 vor den aktuellen Versorgungsproblemen bei Arzneien gewarnt. Die Pharmabranche verfolgt seit Jahrzehnten den Kurs der wirtschaftlichen Optimierung durch Outsourcing. Die Marktaufsicht schweigt.

Wenn die Versorgungskrise schon lange existiert: Warum ist sie gerade jetzt so akut geworden?
Mit der Covid-Welle in China ist die Produktion stark beeinträchtigt. Gleichzeitig ist der Eigenbedarf der Chinesen stark gestiegen. Und in Europa haben wir mit einer Grippe-Welle zu kämpfen, wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen haben – zusätzlich zur noch immer nicht ausgestandenen Pandemie. 2018 waren laut AGES-Liste circa 300 Medikamente nicht lieferbar. De facto waren dies 150 Arzneistoffe, weil unterschiedliche Packungsgrößen und Stärken auch gezählt werden. Heute (das Gespräch wurde am 16. Jänner geführt; Red.) sind 1300 Arzneien nicht lieferbar gemeldet. Das sind in Summe circa 560 Substanzen, wo wir Engpässe haben oder die überhaupt nicht lieferbar sind. Das verdeutlicht unsere Krise.

Brauchen wir ein Arznei-Bewirt­schaftungsprogramm, wie es auch beim Gas eingeführt wurde?
Ich bin überzeugt: Ja. Wir sprechen über die Versorgungssicherheit von lebenswichtigen Produkten. Wenn im worst case jemandem mit Lungenentzündung keine Antibiotika verabreicht werden können, dann ist dies nicht akzeptabel. Wir brauchen einen nationalen Sicherheitspolster für die wichtigsten Medikamente. Und dabei ist die Pharmaindustrie gefordert, ihre nationalen Lager zu erhöhen.

Muss der Staat die Hersteller und Großhändler in die Pflicht nehmen?
Während für Österreichs Spitäler eine Bevorratung der wichtigen Medikamente für 14 Tage vorgeschrieben ist, gibt es keine derartige Verpflichtung für Industrie und Pharmagroßhandel. Krankenhausapotheken müssen den Bedarf von zwei Wochen auf Lager halten, aber unsere Lieferanten haben in der Hinsicht keine gesetzliche Verpflichtung? Wie dies in Notsituationen aussieht, haben wir zu Beginn der Pandemie erlebt. Denn viele Pharmafirmen haben ihre Lager gar nicht in Österreich. GlaxoSmithKline hat das Großlager in Italien, Pfizer beliefert uns aus Deutschland. Zu Beginn der Pandemie standen die LKW an der Grenze und durften nicht rein. Wir benötigen daher auch auf Lieferantenseite nationale Lager, auf die wir in Notzeiten Zugriff haben. Das kostet etwas und das muss der Politik klar sein.

Die Pharmaindustrie argumentiert, dass Österreich selber schuld sei an der Versorgungsmisere. Die heimischen Träger des Gesundheitssystems würden einfach zu wenig für Medikamente bezahlen. Wie sehen Sie die Situation?
Österreich zählt zu den EU-Ländern mit niedrigeren Preisen für Medikamente (die Fabrikabgabepreise liegen im EU-Vergleich im unteren Drittel, Anm. d. Redaktion). Preiserhöhungen müssen bei der Sozialversicherung beantragt werden. Und es gibt, wie schon erwähnt, keine Preisindexierung. Das alles macht Österreich zu keinem Hoffnungsmarkt für die Pharmabranche.

Zu Beginn der Pandemie standen die LKW an der Grenze und durften nicht rein. Wir benötigen auch auf Lieferantenseite nationale Lager, auf die wir in Notzeiten Zugriff haben.

Anders gefragt: Wäre die Versorgung besser, würde Österreich mehr zahlen?
Bei einigen Produktgruppen mit Sicherheit ja.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Immunglobuline. Die USA zahlen am Weltmarkt für Immunglobulin-Infusionen (zur Behandlung von verschiedenen Autoimmunerkrankungen, Red.) circa das Doppelte des österreichischen Preises. Daher gehen die größten Kapazitäten in diesen Markt. Dabei zahlen wir in den Spitälern für Immunglobuline mehr, als die Sozialversicherung festgelegt hat. Müssen wir. Sonst gäbe es nichts für die betroffenen Patienten.

Werden Sie von der Industrie vorgewarnt, ob, bei welchen Mitteln und wann es zu Lieferschwierigkeiten kommt?
Forecasts kriegen wir selten. Meist erfahren es auch die Lieferanten und Großhändler selbst sehr verspätet, wenn Zuteilungen für Länder nicht eingehalten werden. Schwierigkeiten treten sehr kurzfristig auf und werden meist gleichzeitig mit der gesetzlichen Meldung bekannt – auch bei uns Kunden.

Sie kaufen Medikamente für Kliniken mit 5.000 Betten ein. Wie machen sich die Ver­sorgungsprobleme bei Ihnen bemerkbar?
Ich und meine Kolleginnen verbringe in Summe rund einen Arbeitstag pro Woche mit der Recherche nach Arzneien, die als nicht verfügbar gelten. Wir sind ein Player, dessen Einkaufsvolumen zwar nicht riesig ist, dessen Bedarf trotzdem nicht einfach aus dem Ärmel geschüttelt wird. Wir versuchen, uns mit den Firmen abzustimmen, die Vorlaufzeiten der Produktion zu berücksichtigen und Jahresplanungen mit Indus­trie und Großhandel zu vereinbaren. Ich muss dabei einen Mittelweg zwischen akzeptabler Preissituation und optimaler Liefersicherheit finden. Bei kritischen Medikamenten erhöhen wir die Bevorratung auf mehr als 2 Wochen.

