Die Ambulantisierung und Digitalisierung der Medizin sind in Schweden bereits Wirklichkeit. Dazu tritt eine konsequente Umsetzung vorbeugender Public-Health-Strategien: Das Land verfügt über die europaweit niedrigsten Konsumationsraten an Tabak und Alkohol.
Das Königreich Schweden bietet für Österreicher oft Anlass zur Diskussion. Ob als Modell des Wohlfahrtsstaates, als Musterland von Public Health oder mit dem konträren Konzept der Pandemie-Beherrschung sorgen die Nordländer für hitzige Debatten. Die Gesundheitssysteme Österreichs und Schwedens unterscheiden sich in wesentlichen Faktoren – und zeitigen auch unterschiedliche Ergebnisse.
Der Aufbau und die Prioritätensetzung des schwedischen Gesundheitssystems lassen sich sehr gut an der Zuteilung der Finanzmittel an die Versorgungssektoren erkennen. Die Gesundheitsausgaben Schwedens und Österreichs liegen ungefähr in der gleichen Größenordnung, der größte Finanzierungsanteil in Schweden fließt jedoch in den ambulanten Bereich, gefolgt von der Langzeitversorgung (Senioren- und Pflegeheime) und erst an dritter Stelle in die stationäre Versorgung, welche in Österreich den dominanten Budgetanteil darstellt. Die Gesundheitsversorgung in Schweden ist auf einem nationalen Gesundheitsdienst aufgebaut, der nahezu ausschließlich aus Einkommenssteuern finanziert wird. Privatversicherungen sind kaum von Bedeutung und die privaten Zuzahlungen halten sich auf niedrigstem europäischem Niveau. Organisation und Finanzierung der Gesundheitsdienstleister liegen in der dezentralen Verantwortung der 21 Provinzen und zu einem geringeren Teil auch bei den 290 Gemeinden. Auf nationaler Regierungsebene werden die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Gesundheitsversorgung gesetzt und finanzielle Zuschüsse als Anreize für beschlossene Aktivitäten verteilt. Auf der Ebene der Provinzen und Gemeinden entscheiden politische Gremien nach lokalen Bedürfnissen über die Allokation der Steuermittel für die Gesundheitsversorgung – eine übergeordnete staatliche Planung existiert für die Versorgungseinrichtungen nicht, daher sind regionale Unterschiede und Ineffizienzen teils erheblich (insbesondere gibt es ein Gefälle zwischen urbanen und ländlichen Gebieten).
Süss-sauer. Das schwedische Gesundheitssystem hat viele Schritte gesetzt, die mitteleuropäische Versorgungssysteme noch nicht gehen wollen. Allerdings hadert das Land immer noch mit der laissez-faire-Strategie der ersten Pandemie-Phase.
Erfolgreiche Public-Health-Anstrengungen
Die Behörde für öffentliche Gesundheit (Folkhälsomyndigheten, Public Health Agency) ist das oberste nationale Organ für die Überwachung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung und setzt politisch unterstützte Initiativen zur Verbesserung desselben in Gang. Die konsequente Orientierung an Public-Health-Strategien und Prävention gilt als Hauptgrund für die europaweit niedrigsten Konsumationsraten an Tabak und Alkohol. Die hohe Lebenserwartung ist Konsequenz dieser Politik. Für den Umgang mit der COVID-19-Pandemie empfahl der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell seiner Regierung eine weniger restriktive Vorgangsweise bezüglich der ökonomischen und sozialen Maßnahmen als in anderen Ländern, was ihm besonders wegen der hohen Anzahl an Todesfällen während der ersten und zweiten Infektionswellen herbe Kritik einbrachte.
