Das japanische Gesundheits­system: Kaizen funktioniert überall

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Autor: Heinz Brock

Pflege-Pflichtversicherung, 1.400 Betriebskrankenkassen, die höchste Zahl an Spitalsbetten und die längste Lebenserwartung der Welt: Dabei ist die Ärztedichte in Japan nur halb so hoch wie in Österreich. Das japanische Gesundheitssystem verändert sich permanent.

Die japanische Gesellschaft ist leistungsorientiert, verfügt aber über einen starken sozialen Zusammenhalt. Diese Charakteristika finden sich im japanischen Gesundheitssystem wieder. Der soziale Ausgleich ist in den Beiträgen zur Krankenversicherung und in vielfacher Weise in den Befreiungen von Versorgungskosten für Menschen mit geringem Einkommen oder chronischen Erkrankungen verwirklicht.

Die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt kann Höchstleistungen des Gesundheitssystems vorweisen. Der beste Nachweis dafür: Japanerinnen und Japaner leben von allen Menschen dieser Erde durchschnittlich am längsten. Von Herausforderungen bleibt jedoch auch dieses System nicht verschont. Eine alternde Bevölkerung und die nachlassende Wirtschaftsleistung haben in Kombination mit dem äußerst liberalen Leistungszugang tendenziell zu Kostenanstieg und Qualitätsverlust geführt. Nach einer Reihe von Reformen wird jetzt eine Vision „Health Care 2035“ verfolgt. Deren Fokus liegt auf Nachhaltigkeit, besserer Ergebnisqualität und egalitärem Zugang.

Effizient wie Toyota. Das japanische Gesundheitssystem verfügt über exzellente Leistungen bei stabilen Kosten. Private Haushalte müssen in Japan für Gesundheitsleistungen rund ein Drittel weniger „out-of-pocket“ ausgeben als in Österreich.

Keine Silos

Die sektorale Segmentierung des Gesundheitswesens, wie sie in Österreich unüberwindlich gewachsen ist, existiert in Japan nicht. Japanische Bürger können den Zugang zur Versorgung frei wählen – entweder konsultieren sie einen niedergelassenen Arzt oder eine Spitalsambulanz, ohne dafür eine Überweisung zu benötigen. Allgemeinmediziner üben keine Gatekeeping-Funktion aus. Die Regierung empfiehlt zwar die Wahl eines „Hausarztes“ und erhebt zusätzliche Gebühren ein für Selbsteinweisungen in Krankenhäuser. Das Konzept des Allgemeinmediziners als Anlaufstelle in der Primärversorgung hat in Japan keine Tradition. Weder institutionell noch finanziell gab es in Japan historisch eine Unterscheidung zwischen Primärversorgung und fachärztlicher Medizin. Primärversorgung wird zum überwiegenden Teil in privat betriebenen Ambulanzen (oder „Clinics“) geleistet, welche einen oder mehrere Ärzte, Krankenpflegepersonal und Verwaltungskräfte beschäftigen. Die ambulante fachärztliche Versorgung wird hauptsächlich von Spitalsambulanzen geleistet – und zwar zu denselben Tarifen wie im niedergelassenen Bereich. Die Tarife für Leistungen der Primär- und Krankenhausversorgung sind von der Regierung festgelegt. Dienstleister werden nach einem detaillierten Leistungskatalog bezahlt. Privatrechnungen sind nicht erlaubt. Es gibt aber auch Extrahonorierungen für die Behandlung chronisch Kranker und die Betreuung von Patienten zu Hause. Unterschiede bei den finanziellen Arbeitsbedingungen von Ärzten im japanischen Gesundheitssystem existieren kaum, egal ob sie in der Primärversorgung oder im Krankenhaus arbeiten. Generell sind die Löhne hoch (USD 15.140 monatlich). Ambulanzen und Krankenhäuser rechnen mit den Versicherungen (elektronisch) ab. Patienten zahlen ihre Kostenbeiträge direkt vor Ort. Der Großteil der Krankenhäuser rechnet nach einer Diagnose- und Prozedur-Systematik (ähnlich dem LKF-System) ab, obwohl sie auch die Möglichkeit haben, streng nach Leistungen abzurechnen.

