Jochen Werner: „Müssen dem bürokratischen Unsinn ein Ende machen“

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Autor: Josef Ruhaltinger

Jochen Werner hat die Uniklinik Essen zur digitalen Vorzeigeklinik Deutschlands gemacht. Er erzählt, mit welchen Hindernissen er zu kämpfen hat, wie wichtig Nerds im Mitarbeiterteam sind und warum viele Kollegen die Digitalisierung gar nicht wollen.

Herr Professor Werner, Sie sind Ärztlicher Leiter und Vorstandsvorsitzender der Essener Universitätsklinik. Ihr Haus liegt „ganz vorn in Deutschland, wenn es um Digitalisierung geht“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Was bringt die Digitalisierung für ein Krankenhaus?
Jochen Werner: Wo soll ich anfangen? Wir schlagen neue Seiten in den Medizinbüchern auf. Die Qualität der Medizin wird besser werden, die Medizin wird menschlicher werden. Wir werden Krankheiten finden, die wir noch gar nicht kennen. Es wird sich viel verändern.

Sie klingen euphorisch …
Ich komme aus einem ganz klassischen Krankenhaus-Betrieb. Ich habe miterlebt, wie wir von der Schreibmaschine zum Computer gekommen sind, wie aus Teams, in denen Mediziner und Pflegedienste miteinander gearbeitet haben, getrennte Gruppen geworden sind. Alles hat sich spezialisiert und differenziert. In diese Phase der Fragmentierung kommt eine Technologie, die auf Automatismen setzt. Die Digitalisierung fängt an, alles, was wir vorher getrennt haben, wieder zusammenzuführen. Früher hat man alle Dienstpläne händisch geschrieben. Einer oder eine aus dem Team fiel aus und alles rutschte ins Chaos. Das kann es doch nicht sein. Wir brauchen Digitalisierungstechniken, um diesem bürokratischen Unsinn ein Ende zu machen. Von der Schreibmaschine zum PC, von der Wählscheibe zum Smartphone, vom Schwarz-Weiß-Fernsehen zum digitalen TV. Das nennt man technischen Fortschritt.

Spital mit Hirn. Der Essener Uni-Klinik-Chef Jochen Werner ist Vordenker und Vorkämpfer der Idee des digitalen Krankenhauses. Die Technik soll helfen, den Patienten wieder in den Fokus zu stellen. Bislang sei dies noch nicht gelungen.

Ich fasse nach: Ist die Digitalisierung der Gamechanger?
Es kommt darauf an, was man daraus macht. Die Digitalisierung kann eine Klinik so viel effizienter machen, wenn wir nur die Technologie in unsere Häuser lassen würden. Wir setzen die Chancen der Digitalisierung in unseren Krankenhäusern nicht um. Wie gestalten wir unsere Anmeldeverfahren? Wo wird ein Termin dokumentiert? Wie lotsen wir Menschen durch unsere Krankenhäuser? Wie organisieren wir unsere Logistik? Ich sage es Ihnen: In den meisten Kliniken läuft das ab wie vor zwanzig Jahren.

Was hat in Essen funktioniert, was anderswo nicht geklappt hat?
Ich bin 2015 über Gießen und Marburg nach Essen gekommen und war überzeugt, dass wir die Stärken der Digitalisierung nutzen müssen. Meine Ansage war: Wir müssen das digitalisierte Krankenhaus Wirklichkeit werden lassen. Viele haben den Ausdruck „Smart Hospital“ das erste Mal gehört. Das Ganze ist kein Selbstzweck. Die Digitalisierung muss uns helfen, den Menschen deutlich stärker in den Fokus unseres Handelns zu stellen. Wir müssen die Technologie rasch einsetzen, wo sie uns entlastet: in der Dokumentation, in der Telefonie, in der Bettenadministration. Es gibt unzählige Beispiele, wo uns Digitalisierung effizienter macht und Arbeit abnimmt.

