Dass die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland, also die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und anzuwenden (1), nach wie vor gering ist, zeigen die Berichte der HLS-GER-Studien (2), ebenso die zeitlichen Trends (3). Diese seit Jahren bekannte Situation sollte insbesondere die Akteure des Gesundheitswesens auffordern, Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen den Zugang zu Gesundheitsinformationen zu erleichtern, ihr Verständnis und ihre Fähigkeit zur Beurteilung zu fördern und sie somit in der Anwendung gesundheitsrelevanter Informationen zu unterstützen.
Hierfür werden inzwischen gesundheitskompetenzfördernde Organisationen gefordert (4), in denen auf allen Ebenen des Managements und der Versorgung das Thema Gesundheitskompetenz der Nutzerinnen und Nutzer eine wichtige Rolle spielen sollte. Als Personen, die im direkten Kontakt zu den Erkrankten und deren An- und Zugehörigen stehen, sind in der direkten Umsetzung explizit Angehörige der Gesundheitsprofessionen gefragt (5, 6).
Aufgrund des breiten Wirkungsspektrums (über die gesamte Lebensspanne, von ambulant bis stationär, von Akut- über Kurzzeit- bis Langzeitpflege), der häufigen Kontaktfrequenzen und der hohen Interaktionsarbeit (7) sind besonders Angehörige der Pflegeberufe prädestiniert, die individuelle Gesundheitskompetenz ihrer Patientinnen und Patienten explizit zu stärken und zu fördern. Zudem erlernen Pflegefachpersonen in ihrer Ausbildung Aspekte der Gesundheitskompetenz wie präventive, rehabilitative und gesundheitsfördernde Beratungs- und Schulungsfähigkeiten (8). Es ist daher davon auszugehen, dass Maßnahmen zur Förderung und Stärkung der Gesundheitskompetenz von Pflegefachkräften nicht explizit benannt, aber dennoch implizit im Alltag umgesetzt werden. Dies belegen auch erste wissenschaftliche Analysen (9, 10, 11, 12).
In einer weiteren Studie wird derzeit der Interaktionskontakt zwischen Pflegefachpersonen und Patienten in der akutstationären Versorgung im Hinblick auf die (implizite) Unterstützung zur Förderung und Stärkung der Gesundheitskompetenz untersucht 13. Die Ergebnisse zeigen auch hier, dass Gesundheitskompetenzförderung im akutstationären Sektor durchaus geleistet wird. Bei der Analyse der Daten des Interaktionskontaktes anhand der Dimensionen der Gesundheitskompetenz nach Sørensen 1 liegt der Schwerpunkt der Stärkung und Förderung der Gesundheitskompetenz auf den Dimensionen Zugang und Verstehen. Pflegefachpersonen sind für Patientinnen und Patienten ein wichtiger Zugang zu Gesundheitswissen – die Praxis zeigt jedoch, dass eine explizite Vermittlung von Gesundheitswissen und gesundheitsrelevanten Informationen durch Pflegefachpersonen an Patienten nicht selbstverständlich ist. Erklärungen und Erläuterungen zu bestimmten Sachverhalten werden beispielsweise oft erst durch aktives Nachfragen seitens der Patienten gegeben. Durchgängig zu beobachten ist jedoch, dass, – wenn Pflegefachpersonen Gesundheitswissen und -informationen vermitteln, – sie dies stets in einer patientenorientierten und verständlichen Sprache vollziehen. Deutlich wird, dass die implizite Unterstützung in der Gesundheitskompetenzförderung stark vom individuellen beruflichen Selbstverständnis jeder einzelnen Pflegefachperson abhängt. Es wäre daher notwendig, Prozesse und Strukturen zu etablieren, die über das persönliche Selbstverständnis hinaus Maßnahmen zur Förderung und Stärkung der Gesundheitskompetenz mit fassen. Eine erste, förderliche Maßnahme wäre hier etwa eine Sensibilisierung der Pflegefachpersonen hinsichtlich der positiven Wirkung, die Erläuterungen und Erklärungen im direkten Handeln für Erkrankte haben (13).
Um von einer impliziten zu einer expliziten Umsetzung zu gelangen, sollten – mit dem Blick auf Adaptionsmöglichkeiten des Konzepts der Gesundheitskompetenz – die Prozesse und Strukturen der verschiedenen Versorgungssektoren (ambulant, akutstationär, Langzeit- und Kurzzeitpflege) geprüft werden. Denn die derzeitigen Herausforderungen, wie der Fachkräftemangel bei gleichzeitig steigender Anzahl an Pflegebedürftigen (14), lassen es nicht zu, ein neues, zusätzliches Konzept einzuführen.
