Pathologe Roland Sedivy: „Die Zahl der klinischen Autopsien befindet sich im freien Fall“

Lesedauer beträgt 2 Minuten
Autor: Josef Ruhaltinger

Herr Sedivy, in Ihrem Buch „Totenschau“ sezieren Sie – unter anderem – das Ableben historischer Persönlichkeiten. Welcher Fall hat Sie aus Sicht des Pathologen am meisten interessiert?
Roland Sedivy: Als gelernter Österreicher habe ich die Akten zum Tod der Kaiserin Elisabeth sehr intensiv studiert. Es gibt ja die Mär, dass der Stich von Luigi Lucheni am Mieder abgelenkt und verdeckt worden sei. Das ist Unsinn. Der Stich mit der Feile befand sich in Höhe des Dekolletés, genau gesagt 11 Zentimeter unter dem rechten Schlüsselbein und 11 cm rechts vom Brustbein – also relativ hoch im Bereich des Oberkörpers – von Bauchstich oder einer seitlichen Attacke ist da keine Spur. Der Attentäter ist nach Beschreibungen von anwesenden Hofdamen auf die Kaiserin zugelaufen und hat mit einem leichten Sprung von oben nach unten zugestochen. Diese Erzählung lässt sich anhand der Befunde sehr genau nachvollziehen. Das macht für mich den Gehalt eines Autopsiebefundes aus.

Univ-Prof. Dr. Roland Sedivy war von 2007 bis 2016 Leiter der Klinischen Pathologie des Landesklinikums St. Pölten und bis 2019 stv. Chefarzt der Kantonspathologie Münsterlingen (Schweiz), danach bis 2023 Vorstand des Instituts für Klinische Pathologie der Klinik Favoriten. Zeitgleich war er Primar des Pathologie-Institutes der Klinik Landstraße. Seit 2019 lehrt Sedivy an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien.

War die Leidenschaft für historische Todesfälle der Grund für das Buch?
Ich habe das Buch geschrieben, um die Wertigkeit von Autopsien zu verdeutlichen. Wie ich als Assistent in den Achtzigerjahren begonnen habe, wurden 80 Prozent der Verstorbenen einer Klinik obduziert. Als ich in St. Pölten aktiv war, hatten wir 40 Prozent, als ich zuletzt in Wien Primar war, lag die Rate bei 18 Prozent. Die Zahl der klinischen Autopsien befindet sich im freien Fall. Wir verlieren dadurch viel Wissen über Auswirkungen und Ursachen von Krankheiten.

Bei der Begründung tippe ich auf das Argument der Personalknappheit …
Natürlich wird dieses Argument immer angeführt. Auch nimmt die Arbeit von uns Pathologen für lebende Patienten immer mehr Raum ein, sodass die Obduktion ins Abseits gerät. Die Diagnose einer Tumorerkrankung eines Lebenden ist klarerweise wichtiger als die Aufdeckung einer Todesursache. Aber Autopsien gelten zunehmend als reine Kostenfaktoren, denen nicht genügend Wissensgewinn gegenüberstünde. Auch wenn ich hier meine eigene Ware lobe: Das ist ein fataler Fehlschluss.

Steigt angesichts der schwindenden Anzahl an Autopsien die Anzahl der nicht entdeckten Tötungen durch Fremdeinwirkung?
Das ist zu vermuten. Die deutsche Gesellschaft für Pathologie und auch jene für Rechtsmedizin weisen schon lange darauf hin, dass es hier eine bedeutsame Dunkelziffer gibt. Bei uns ist die Besorgnis diesbezüglich etwas ruhiger. Es rutschen uns garantiert fremdverschuldete Todesfälle durch, weil Obduktionen zu wenig konsequent durchgeführt werden. Daher kämpfe ich schon lange für den verstärkten Einsatz der Virtopsy.

Das müssen Sie erklären …
Ich bin seit meiner Zeit am Landesklinikum St. Pölten für verstärkte Untersuchungen unklarer Todesfälle durch eine Virtopsy eingetreten. Das ist eine Obduktion mithilfe eines CT-Scans. Das bildgebende Verfahren liefert zwar nicht die gleichen Details wie eine konventionelle Autopsie, erlaubt aber ergänzend eine Menge Einsichten in das Krankheitsbild und die Todesursache. Eine Virtopsy ist relativ schnell und kostengünstig durchzuführen. Die Polizei hat sich damals über meinen Vorschlag gefreut. Die Politik weniger. Mittlerweile hat die Grazer Gerichtsmedizin eine neue Chefin, die diese Untersuchung routinemäßig – wie in der Schweiz – einsetzt.

Wie gut oder schlecht geht es dem Fachgebiet der Pathologie in Österreich?
Gar nicht gut. Der Mangel an fachlichem Nachwuchs macht unserem Fachgebiet stark zu schaffen. Viele sehen uns als die Leichenschneider im Keller, denen etwas Sonderbares eigen ist. Das Image ist falsch, aber anscheinend nicht auszurotten. Dabei spielen Pathologen und Pathologinnen eine tragende Rolle in der Onkologie. Die Befundung von Gewebe beschreibt den Großteil des Arbeitsalltags in unserem Fach. Die Entwicklung der digitalen Histologie macht dabei große Fortschritte und bringt Innovation in unseren Beruf. Und er lässt sich mittlerweile im Home Office ausüben und kennt keine Nachtdienste.

Buchtipp:

Totenschau, Prof. Dr. Roland Sedivy,
Verlag Hirzel, 2023,
240 Seiten,
ISBN-10: 3777632023

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