Gendermedizin: Wie einst bei Semmelweis

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Autor: Alexandra Keller

Corona hat der Gendermedizin einen veritablen Dämpfer verpasst. Dass Frauen keine leichten Männer sind, durchdringt die Medizin in überaus zäher Langsamkeit.

Die Biografie des Arztes und Geburtshelfers Ignaz Semmelweis lieferte die Vorlage für den Begriff des „Semmelweis-Reflexes“: Er bezeichnet das Verhalten, wenn Platzhirsche in der Wissenschaft ihr Revier bedroht sehen und Neuerungen vehement sabotieren. Margarethe Hochleitner kennt das Zaudern und Zögern des medizinischen Establishments. Als Professorin für Medizin und Diversität an der MedUni Innsbruck verfügt sie zwar über etablierte Infrastruktur. Die Akzeptanz der Community gegenüber ihren Forschungsergebnissen beurteilt sie bislang als überschaubar: „Es gibt in manchen Fächern sehr viele Erkenntnisse zu Gendermedizin. Man muss diese Erkenntnisse endlich anwenden“, ärgert sich die Direktorin der Innsbrucker Gender Medicin Unit. Beim Thema Corona-Pandemie wird die kampferprobte Medizinerin wütend. „Corona hat der Gendermedizin einen starken Dämpfer verpasst. Es hat mich wahnsinnig geärgert, dass spezifische Erkenntnisse ignoriert wurden, die solide sind und fundiert“, sagt Hochleitner. Die Kardiologin hat ihr medizinisches Forschungsgebiet frühzeitig auf das Gebiet der Gendermedizin erstreckt. Männer und Frauen ticken körperlich völlig verschieden. Schlimmstenfalls ist die medizinische Gleichbehandlung von Mann und Frau letaler Unsinn.

Der große Unterschied: Seit Jahrzehnten wird evidenzbasiert geforscht, in welchen Bereichen Mann und Frau medizinisch unterschiedlich ticken. In der Pandemie wurden die diagnostischen und therapeutischen Unterschiede komplett vernachlässigt.

Eindimensional männlich

„Als ich in den 70ern studiert habe, gab es im anatomischen Atlas den Mann und dazu eine Variante Frau“, blickt Margarethe Hochleitner zurück. Ähnlich männlich sah es in den Lehrsälen aus: Frauen wurden als Studierende belächelt. Als Lehrende waren sie schlicht nicht vorhanden. Die männerdominierten Rahmenbedingungen beeindruckten Hochleitner wenig. Sie wählte die Kardiologie als Fachgebiet, bemerkte aber schnell, dass Männlichkeit nicht nur im streng hierarchischen System dominierte: „Mir ist aufgefallen, dass auf der Intensivstation fast nur Männer lagen.“ Die Herzchirurgie war eigentlich eine Männerstation, in der Schrittmacher häufiger bei Männern eingesetzt wurden als bei Frauen. „Dabei wusste man schon damals, dass mehr Frauen an Herzkrankheiten sterben als Männer“, kritisiert Hochleitner die Eindimensionalität der Diagnosen und Therapien. 1991 kam für Hochleitner der Knackpunkt: Im New England Journal of Medicine, der damals wie heute einflussreichsten Medizinzeitschrift, erschien ein Editorial mit dem Titel „Das Yentl Syndrom“ – in Anlehnung an den Film mit Barbra Streisand. In dem Artikel wurde die Frage aufgeworfen, warum Frauen geringere Chancen auf Spitzenmedizin haben als Männer. Behandlungen wie Herzkatheter, Bypassoperation, Klappenoperation oder Herztransplantation blieben deutlich öfter Männern vorbehalten als den weiblichen Patientinnen. „Frau muss erst beweisen, so herzkrank zu sein wie ein Mann, um dieselbe Behandlung zu erhalten“, war eine der ernüchternden Botschaften des Editorials. So lange zu leben, bis sie die entsprechende Behandlung bekommt, war – überspitzt formuliert – die Herausforderung für eine Frau in Herznot. „Im Editorial wurde festgehalten, dass koronare Herzkrankheiten so männlich besetzt sind, dass niemand wirklich daran denkt, dass eine Frau das auch haben könnte“, zeigt Hochleitner eine Spur Sarkasmus.