Eine Möglichkeit der Adaption der Gesundheitskompetenzförderung könnte unter anderem über den Pflegeprozess erfolgen – ein Prozess, der zu den Kernaufgaben professioneller Pflege zählt und sich in allen Sektoren der Pflege wiederfindet. Das Pflegeberufegesetz 8 definiert die Gestaltung, Organisation und Steuerung des Pflegeprozesses als vorbehaltene Tätigkeit von Pflegefachpersonen und kann als Denk- und Problemlösungsstrategie bezeichnet werden, in der Pflegefachpersonen zielgerichtet, strukturiert und partizipativ arbeiten. Als mehrschrittiger Prozess dient der Pflegeprozess zunächst der Informationssammlung, der Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs (Ressourcen und Probleme) sowie der Festlegung der Pflegeziele, die anhand der geplanten und durchzuführenden Pflegemaßnahmen erreicht werden können. Der letzte Prozessschritt gilt der Evaluation. Hier werden die durchgeführten Maßnahmen entsprechend ihrem Zielerreichungsgrad überprüft und ggf. der neuen Situation angepasst. Der Pflegeprozess hat je nach Modell zwischen vier und sechs Prozessschritte, wobei sich vier Kernschritte (Assessment, Planung, Intervention, Evaluation) in allen Modellen wiederfinden.
Wenn es gelänge, das Konzept der Gesundheitskompetenz mit den gesundheitskompetenzfördernden Interventionen und Maßnahmen in den Pflegeprozess zu integrieren, wäre dies ein großer Schritt zur expliziten Förderung und Stärkung der Gesundheitskompetenz durch Pflegefachpersonen.
Fazit
Richtig und wichtig ist, dass die Bemühungen dahin gehen, dass Studien pflegesektorenspezifisch (ambulant, stationär, u.a.) angelegt sind. Nur so kann es gelingen, Strukturen und Prozesse sowie Bedarfe und Ressourcen zielgruppengenau zu analysieren und Maßnahmen und Interventionen abzuleiten. Eine erfolgreiche Umsetzung des Konzepts der Gesundheitskompetenz bedingt, neben dem Zusammenspiel zwischen Pflegepraxis, -management, -pädagogik und -wissenschaft, vor allem auch die Anpassung struktureller Rahmenbedingungen sowie die Bereitstellung von Ressourcen in der Praxis. Welche expliziten gesundheitskompetenzfördernden Interventionen in den unterschiedlichen Bereichen der professionellen Pflege umsetzbar sind, ist partizipativ mit Pflegefachpersonen und Leistungsempfangenden zu entwickeln. Denn die Profittragenden sind in erster Linie nicht die Pflegefachpersonen, sondern die Patienten, Klienten, Bewohner und deren An- und Zugehörige.
Implikationen für den Bereich der professionellen Pflege
■ Für die Pflegepraxis: Die implizite Umsetzung des Konzepts der Gesundheitskompetenz ist in der Pflege vorhanden. Es gilt, diese durch Adaption an vorhandene Strukturen und Prozesse der unterschiedlichen Sektoren in explizites gesundheitskompetenzförderndes Handeln zu entwickeln.
■ Für die Pflegepädagogik: Das Konzept der Gesundheitskompetenz ist sowohl in der grundständigen Ausbildung als auch in der Fort- und Weiterbildung zu verankern. Auch die Curricula der Pflegestudiengänge sollten diesbezüglich Einheiten integrieren. Nur so können Pflegefachpersonen auf allen Ebenen ihre Fähigkeiten und Kompetenzen im Hinblick auf explizite gesundheitskompetenzfördernde Aspekte, Maßnahmen und Interventionen für die Pflegepraxis umsetzen.
■ Für das Pflegemanagement: Die Aufgabe des Pflegemanagements besteht – neben der Stützung der Aufnahme von Fortbildungseinheiten zum Konzept der Gesundheitskompetenz – in der Gestaltung der förderlichen Strukturen und Prozesse zur Förderung und Stärkung von Gesundheitskompetenz im Verantwortungsbereich. Hierzu zählt neben der Adaption und Implementierung von Maßnahmen und Interventionen an bestehenden pflegerischen Prozessen auch die reflektierte Haltung hinsichtlich der Pflegeorganisationssysteme.
■ Für die Pflegewissenschaft: Forschende können die Einflüsse, die auf die Etablierung des Konzepts der Gesundheitskompetenz im Bereich der professionellen Pflege einwirken, spezifisch auf die Wirksamkeit hin untersuchen. Gerade dieser Bereich ist von Bedeutung, da wissenschaftliche Studienergebnisse zur Argumentation und Begründungen für die Implementierung des Konzepts der Gesundheitskompetenz elementar sind.
Autorinnen und Autoren:
Nadine Fischbock
Dipl. Pflegewirtin, Krankenschwester und Doktorandin im Promotionsprogramm „Chronische Erkrankungen und Gesundheitskompetenz (ChEG)“ am Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hannover, gefördert durch die Robert Bosch Stiftung.
Korrespondierende Autorin:
fischbock.nadine@mh-hannover.de
Friederike Guenther
Gesundheits- und Krankenpflegerin, Pflegewissenschaftlerin (BSc); Masterstudentin Barrierefreie Kommunikation (MA) an der Stiftung Universität Hildesheim, Masterstudentin Public Health (MScPH) an der Medizinischen Hochschule Hannover, ist tätig als studentische Hilfskraft an der Forschungsstelle Leichte Sprache an der Stiftung Universität
Hildesheim.
