KI-Professor Sepp Hochreiter: Wir sind sehr träge

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Autor: Josef Ruhaltinger

Univ. Prof. Dr. Sepp Hochreiter ist Leiter des Institutes für Machine Learning an der JKU Linz. Im Interview erzählt er, was die ersten umfassenden KI-Anwendungen im Gesundheitsbereich sind und welche Rolle der Datenschutz im KI-Segment spielt.

Aktuell beherrscht der Hype um ChatGPT weite Teile der Öffentlichkeit. Bedeutet die App den Durchbruch der Künstlichen Intelligenz auf breiter Fläche?
Sepp Hochreiter: Die Breitenwirkung von ChatGPT habe ich nicht erwartet. Technisch ist dies nichts, wo ich sage: „Das reißt mich vom Sessel.“ Die gesamte Community wusste, dass da was kommt: Google arbeitet an Bard, die Meta-Gruppe von Mark Zuckerberg setzt auf Galactica, auch die Chinesen haben derartige Projekte in der Hinterhand. Da sind große Pläne derzeit im Laufen. Es werden immer mehr Menschen derartige Programme für ihren Alltag nützen.

Im Gesundheitsbereich werden KI-Methoden seit Längerem angewandt. Was wird sich in Kliniken, Ordinationen
und in der Gesundheitsverwaltung durch diese neue Technologie verändern?

Für Diagnosen bei bildgebenden Verfahren existiert bereits zahlreiche Software. Ein sehr großes Feld ist die Medikamentenentwicklung. Auf dem Gebiet verfügt unser Institut über etliche Kooperationspartner aus der Pharmabranche. Die Konzerne haben sehr früh verstanden, wie sie mit KI-Methoden die zahllosen Messungen und langen Testphasen abkürzen können. Mit entsprechenden Algorithmen können wir die Auswahl mit den wahrscheinlichsten Treffern überschaubar machen. Daher haben Pharmafirmen frühzeitig und massiv in die Nutzung von KI-Methoden investiert.

Univ. Prof. Dr. Sepp Hochreiter ist Leiter des Institutes für Machine Learning an der JKU Linz. Der Oberbayer ist der Entwickler der Long Short Term Memory-Technik, die neuronalen Netzen zu einem Gedächtnis verhilft: Hochreiters LSTM-Papier zählt zu den meistzitierten KI-Arbeiten der Welt. Wiederholt kritisierte der KI-Professor die Digitalstrategien der Bundesregierung (Digitale Strategie für Österreich, „AIM AT 2030“).

Was werden die ersten umfassenden KI-Anwendungen im administrativen Gesundheitsbereich sein?
Krankenhausmanagementsysteme sind komplexe und vielschichtige Gebilde. Es gibt Software, die sich auf das Personal konzentriert. Es gibt Programme, mit denen die Bettenkapazitäten administriert werden. Und dann existiert – neben vielen anderen Komplexen – auch das Patientengesundheitssystem, in dem dokumentiert wird, wer warum in der Klinik ist, welche Untersuchungen gemacht, welche Medikamente verabreicht werden und wie die Pflegeanweisungen aussehen. Es braucht ein System, das die gesamte Realität einer Klinik am Schirm hat. Mit der Frequenz der Patientenaufnahmen besteht auch ein direkter Zusammenhang mit der Schichtenplanung für das Personal. Entsprechend den eingemeldeten Verbräuchen und Bedürfnissen der Patienten werden Kapazitäten reserviert und der Einkauf über schwindende Lagerbestände informiert. Mit KI-Methoden werden die Abläufe beschleunigt, sofern es ausreichend Daten gibt, mit denen die Prozesse unterlegt werden können.

Gibt es dafür schon Beispiele?
Samsung errichtet in Korea eine Klinik, die lernende Systeme als State of the Art definieren will. Die Wände sind komplett mit Sensoren ausgerüstet, um zu beobachten, ob jemand aus dem Bett gefallen, ob der Gesundheitszustand aufgrund von Bewegungen ok ist und ob das Ess- und Trinkverhalten in der Norm sind. Passt die Medikamentenaufnahme? Die Krankenschwester muss nicht mehr jede halbe Stunde nachschauen. Das macht das Haus.