Wie war bei Ihrem Antritt der Empfang im Haus?
2015 hat man mir sehr deutlich zu erkennen gegeben: Herr Werner, das hört sich alles ganz gut an, aber das ist schlichtweg nicht finanzierbar. Dann hat es auch geheißen: Digitalisierung führt zur Entmenschlichung der Medizin. Das wolle niemand. Man kann sagen: Das Lamento war endlos.

„Wir brauchen wieder mehr Zeit für den Patienten und weniger für die Adminis­tration“, fordern Sie. Kann die Digitalisierung dieses Versprechen halten?
Die Technologie hält, was sie verspricht. Das System nicht. Wir haben das Problem, dass wir die arbeitenden Menschen im Spital entlasten, aber die Patienten das nicht zu spüren bekommen. Glauben Sie, dass jemand, der zwanzig Minuten durch digitalisierte Dokumentation am Tag freigespielt wurde, zwanzig Minuten länger am Patientenbett verbringt? Ich glaube das nicht. Es ist richtig: Wir beginnen, durch Digitalisierung Abläufe effizienter zu gestalten. Aber ist dadurch die menschliche Versorgung, die Wertschätzung, die Empathie ein Stück besser geworden? Kein bisschen. Der Hype um das Thema, die vielen Digital Health-Kongresse, an denen ich teilnehme, all diese Dinge haben die Welt in den Spitälern nicht besser gemacht. Der Faktor Mensch ist das große Problem.

Wir haben das Problem, dass wir die arbeitenden Menschen im Spital entlasten, aber die Patienten das nicht zu spüren bekommen. Die Technologie hält, was sie verspricht. Das System nicht.

Das müssen Sie erklären …
Digitalisierung bedeutet Transparenz. Sie erlaubt die umfassende Dokumentation von Leistungen. Viele wollen diese Transparenz gar nicht. (wird emotional) Von diesen Bekenntnissen ist ganz viel gelogen. Wer will denn, dass von außen gesehen wird, was alles in der letzten Schicht gemacht wurde? Da ist vielen lieber, wir leben weiter in einer Waschküche, in der alles neblig ist. (ist noch immer zornig) Es gibt keinen Bereich in der Gesellschaft, der so nebulös ist wie ein Krankenhaus. Wenn jemand mit Ideen kommt wie etwa eine digitalisierte Dokumentation des Patientenweges, dann hagelt es Argumente, warum das nicht geht. Das Krankenhaus werde zur Fabrik, heißt es. Die Entmenschlichung drohe, heißt es. Es sei der Weg zum Überwachungssystem, heißt es. Ich sage Ihnen: Das ist vollkommener Unsinn. Wir haben eine Lösung für unsere Probleme. Und wir nutzen sie aus fadenscheinigen Gründen nicht. Wir hätten mit der digitalen Technologie die Möglichkeit, uns eine starke, menschliche Medizin zu schaffen. Ich sage Ihnen: Viele wollen es gar nicht.

Wir bringen die Vorteile der Digitalisierung nicht zum Patienten?
Richtig. Wir bringen die Effizienzgewinne nicht zu den Menschen. (Pause) Ich bin aber überzeugt, dass das starre System in Bewegung kommt – und zwar durch Druck von außen. Die Patienten werden ihre Krankheitsgeschichte in ChatGPT oder Google Bard oder was auch immer eintippen und fragen: Wo soll ich hingehen? Die Haltung der Patienten wird sich durch KI-Information verändern. Ich habe gerade mit einem Kollegen ein Buch fertig geschrieben, das den Titel trägt: Der smarte Patient. Der smarte Patient bedeutet der informierte Patient. Ich habe die Hoffnung, dass der aufgeklärte Patient nach dem Stand der Möglichkeiten behandelt werden will. Wenn die Menschen wissen, was sie erwarten dürfen, werden sie dies einfordern. Und das macht Druck. Sonst irren wir weiter durch den Nebel.