Fast 40 Jahre sind seit dem Editorial vergangen. Und doch musste Andreas Zierer, Vorstand der Universitätsklinik für Herz-, Gefäß- und Thoraxchirurgie am Johannes Kepler Universitätsklinikum (JKU) in Linz, Anfang August 2022 noch feststellen: „Kardiovaskuläre Ursachen sind die Todesursache Nummer eins bei Frauen. Es bleiben aber trotzdem viele Fragezeichen stehen, wa­rum es so eklatante Unterschiede gibt.“ Es gäbe unverändert „gravierende Unterschiede in der Geschlechterverteilung, was Herzkrankheiten angeht.“ Aber erst jetzt gehe man ernsthaft daran, diese Unterschiede zu erforschen. „Die Zahl der Publikationen steigt extrem an“, so der Vorstand er JKU-Thoraxchirurgie. Es gibt dafür hunderttausende Gründe. Dem aktuellen Bericht der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie zufolge sind im vergangenen Jahr 46 Prozent der Frauen und 37 Prozent der Männer an den Folgen kardiovaskulärer Krankheiten gestorben. Zierer: „Umgerechnet auf die Zahl der Bevölkerung in Europa sterben daran jährlich etwa 400.000 mehr Frauen als Männer.“

Ergometrie zieht bei Frauen nicht

Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass „Ergometrie eine sehr gute Screeningmethode für Männer mit koronarer Herzkrankheit ist. Bei Frauen ist diese Methode aber absolut fatal“, unterstreicht Genderforscherin Hochleitner. Es gäbe zu viele falsch positive und falsch negative Ergebnisse. „Jeder weiß, dass für Frauen nur ein Corona-CT oder ein -MR aussagekräftig ist“, ärgert sich die Innsbrucker Professorin. Daher fordert sie geschlechterspezifische Untersuchungen: für Männer die Ergometrie, für Frauen das CT oder MR. Das koste nicht mehr und sei auch kein größerer Aufwand. „Doch das passiert nicht“, ist Hochleitner fassungslos. „Die jahrzehntelang gut dokumentierten Erkenntnisse werden einfach nicht berücksichtigt.“ Der Semmelweis-Reflex bleibt resistent.

Zu den „Klassikern“ genderspezifischer Diagnosen und Therapien zählt der Herzinfarkt, der bei Frauen andere Symptome zeigt als bei Männern. Oder die Behandlung von Bluthochdruck, wo die Tatsache, dass bei Frauen weit häufiger Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten auftreten, viel zu selten die Art der Medikation bestimmt.

An der Medizinischen Universität Innsbruck zählt Gendermedizin seit bald 20 Jahren zur Pflichtlehre. Auch in Linz wird über den Unterschied zwischen Mann und Frau nachgedacht. Im Rahmen einer laufenden JKU-Studie werden die geschlechterspezifischen Unterschiede der Aorta untersucht. Ganz wichtig: Am 5. Oktober 2022 (und nach dem Redaktionsschluss) endete die Ausschreibungsfrist für eine JKU-Professur für Versorgungsforschung mit Schwerpunkt Geschlechtermedizin. 

Margarethe Hochleitner, Direktorin der Innsbrucker Gender Medicin Unit, im Kurzinterview:

Fatale Folgen

ÖKZ: Wie gendergerecht ist Sars-CoV-2?
Margarethe Hochleitner: Es hat mich zu Tode geärgert, dass zwei Jahre lang behauptet wurde, es sterben nur die alten Frauen an Corona. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass Infektionskrankheiten in der Regel Männer mehr treffen, dass schwerere Formen auftreten und mehr daran sterben. Jetzt gibt es Daten, die das bestätigen. Gender ist überhaupt nicht mehr vorgekommen. Es wurde mit einer Sicht auf Corona geschaut, die absolut veraltet ist. Das hatte fatale Folgen.

Wo liegen die medizinischen Unterschiede zwischen Mann und Frau?
Jeder Mensch weiß, dass Medikamente, auch Impfungen, bei Frauen wesentlich mehr Unverträglichkeiten und Allergien hervorrufen. Jeder Medizinerin und jedem Mediziner ist bekannt, dass Frauen vor dem Wechsel am ehesten von Nebenwirkungen betroffen sind. Es wurde aber nicht einmal überlegt, jene Präparate, bei denen vermehrt unerwünschte Effekte aufgetreten sind, nur bei Frauen nach dem Wechsel anzuwenden. Es wäre so einfach gewesen.

Wurde in der Pandemie die Gendermedizin vernachlässigt?
Ja, weil niemand auf die Idee kam, dass man die Erkenntnisse, die wir haben, auch verwenden sollte. Ich hatte in der Zeit auch keinerlei Anfragen für Vorträge oder von Zeitschriften. Seit fast einem Jahr geht es aber wieder los.

Vorreiterin: Margarethe Hochleitner ist Direktorin der Innsbrucker Gender Medicin Unit: „Herzkrankheiten sind so stark männlich besetzt, dass niemand wirklich daran denkt, dass eine Frau das auch haben könnte.“

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