Sie sprechen vom Samsung Medical Center in Seoul. Sie haben die Klinik bereits besucht. Was sind Ihre Eindrücke?
Ja. Jeder wollte Selfies mit mir machen. Es war schon beeindruckend, wie das Auftragswesen automatisiert wird, wie die Medikamentenverteilung von selbst läuft. Die KI-Palette reicht von einer Plattform für die medizinische Diagnostik bis zu kleinen Kuscheltier-Robotern, die einen positiven Effekt bei Patienten auslösen, wenn diese sie streicheln.

Wir wissen in Österreich nicht, welche Krankheiten Österreicher und Österreicherinnen haben. Haben wir ausreichende Gesundheitsdaten?
Ich verstehe nicht, warum es bei uns keinen Überblick über Diagnosen gibt. Ich akzeptiere, dass dies Aufwand bedeutet. KI kann diese Mehrarbeit aber sehr schnell überschaubar machen. Formate wie ChatGPT bringen dabei große Veränderungen. Die Gespräche werden zusammengefasst und analysiert, allen Beteiligten vorgelegt und wenn alles passt, werden Anamnese, Diagnose und Therapie automatisch eingegeben. Die KI schreibt mit, fasst zusammen und der Arzt gibt sein „okay“. Die Eingabe zu prüfen geht allemal schneller, als sie selbst eingeben zu müssen.

Welche Rolle spielt der Datenschutz in diesem Zukunftskonstrukt der Künstlichen Intelligenz?
Datenschutz ist immer zu gewährleisten. Aber es besteht in dieser Frage natürlich ein großer kultureller Unterschied zwischen Österreich und Deutschland, Europa, den angloamerikanischen Staaten und dem asiatischen Kulturkreis. Koreaner und Chinesen haben zu dem Thema einen anderen Zugang. Für uns in der Forschung macht dies die Umstände schon schwieriger. Das muss man so sagen.

Sollten wir beim Datenschutz im Digital Health-Bereich liberaler werden?
Die Antwort fällt mir ganz schwer. Einerseits heißt es, man müsse die Anforderungen an den Schutz der Privatsphäre verschärfen, weil man aus den Daten immer noch Rückschlüsse ziehen kann, um wen es sich handelt. Andererseits meinen nicht wenige Stimmen, wir sollten die Anforderungen an den Schutz präzisieren, um mit den Daten umfänglicher arbeiten und forschen zu können. Es ist aber nicht an mir zu entscheiden, wo die richtige Grenze ist. Das bleibt eine gesellschaftspolitische Frage.

Sie kämpfen für eine ordentliche Infra­struktur für die digitale Forschung. Ist Österreich bereit, die Technologie von KI zu nutzen?
Wir sind sehr träge. Und da rede ich von Europa im Generellen und von Österreich im Speziellen. Wir leben in verkrusteten Strukturen. Europa ist zu wenig flexibel. Nutzer in Asien oder in Amerika begegnen einer neuen Technik sehr offen: „Das probiere ich mal aus.“ In Europa denken die Unternehmen deutlich konservativer: „Schauen wir mal, was die anderen
machen.“

Ist das ein Generationenproblem?
Natürlich. Aber der Hang der Älteren zum Bewahren von Bewährtem ist normal. Das hat es immer schon gegeben. Was sich ändert, ist die Geschwindigkeit, mit der sich Umstände drehen. KI und Digitalisierung sind viel schnellere Technologien als alles, was wir bisher gesehen haben. KI-Anwendungen, die wir in Linz entwickeln, sind zwei Monate später bei Amazon auf der Plattform. Der Zug ist heute viel schneller aus dem Bahnhof als früher. Dann wird es schwer einzusteigen.

Lesen Sie hier unsere Titelstory: Intelligenz soll nicht künstlich sein.

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