Hatten wir diesen Glauben nicht auch bei der Einführung des Internets und der vermeintlichen Demokratisierung von Information? Das Ergebnis sind Social Medias und Parallelwelten. Ist Ihr Optimismus berechtigt?
Der Siegeszug von KI ist unabwendbar. Es ist völlig egal, ob das jemand gut findet oder nicht. Natürlich: Die Bots machen Fehler. Aber sie lernen schnell. Und ich denke, dass durchschnittliche Antworten aus den trainierten Chatbots einen höheren Wahrheitsgehalt haben als irgendwelche persönlichen Meinungen bei Facebook oder Youtube oder TikTok. Ich hege die Hoffnung, dass die künstliche Intelligenz der natürlichen Intelligenz helfen kann.

Prof. Dr. Jochen A. Werner wurde in Flensburg geboren und ist Facharzt der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Seit seiner Berufung zum Vorstandsvorsitzenden und Ärztlichen Direktor der Universitätsmedizin Essen im Herbst 2015 forciert er den Leitgedanken des „Smart Hospital“. Das Uniklinikum Essen gilt in Sachen Digitalisierung als das führende Krankenhaus Deutschlands.

Was hat der Patient davon?
Neben einer besseren Gesundheitsversorgung hat er endlich Zugang zu professionellen Informationen. Patienten brauchen für manche Diagnosen und Therapien den Zugang zu einer zweiten Meinung. Bei Operationen halte ich dies für dringend notwendig. Die meisten Patienten scheitern daran, eine zweite ärztliche Meinung zu bekommen. Aber wer soll die zweite Meinung geben? Kein Arzt ist begeistert, wenn der Patient kommt und die Unterlagen haben will, um bei Frau Dr. XY eine zweite Meinung einzuholen. Der Arzt guckt erst mal komisch. Und dann windet er sich. Viele Patienten lassen sich einschüchtern und verzichten. Diese Schwellen wird es bei maschinell begründeten Meinungen nicht geben.

Werden KI und Automatisierung den ärztlichen Alltag verändern?
Das System wird den Alltag nochmal transparenter machen. Und wir werden präzisierte Therapie-Empfehlung bekommen. Außerdem bin ich überzeugt, dass die künstliche Intelligenz die Diagnostik maximal verändert. Die Qualität der Behandlungen wird besser. Ärztinnen und Ärzte müssen sich nicht mehr zentral mit diagnostischen Fragen beschäftigen, weil sie gleichsam automatisiert beantwortet werden. Dadurch kann der Mediziner den Patienten viel enger auf dem Weg der Therapie begleiten. Das ist, was ich immer meine, wenn ich von mehr Zeit am Menschen spreche.

Es ist Ihnen gelungen, in Ihrem Haus die gesamte Patientenreise während des Klinikaufenthaltes digital zu dokumen­tieren – von der Aufnahme bis zum Entlassungsbrief. Wie haben Sie das Datenproblem gelöst?
Mit Hilfe besonders begabter Kolleginnen und Kollegen. Ein Kollege, in seinem Kernberuf eigentlich Radiologe, hat eine Datenplattform geschaffen, die extrem beeindruckend ist. Wir haben das SHIP genannt, Smart Hospital Information Plattform. Dort gehen alle Daten rein. Radiologie-Daten, Pathologie-Daten, Labor-Daten, auch Daten über die Raumtemperatur und was weiß ich. Ich muss das gesamte System erfassen, um die Rahmenbedingungen und die medizinischen Werte zu beurteilen. Um mit diesen Daten zu arbeiten und Muster zu erkennen, nützt SHIP künstliche Intelligenz. Jetzt haben wir die Möglichkeit, die Informationen wirklich zu nutzen. Unsere IT-Truppe sorgt dafür, dass wir die passenden Schnittstellen zum Krankenhaus-Informations-Systemen und zu anderen Systemen im Haus haben. Bei uns ist ganz, ganz viel vernetzt. Und das hat uns einen großen Schritt weitergebracht. Die schlechte Nachricht: Es ist noch ganz, ganz viel zu tun.