Weltweit höchste Bettendichte, limitierte Ärztezahl

Das Krankenhauswesen stellt die auffallendste Besonderheit des japanischen Versorgungssystems dar. Auf 1.000 Einwohner kommen 12,62 Krankenhausbetten – mehr als doppelt so viele als in unserem krankenhauslastigen Österreich! Diese erstaunlich hohe Bettenzahl und die resultierende lange durchschnittliche Liegedauer sind einerseits Folge des extrem niederschwelligen Zugangs zur Versorgung jeglicher Art und andererseits der weitgehenden Kostenübernahme durch das öffentliche Versicherungssystem. Ein weiterer Grund für die weltweit größte Bettendichte ist in der extrem langen Liegedauer in psychiatrischen Versorgungseinrichtungen zu sehen, was an der hohen Zahl demenzkranker Patienten liegt. Krankenhäuser sind in Japan dadurch definiert, dass sie mehr als zwanzig Betten aufweisen, „Clinics“ können bis zu zwanzig Betten betreiben, was allerdings von weniger als zehn Prozent dieser Einrichtungen auch tatsächlich genützt wird. 2016 gab es 8.442 Krankenhäuser und 101.529 „Clinics“ in Japan. 80 % der Krankenhäuser werden von privaten Unternehmen betrieben. Diese sind in ihren Managemententscheidungen völlig unabhängig und haben auch nur minimale Auflagen betreffend Investitionen. Die Leistungsabrechnung hingegen ist strikt von der Regierung vorgegeben.

Die Ärztedichte ist in Japan nur halb so hoch wie in Österreich –, trotzdem ist Ärztemangel kein Thema. Im Gegenteil, die Regierung limitiert die Anzahl praktizierender Ärzte durch Vorgabe der Ausbildungskapazität. Studien- und Ausbildungsplätze für angehende Mediziner sind landesweit festgelegt. Zwei Drittel der Medizinstudenten sind an öffentlichen Universitäten eingeschrieben, der Rest an privaten Schulen. Die Studiengebühren für die sechsjährige Ausbildung betragen an öffentlichen Einrichtungen ca. 30.000 €, an privaten etwa das Zehnfache. Viele Versorgungsaufgaben werden durch Pflegekräfte und andere Gesundheitsberufe wahrgenommen. Die Pflegeausbildung bietet eine Vielfalt an Qualifizierungsstufen und Spezialisierungsmöglichkeiten, bis hin zur „Public Health Nurse“ als Bachelor- oder Masterstudium.

Visionen brauchen keinen Arzt. Der japanische Premier Fumio Kishida sprach im September zum Thema „Universal Health Coverage“ (UHC) im UN-Hauptquartier in New York. Japan verfolgt die Vision „Health Care 2035“: Nachhaltigkeit und egalitärer Zugang sollen im Gesundheitssystem verbessert werden.

Alles abgesichert

Das japanische Pflichtversicherungssystem bietet umfassende Leistungen. Versicherungsverträge werden entweder über das Arbeitsverhältnis oder über Gebietsversicherungen abgeschlossen. Es gibt über 1.400 Betriebskrankenkassen, welche 59% der Bevölkerung abdecken. Jeder der 47 japanischen Amtsbezirke verfügt über eine Gebietskrankenkasse für Nichtbeschäftigte unter 75 Jahren. Alle japanischen Bürger über 75 Jahren sind automatisch über die Gebietskrankenkassen versichert. Die Versicherungen decken Krankenhausaufenthalte, Primärversorgung, Facharztleistungen und Medikamente ab. Zusätzlich deckt eine Pflege-Pflichtversicherung die Bedarfe der über 65-Jährigen und die der über 40-Jährigen mit gesundheitlichen Einschränkungen ab und finanziert die Pflege zu Hause, behindertengerechte Wohnraumgestaltung und Heilmittelbedarf sowie Hospiz- und Palliativ-Pflege. Die Finanzierung der Pflegeversicherung erfolgt je zur Hälfte aus Steuermitteln und sozial gestaffelten individuellen Beiträgen, welche zu gleichen Teilen von Dienstgebern und Dienstnehmern getragen werden. Versicherungen finanzieren sich über Steuern und Beiträge, welche durch die Regierung festgelegt werden. Zusätzlich zu den Beiträgen zahlen die Versicherten für die meisten Leistungen eine 30%ige Selbstbeteiligung sowie diverse Zuzahlungen, wobei es sowohl monatliche wie jährliche sozial gestaffelte Maxima für private Zuzahlungen gibt. Private Zuzahlungen für Gesundheitsleistungen sind steuerlich absetzbar.