Der Erstkontakt mit dem Gesundheitssystem erfolgt für die schwedischen Patienten in den meisten Fällen über die regionalen Primärversorgungszentren (PCC), entweder in Form einer telefonischen oder elektronischen Terminbuchung oder durch persönliche Anmeldung während der Betriebszeiten. Alternativ können auch der nationale telefonische oder das Online-Service in Anspruch genommen werden. Flankierend stehen private digitale Gesundheitsdienste für Video-Konsultationen zur Verfügung. Digitale Dienstleistungen werden in gleicher Höhe wie physische Arztbesuche honoriert. Die Beliebtheit digitaler Primärversorgungsdienste ist seit der Pandemie stetig zunehmend. Weniger üblich und regional sehr unterschiedlich besteht auch die Möglichkeit, niedergelassene Allgemeinmediziner oder Fachärzte direkt zu konsultieren. Seit vielen Jahren, zuletzt 2021, bemüht sich die schwedische Regierung, die Rolle und Funktion der Primärversorgung gesetzlich zu stärken. Das Leistungsangebot der PCCs definiert sich durch Verträge mit den jeweiligen Provinzbehörden, die sowohl den Leistungsumfang, den Spezialisierungsgrad als auch die Leistungsentgelte festlegen. Unter dieser Maßgabe können sowohl private als auch öffentliche Anbieter PCCs betreiben. Ein typisches PCC beschäftigt ein Team von vier bis sechs Allgemeinmedizinern sowie spezialisierte Pflegekräfte, Psychologen und Therapeuten.
Patienten haben prinzipiell freie Wahl ihres Anbieters. Die Regeln für eine Gatekeeping-Funktion der Primärversorger variieren regional. Seit 2022 müssen sich Patienten bei einem PCC ihrer Wahl registrieren, was auch von 91 Prozent der Bevölkerung angenommen wird. Obwohl die Versorgungslage in manchen dünn besiedelten ländlichen Regionen Schwedens schwierig sein mag, ist die Erreichbarkeit eines PCC innerhalb von zehn Minuten für 92 Prozent der Einwohner gegeben. Die Einnahmen eines PCCs setzen sich aus einer regional unterschiedlichen risikoadjustierten Pauschale pro eingeschriebenem Patienten und verschiedenen ergänzenden Abrechnungsformen wie Leistungshonoraren oder Qualitätszuschlägen zusammen.
Hoher ambulanter Versorgungsgrad bei Fachärzten
Behandlungen, die nicht im Primärversorgungsbereich geleistet werden können, werden an den fachärztlichen Sektor überwiesen, welcher größtenteils auf ambulanter Basis funktioniert. Ambulante Therapien oder tageschirurgische Eingriffe finden in fachärztlichen Ordinationen oder Spitalsambulanzen statt und stellen die präferierte Behandlungsform dar. Zum Beispiel werden Katarakt-Operationen nahezu ausschließlich und Tonsillektomien zu 85 % tageschirurgisch durchgeführt. Der Ausbau der ambulanten Versorgung gegenüber der stationären ist das Resultat eines jahrelangen Transformationsprozesses, der durch technologische Fortschritte wie der minimal-invasiven Chirurgie deutlich beschleunigt wurde. Aktuell finden im stationären Krankenhausbereich eine stetige Konzentration und Spezialisierung statt, die das schwedische System mit weniger als einem Drittel der Krankenhausbetten im Vergleich zu Österreich auskommen lassen. Der stationäre Versorgungsbereich beschränkt sich auf kurze Phasen intensiver und spezieller Therapien und auf Notfälle. Als Sonderform entwickelte sich in manchen Regionen die Hausbetreuung von Patienten durch qualifiziertes Klinikpersonal, das bei Bedarf auf ein Backup eines verfügbaren Krankenhausbettes zurückgreifen kann.