Johannes Stephan
Fachgesundheits- und Krankenpfleger für Psychiatrie, Praxisanleiter, Pflegewissenschaftler (BScN), Pflegepädagoge (MSc), Public Health (MScPH); ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Soziale Determinanten der Gesundheit, Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften der Technische Universität München tätig.
Literatur
1 Sørensen, K., Van den Broucke, S., Fullam, J., Doyle, G., Pelikan, J., Slonska, Z., Brand, H., & (HLS-EU) Consortium Health Literacy Project European. (2012). Health literacy and public health: A systematic review and integration of definitions and models. BMC Public Health, 12(1), 80. https://doi.org/10.1186/1471-2458-12-80
2 Schaeffer, D., Berens, E.-M., Gille, S., Griese, L., Klinger, J., de Sombre, S., Vogt, D., & Hurrelmann, K. (2021). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland vor und während der Corona Pandemie: Ergebnisse des HLS-GER 2 (S. 5180909 bytes) [Application/pdf]. Universität Bielefeld, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung. https://doi.org/10.4119/UNIBI/2950305
3 Hurrelmann, K., Klinger, J., & Schaeffer, D. (2020). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland: Vergleich der Erhebungen 2014 und 2020 (S. 635185 bytes) [Application/pdf]. Universität Bielefeld, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung. https://doi.org/10.4119/UNIBI/2950303
4 Brach, C., Keller, D., University of California, San Francisco School of Medicine, Hernandez, L., Institute of Medicine, Baur, C., Centers for Disease Control and Prevention, Parker, R., Emory University School of Medicine, Dreyer, B., New York University School of Medicine, Schyve, P., The Joint Commission, Lemerise, A. J., Institute of Medicine, Schillinger, D., University of California San Francisco School of Medicine, & Agency for Healthcare Research and Quality. (2012). Ten Attributes of Health Literate Health Care Organizations. NAM Perspectives, 02(6). https://doi.org/10.31478/201206a
5 Parker, R. (2009). Measuring Health Literacy: What? So What? Now What? In Measures of Health Literacy: Workshop Summary. National Academies Press (US). https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK45386/
6 Weiland, R., & Büscher, A. (2022). Förderung von Gesundheitskompetenz als Aufgabe der Gesundheitsprofessionen?: Eine qualitative Untersuchung. Prävention und Gesundheitsförderung, 17(3), 344–348. https://doi.org/10.1007/s11553-021-00874-5
7 Bauknecht, J., & Wesselborg, B. (2022). Psychische Erschöpfung in sozialen Interaktionsberufen von 2006 bis 2018: Ein Vergleich der Bereiche Pflege, frühkindliche Bildung, Schule, Soziale Arbeit und Polizei. Prävention und Gesundheitsförderung, 17(3), 328–335. https://doi.org/10.1007/s11553-021-00879-0
8 Gesetz über die Pflegeberufe (Pflegeberufegesetz—PflBG). (2017). https://www.gesetze-im-internet.de/pflbg/PflBG.pdf (letzter Zugriff am 13.04.2023)
9 Messer, M., & Murau, T. (2022). Förderung organisationaler Gesundheitskompetenz aus Sicht von Pflegefachpersonen. Ergebnisse einer qualitativen Studie. Prävention und Gesundheitsförderung. https://doi.org/10.1007/s11553-022-00993-7
10 Rathmann, K., Lutz, J., Salewski, L., Dadaczynski, K., & Spatzier, D. (2022). Tools zur Förderung der organisationalen Gesundheitskompetenz in Krankenhaus, Pflege und Eingliederungshilfe: Eine systematische Übersicht. https://www.monitor-versorgungsforschung.de/wp-content/uploads/2023/01/MVF_01-22_Rathmann.pdf
11 Stephan, J. (2022). Maßnahmen zur Förderung der Gesundheitskompetenz von Pflegekräften in Deutschland. Eine empirisch-qualitative Exploration. https://doi.org/10.13140/RG.2.2.26390.83528
12 Vogt, D., & Schaeffer, D. (2022). Gesundheitskompetente Organisationen. Erster Teilbericht – Bestandsaufnahme vorliegender Konzepte und Basis-Materialsammlung. Bielefeld: Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK), Universität Bielefeld.
13 Fischbock, N. (in Erscheinung, 2023). Arbeitstitel: Gesundheitskompetenz und Pflege – eine Analyse der organisationalen und professionsbezogenen Förderung von Gesundheitskompetenz in der akutstationären Versorgung. https://www.mhh.de/institut-fuer-epidemiologie/promotionsprogramm-cheg/stipendiatinnen/nadine-fischbock (letzter Zugriff am 14.04.2023)
14 Statista GmbH, R., & Radtke, R. (2022). Fachkräftemangel—Bedarf an Pflegekräften in Deutschland bis 2035. Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/172651/umfrage/bedarf-an-pflegekraeften-2025/, (letzter Zugriff am 13.04.2023)