Welchen Stellenwert haben Einkäufe im besser bestückten Ausland?
Parallelimporte sind der letzte Ausweg, wenn ein bestimmter Wirkstoff in Österreich gar nicht mehr zu haben ist. Die Folge dieser Importe ist eine Schieflage innerhalb Europas: Die Medikamente wandern dorthin, wo bessere Preise bezahlt werden, und nicht dorthin, wo sie am dringendsten benötigt werden. Die Einkäufe im Ausland sind mengenmäßig aber nicht die großen Lösungen.

Sind die Medikamentenpreise in Europa so unterschiedlich?
Nein, es gibt ein paar Länder, wo es durch staatliche Subventionierung zu billigeren Preisen kommt. Beispiele sind Griechenland und Portugal. In den anderen europäischen Märkten sind die Preise relativ nivelliert. Wir haben nicht 100 Euro Unterschied bei einem Preis von 150. Die Differenzen bei Produkten mit 100 Euro schwanken bei diesen Beträgen gefühlt zwischen zehn und zwanzig Prozent.

Österreich hat mit der Sandoz-Produktion in Kundl die letzte Antibiotika-Herstellung in Europa. Und dennoch leiden wir unter demselben Antibiotika-Mangel wie Resteuropa. Das Schlaganfallpräparat Actilyse wird in Deutschland produziert und ist trotzdem seit Monaten nicht verfügbar. Hat eine lokale Produktion Einfluss auf die Versorgungssicherheit eines Landes?
Natürlich. Boehringer baut übrigens ein Werk in Österreich, das das wichtige Medikament Alteplase in größeren Mengen produzieren soll. Fest steht: Bei einer Produktion in Europa stellen sich die Logistikrisiken ganz anders dar. Und wir haben keine Probleme, wenn es in Asien zu einer neuen Pandemiewelle, Naturkatastrophen oder politischen Aktionen kommt.

Mag. pharm. Gunda Gittler, MBA, aHPh leitet die Apotheke der Barmherzigen Brüder Linz. Nach ihrer Weiterbildung zum „approved Hospital Pharmacist“ absolvierte sie eine postgraduale Ausbildung an der WU Wien über „International Healthcare Management“. Gittler ist für den Zentraleinkauf des Einkaufsverbundes der Barmherzigen Brüder mitverantwortlich. Sie beschafft den jährlichen Medikamentenbedarf von 5000 Spitalsbetten.

Ich formuliere meine Frage anders. Die Pharmaindustrie weist ständig darauf hin, dass die von ihr selbst verordnete Produktionsverlagerung nach Asien schuld an der Mängelsituation sei. Andererseits sehen wir, dass Österreich und Deutschland bei den wenigen europäisch gefertigten Produkten wie Antibiotika trotzdem auf dem Trockenen sitzen. Ist das nicht absurd?
Die Antibiotika-Krise ist jetzt zumindest bei den oralen Verabreichungsformen entschärft. Das wirtschaftliche Argument spricht allerdings immer noch gegen Europa. Eine Roland Berger-Studie (Studie zur Versorgungssicherheit mit Antibiotika: Wege zur Produktion von Antibiotikawirkstoffen in Deutschland bzw. der EU, 2018; Red.) hat schon vor fünf Jahren gezeigt, dass eine deutsche Antibiotika-Produktion für den Heimmarkt 55 Millionen Euro an Mehrkosten generieren würde – bei einem Jahresumsatz für 100 Tonnen von 21 bis 30 Millionen Euro. Die Mehrkosten laufen an, damit überhaupt einmal mit einem Werk begonnen werden kann. Runtergebrochen bedeutet das, dass die Tagestherapiekosten um mindestens 50 Cent ansteigen. Und wir reden von Preisen 2018. Bei den Kostenentwicklungen der letzten Jahre wird sich die heute geschätzt auf einen Euro pro Tagestherapie auswirken. Bei 120 Millionen Tagesdosen pro Jahr bedeutet dies für Deutschland 120 Millionen Euro zusätzlicher Aufwand allein für eine nationale Antibiotikaerzeugung. Sie merken die finanziellen Dimensionen, um die es da geht. Für Österreich wie für Deutschland gilt: Es braucht die Zusicherung der Politik: „Das ist es uns wert.“

Angesichts dieser Zahlen: Gibt es eine Chance für Europa, sich aus der Abhängigkeit von asiatischen Pharmastandorten zu lösen?
Ja. Aber nur, wenn alle europäischen Kräfte zusammenarbeiten. Es bedarf milliardenschwerer Fördertöpfe und ein EU-weites Re-Industrialisierungsprogramm für die Pharmabranche. Das ist der Fluch und Segen der Globalisierung. Es muss den politischen Entscheidern und Bürgern klar sein, dass eine europäische Produktion teurer ist, als wir es gewohnt sind. Es gibt mehr Umweltauflagen, höhere Produktionskosten, höhere Personalkosten, höhere Betriebskosten. Und wir müssen den nötigen Energieaufwand bewältigen können.

Kann man das Standortproblem Europas mit Geld lösen?
Und mit Zeit, einheitlichem Vorgehen und einer guten Strategie. Wenn es eine Europaproduktion geben soll, dann ist ein Wettbewerb rein marktwirtschaftlich mit dem billigen China nicht zu gewinnen. Da wird es Protektionismus brauchen. Wie die Situation konkret gelöst wird, ist Aufgabe der Handelsexperten. 

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