Architektin Gemma Koppen und Architekturpsychologin Tanja C. Vollmer: „Heilende Architektur ist im Kommen“

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Autor: Michael Krassnitzer

Die Architektin Gemma Koppen und die Architekturpsychologin Tanja C. Vollmer erklären den Zusammenhang zwischen Baugestaltung und Heilungserfolg. Sie wundern sich über eine Klinikplanung ohne Patienten.

Wie kann man bei der architektonischen Planung und Gestaltung von Kranken­häusern Einfluss auf die Gesundung der Patienten nehmen?
Vollmer: Diese Erkenntnisse sind noch gar nicht so alt. Es gibt zwar sehr viele Case Studies, wo man an Einzelbeispielen von Klinikbauten versucht hat, positive Auswirkungen auf die Gesundung nachzuvollziehen. Aber erst 2022 konnten wir – also Gemma Koppen und ich – einen Durchbruch bei der Forschung zum Einfluss von Architektur auf die Stresswahrnehmung Schwerkranker erzielen. Wenn man seine Entwurfsentscheidungen für den Krankenhausbau auf Basis dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse trifft, kann dies einen Einfluss auf die Genesung der Patienten ausüben. Indem Stress vermieden oder reduziert wird, lassen sich zum Beispiel Ängste und Anspannung senken und die Compliance oder die Verträglichkeit von Medikamenten verbessern.
Koppen: „Heilende Architektur“ ist ein Begriff, der im Kommen ist. Leider erschöpft er sich oft in einem Label, das sich Krankenhäuser oder Architekturbüros anheften. Wir verwenden daher lieber den Begriff „gesundheitsfördernde Architektur“ oder „heilungsunterstützende Architektur“. Man kann auch „Evidence-based Design“ dazu sagen, weil es auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht.

Eindeutige Wege. Verirrungen erzeugen Stress. Daher soll Patienten die Orientierung in Kliniken so einfach wie möglich gemacht werden. In einem Krankenhaus in Bangladesch werden Patienten und Besucher entlang eines kleinen Wasserkanals geführt.

Haben Sie Beispiele, wie Architektur Stress bei Spitalspatienten vermeiden oder reduzieren kann?
Koppen: Wenn man ein Krankenhaus betritt, dann eröffnen sich gleich beim Eingang wahnsinnig viele Möglichkeiten, wo man hingehen kann. Das erzeugt Stress. Es ist besser, wenn man den Patienten zunächst eine Hauptorientierung bietet, von der es sukzessive Abzweigungsmöglichkeiten gibt. In einem Krankenhaus in Bangladesch zum Beispiel werden Patienten und Besucher entlang eines kleinen Wasserkanals geführt.
Vollmer: In der neue Kinder- und Jugendklinik Freiburg, die übrigens von einer Wiener Bietergemeinschaft entworfen wurde, gibt es einen sogenannten Raum für Entwicklung und Normalität. Wir haben in der Wettbewerbsvorphase gemeinsam mit den Nutzern diese neuartige stationäre Versorgungseinheit entwickelt, die den familiären Alltag fördert. Wenn es gelingt, Kindern bereits beim Betreten des Krankenhauses eine Aussicht auf Normalität und angstfreie Räume zu verschaffen, dann unterstützt dies die Heilung und Genesung.

Als architektonisches Negativbeispiel werden immer wieder die typischen langen, dunklen Gänge in Krankenhäusern genannt. Wie können diese Gänge vermieden werden?
Koppen: Indem man Rundungen oder einen Knick plant, sodass die Länge des Ganges nicht wahrgenommen wird. Auf diese Weise entstehen auch Orte, die als Ruhepunkte genutzt werden können. In der bereits genannten Kinder- und Jugendklinik Freiburg ist der Hauptgang von den Proportionen her so angelegt, dass man gar nicht spürt, dass es sich um einen Gang handelt. Außerdem tritt von der Seite immer wieder Tageslicht ein, wodurch die Entstehung eines Ganggefühl zusätzlich erschwert wird. Man kann natürlich auch über die Anordnung der einzelnen Abteilungen neu nachdenken, sodass diese nicht direkt aneinandergereiht sind.
Vollmer: Schwerkranke haben bereits das Gefühl, in ihrem Körper eingeschlossen zu sein. Alles, was dieses Gefühl verstärkt, verstärkt auch Schmerzsymptomatik und Stress. Je tiefer ein Patient in ein Krankenhaus hineinkommt, desto stärker wird die Wahrnehmung von Dunkelheit und Eingeschlossensein. Das ist eine echte Herausforderung. Denn überall in Europa wird darüber nachgedacht, größere Zentren zu bauen. Je größer Krankenhäuser sind, desto schwieriger wird es für Architekten, im tiefen Inneren noch Durchbrechungen und Lichteintrag zu schaffen.