Wir werden in der digitalisierten Medizin noch viele Entscheidungen treffen müssen, die mehr mit Ethik und weniger mit Daten zu tun haben

Wird sich ein digitalisiertes Diagnose­ver­fahren mit KI-gestützter Therapie­empfehlung auch an Kostengrenzen halten?
Das ist eine extrem heikle Frage. Wird die beste Therapie, die wir mithilfe von künstlicher Intelligenz identifizieren, auch finanzierbar sein? In der Klinikwirklichkeit ist das der springende Punkt. Wenn die Maschine und die Ärzte unisono sagen, lieber Patient, dies wäre für Sie die wirkungsvollste Therapie, sie kostet allerdings im Jahr 47.000 Euro. Was passiert dann? Finanziert das die Kasse? Wir kommen in einen Bereich der Ethik, der völlig neu ist und bislang überhaupt nirgendwo thematisiert wird. Das will auch niemand öffentlich diskutieren. Wem verweigere ich die teure Therapie auf Kassenkosten? Ziehe ich in der Software Kostengrenzen ein? Setzen wir bei den KI-Empfehlungen Altersgrenzen? Schließlich müssen wir davon ausgehen, dass der Patient durch die KI über seine Therapiechancen informiert ist. Wir werden in der digitalisierten Medizin noch viele Entscheidungen treffen müssen, die mehr mit Ethik und weniger mit Daten zu tun haben.

Verantwortung verlangt nach Personen. Wer muss im Klinik-Management der Treiber der Digitalisierung sein?
In meinen Augen muss es der ärztliche Leiter oder die Leiterin sein. Sie müssen erkennen, wo die Krankenhaus-Medizin hingeht. Sie brauchen die Vision, welche Verbesserungen diagnostisch-therapeutisch durch digitale Technologie möglich ist. In dem Change-Prozess muss die ärztliche Leitung vorangehen.

Woher holt sich die medizinische Leitung das notwendige Wissen?
Die Wissensdynamik ist ein zentraler Punkt. Es gibt verschiedene Wege, am Laufenden zu bleiben. Ich gucke mir sehr viel an, was andere machen. Start-ups sind eine eindrucksvolle Quelle, um zu sehen, was alles möglich wird. Der nächste Schritt ist oft, eine Kooperation zwischen den Gründern und der Klinik zu etablieren und die Produkte zu testen. Aber es gibt auch interne Maßnahmen. Wir loben im Klinikum einen sogenannten Smart-Hospital-Innovation-Award aus. Die Initiative richtet sich an unsere 11.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Da sind viele innovative, kluge Köpfe dabei, deren Ideen wir nutzen und umsetzen wollen. Und Sie dürfen nicht vergessen: Hier arbeiten lauter Experten und Expertinnen: Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt oder die Herzchirurgin wissen sehr genau, was in ihrem Fach abgeht. Ich muss als Chef diese Ideen hören. Deswegen haben wir viermal im Jahr einen Smart-Hospital-Lenkungsausschuss etabliert, in dem viel Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenkommt. Daneben existieren viele Arbeitsgruppen, die die Idee vorantreiben. Und es ist seit 2015 keine Vorstandssitzung vergangen, in der nicht jede Maßnahme geprüft wurde, ob sie unsere Digitaloffensive fördert oder nicht. Wir müssen die inflationären Begriffe wie „Digital Health“ und „Digitalisierung“ mit Inhalten füllen. Sonst kriegen wir es nicht hin, die Patienten und Mitarbeiter in eine bessere Zukunft zu führen.

Wie geht es weiter mit dem „Smart Hospital“?
Wir brauchen die Digitalisierung wie einen Bissen Brot. Unsere Konsens-Kultur muss in dem Punkt auch einen etwas konfrontativeren Weg gehen. Wir müssen den Datenschutz so modellieren, dass wir ihn im Gesundheits-Sektor mehr aus Sicht des Patienten-Interesses sehen. Und wir müssen wieder Menschlichkeit und Wertschätzung in unser System bringen – gegenüber den Mitarbeitern und gegenüber den Patienten. Das sind die beiden Anker einer zukunftsorientierten Medizin. Dann haben wir eine Chance.  

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