Das japanische Versicherungssystem enthält sehr viele soziale Komponenten (safety net), indem es für Bürgerinnen und Bürger mit niederem Einkommen und Patienten mit einer von 306 chronischen Erkrankungen verschiedenste Befreiungen von Zuzahlungen vorsieht. Obergrenzen für private Gesundheitsausgaben bieten Schutz vor wirtschaftlich untragbaren medizinischen Kosten. Private Haushalte müssen für Gesundheitsleistungen rund ein Drittel weniger „out-of-pocket“ ausgeben als in Österreich. Die meisten Japaner haben eine private Zusatzversicherung abgeschlossen, welche jedoch eher als Ergänzung zur Lebensversicherung gesehen wird und im Krankheitsfall zusätzliches Einkommen garantiert. Sie werden nur in begrenztem Maße für Gesundheitsleistungen, beispielsweise für Kieferorthopädie, herangezogen. Das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales und andere staatliche Behörden legen sämtliche Details der Versicherungsverträge wie Beitragshöhe, Leistungsumfang und Tarife der Dienstleister fest, ebenso die Budgets der regionalen und kommunalen Behörden, welche für die Organisation der Gesundheitsversorgung zuständig sind.

Toyota lässt grüßen

Die Überwachung der Behandlungsqualität in den Krankenhäusern ist Aufgabe der regionalen Verwaltungsbehörden. Diese können zum Beispiel bei Unterschreitung der festgelegten Personalausstattung die Leistungsentgelte kürzen. Die Akkreditierung bei der japanischen Gesellschaft für Qualität im Gesundheitswesen ist freiwillig und hat nur etwa ein Viertel der Häuser erreicht. Es wird allerdings nicht öffentlich bekannt gemacht, welches Haus die Akkreditierung nicht erreicht hat. Das Reporting der Performance von Krankenhäusern und Pflegeheimen ist nicht vorgeschrieben. Das Gesundheitsministerium unterstützt allerdings ein Benchmarking-Projekt, bei welchem Krankenhäuser auf ihrer Website Qualitäts-Indikatoren publizieren. Fehler- und Beschwerdemanagement sind in Japan auch im Gesundheitswesen großgeschrieben. Jeder Verwaltungsbezirk unterhält ein Zentrum für Patientensicherheit, an welches Beschwerden gemeldet werden können. Seit 2004 müssen Krankenhäuser der höheren Versorgungsstufe Zwischenfälle an die Gesellschaft für Qualität im Gesundheitswesen melden, ohne allerdings Gefahr zu laufen, damit Sanktionen für mangelnde Qualität auszulösen.

Unterschiedliche Systeme, ähnliche Kosten

Am japanischen Gesundheitssystem lässt sich erkennen, auf welch unterschiedlichen Wegen eine Gesellschaft ihre Versorgungsaufgaben lösen kann. Verglichen mit Österreich ist in Japan die Qualität der Gesundheitsversorgung zumindest gleichwertig – bei nahezu identischen Kosten.

Quellen:

World Health Organization, Regional Office for South-East Asia. Japan health system review.

Health systems in transition. Vol-8, Number-1. ISBN 978–92-9022–626-0

Roosa Tikkanen, Robin Osborn, Elias Mossialos, Ana Djordjevic, George A. Wharton. International Health Care System Profiles: Japan. The Commonwealth Fund. June 5, 2020

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