Gemma Koppen ist Architektin und Direktorin von Kopvol architecture & psychology in Berlin und Rotterdam. Sie hat unter anderem an der Columbia University in New York und an der TU München gelehrt.

Medizintechnik und IT-Infrastruktur benötigen in Kliniken ganz speziellen Raum. Sicherheits- und Hygienestandards sorgen für weitere Vorgaben. Wie frei sind Architekten und Architektinnen bei der Gestaltung von Gesundheitseinrichtungen?
Koppen: Für all das gibt es zum Glück Fachplaner. Der Architekt schlüpft in die Rolle eines Generalmanagers, der alle Fachplaner unter einen Hut bringen muss und gleichzeitig noch die Qualität des Gebäudes garantieren sollte. Dazu sollte er am Anfang, wenn der Entwurf entsteht, von innen nach außen denken. Leider wird oft umgekehrt gedacht: von außen nach innen, von groß nach klein. Das heißt beispielsweise: Man fängt mit der großen Baustruktur an und endet dann irgendwann beim Patientenzimmer. Aber das ist der Raum, in dem Patienten die meiste Zeit verbringen. Man müsste also das Krankenhaus eigentlich vom Patientenzimmer beziehungsweise dem Ort des längsten Aufenthaltes aus denken und dem Weg dorthin und sich dann erst immer weiter nach außen vorarbeiten.

Wie wichtig ist bei der Planung die Zusammenarbeit mit dem medizinischen Fachpersonal, das schließlich dort arbeiten soll?
Vollmer: Sehr wichtig. Weil dort ist die Expertise vorhanden, die man als Architektin gar nicht haben kann. In der Realität funktioniert das aber nicht. Ein Architekturwettbewerb ist anonym, da gibt es keine Kontakte. Und wenn der Wettbewerb gewonnen ist, dann fährt der Schnellzug der Krankenhausplanung. Dann bleibt vielleicht noch etwas Zeit für den einen oder anderen Workshop, bei dem man die künftigen Nutzer über ihren speziellen Bedarf, aber nicht mehr über ihre Bedürfnisse befragt. Der Nutzer „Patient“ ist in dieser Phase gar nicht präsent und die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Beitrag von Architektur an der Gesundwerdung der Patienten und die Gesundheitserhaltung des Personals ebenfalls nicht. Zudem ist der Gesamtentwurf der Klinik praktisch fertig. Man stülpt den Medizinern und dem Pflegepersonal Dinge über, an denen sie überhaupt nicht beteiligt waren. Das ist ein großes Manko, das wir seit Jahren am Wettbewerbs- und Planungsprozess der großen Krankenhäuser kritisieren.

Tanja C. Vollmer ist Architektur­psychologin und Wissenschaftliche Direktorin von Kopvol architecture & psychology. Sie ist Mitkuratorin der Ausstellung DAS KRANKE(N) HAUS – Wie Architektur heilen hilft an der Technischen Uni Münchern.

Wie könnte man dieses Manko beheben?
Vollmer: Durch eine dem Wettbewerb vorgeschaltete Phase null, in der sich ein darauf spezialisiertes, wissenschaftlich fundiertes Architekturbüro zunächst nur mit den Nutzern beschäftigt. Im architekturpsychologischen Dialog kann man dann klären, wie sich deren Bedürfnisse in gesundheitswirksame Architekturkonzepte übersetzen lassen.
Koppen: Die Bauherren haben Angst, dass der Bau zu teuer wird, wenn die künftigen Nutzer vorab ihre Wünsche äußern. Das ist schade, denn wenn man die Wünsche und deren Motivation kennt, kann man gezielter aus finanziellen Gründen notwendige Abstriche machen.

Hat sich das Konzept der gesundheits­fördernden Architektur bis zu den Ent­scheidungsträgern durchgesprochen?
Vollmer: Bei den Bauherren, den großen Krankenhausträgern und der Politik, ist das Ganze noch nicht angekommen. Unsere größten Unterstützer sind die geschäftsführenden medizinischen Direktorinnen und Direktoren. Medizinern leuchtet es aufgrund ihrer tagtäglichen Arbeit sofort ein, wie wichtig zum Beispiel kurze Wege und Pausenräume sind. Und sie wissen, dass ihre Arbeit positiv beeinflusst wird, wenn die Patienten ungestört, angstfrei und zufrieden sind und die Interaktion zwischen Medizin und Pflege unterstützt wird. Die Mediziner kämpfen gewissermaßen mit dem letzten Blutstropfen für gute Architekturqualität. Aber sie stehen leider zu häufig den starren Gegenargumenten der Planungs-, Bau- und Finanzbehörden ziemlich einsam gegenüber.