Der rigorose Bettenabbau hat aber auch negative Auswirkungen. Ein regelmäßiger Überbelag wird als zunehmendes Problem gesehen, dessen Behebung infolge des Fachkräftemangels auf Schwierigkeiten stößt. Eine weitere Schwachstelle des schwedischen Systems stellt die mangelhafte Koordination der einzelnen autonomen Anbieterstrukturen dar. Gezielte Maßnahmen wie der Versuch, die Primärversorgung weiter auszubauen oder die Kompetenzen nicht-ärztlicher Berufsgruppen zu erweitern, greifen nicht. Der Grund ist auch in Österreich bekannt: Die benötigte Anzahl an Allgemeinmedizinern und spezialisiertem Pflegepersonal steht nicht zur Verfügung. Lange Wartezeiten für elektive Behandlungen sind die Folge. Per Gesetz sind der schwedischen Bevölkerung zwar Mindestwartezeiten garantiert – innerhalb eines Tages für PCCs, für einen Gesundheitscheck innerhalb von 3 Tagen und für Spezialisten oder Operationen innerhalb von 90 Tagen. Diese Ziele werden jedoch vielfach verfehlt, sodass die Wartezeiten generell immer noch länger als im EU-Schnitt sind. 29 % der Patienten warteten 2021 länger als die garantierten 3 Monate auf einen Termin beim Spezialisten.
Egalitärer Zugang. Dass der Umgang auf Augenhöhe königliche Pflicht ist, unterstreicht der Vertreter der estnisch-schwedischen Gemeinde, der dem schwedischen Königspaar zum 50. Thronjubiläum gratuliert. Augenhöhe gilt auch in anderen Belangen: In Schweden verdienen Allgemeinmediziner gleich gut wie ihre spezialisierten Kollegen.
Gleicher Zugang für alle Bevölkerungsgruppen
Die Gesundheitsversorgung wird in Schweden als Aufgabe wahrgenommen, welche mit egalitärem Anspruch allen Bevölkerungsgruppen ein breites Angebot an Leistungen zur Verfügung stellt. Der egalitäre Zugang der Gesellschaft äußert sich auch darin, dass bis auf wenige Ausnahmen alle Gesundheitsberufe in einem Anstellungsverhältnis zu einem öffentlichen oder privaten Anbieter stehen und von ihren jeweiligen Berufsverbänden gegenüber den Dienstgebern vertreten werden. Daher sind die Einkommensunterschiede innerhalb der einzelnen Berufsgruppen auch gering – Allgemeinmediziner in der Primärversorgung verdienen beispielsweise gleich viel wie Fachärzte im Krankenhaus.
Das schwedische Gesundheitssystem mag zweifellos auch mit gewissen Problemen zu kämpfen haben und hat teilweise mit weithin bekannten Schwierigkeiten wie Fachkräftemangel in bestimmten Regionen oder langen Wartezeiten umzugehen. Eine Reihe von Konzepten, die in Österreich noch umstrittene Reformthemen sind, haben die Schweden aber bereits vorbildlich umgesetzt. Krankheits-Prävention und Initiativen für gesundheitserhaltenden Lebensstil sind vorrangige politische Agenden, was letztlich seinen Niederschlag in der hohen Lebenserwartung und der geringen Mortalität an präventablen Krankheiten findet. Die Ambulantisierung und Digitalisierung der Medizin hat in Schweden bereits stattgefunden und die Krankenhäuser liefern eine hervorragende Ergebnisqualität, obwohl sie stark redimensioniert wurden. Ein sehr hoher Prozentsatz der schwedischen Bevölkerung ist mit dem Versorgungssystem zufrieden, was auch darin begründet sein mag, dass Verteilungsgerechtigkeit und soziale Absicherung in diesem System in hohem Maße verwirklicht sind.
Quellen und Links:
Janlöv N, Blume S, Glenngård AH, Hanspers K, Anell A, Merkur S. Sweden: Health system review. Health Systems in Transition, 2023; 25(4): i–198.
OECD/European Observatory on Health Systems and Policies (2021), Sweden: Country Health Profile 2021, State of Health in the EU, OECD Publishing, Paris/European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels.