Personalisierte Behandlung von Gehirn­tumoren

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Autor: Michael Krassnitzer

Welches Medikament wirkt bei einem individuellen Patienten mit Glioblastom am besten? Ein österreichisches Forschungsprojekt untersucht die Möglichkeit einer personalisierten Therapie bei bestimmten Gehirntumoren.

Sie schützt das Gehirn vor Krankheitserregern und schädlichen Substanzen: die Blut-Hirn-Schranke. Mehrere Schichten spezieller Zellarten in den Wänden der Blutgefäße sorgen dafür, dass nur ganz bestimmte Stoffe aus der Blutbahn in das Gehirn gelangen können, etwa Sauerstoff, Glukose oder Hormone. Aus medizinischer Sicht hat dieser unverzichtbare Schutzschild jedoch einen Haken: Die Blut-Hirn-Schranke verhindert nämlich auch, dass Medikamente über das Blut ins Gehirn transportiert werden können. Die limitierte Verfügbarkeit von Wirkstoffen im Gehirn ist einer der Hauptgründe, warum Gehirntumoren wie das Glioblastom so schwer zu behandeln sind.

Glioblastome sind die häufigsten bösartigen Hirntumoren bei Erwachsenen. Die Prognose ist enorm schlecht und die Symptome beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen in hohem Maße. Ein österreichisches Forschungsprojekt namens ATTRACT hat es sich zum Ziel gesetzt, das Überleben und die Lebensqualität von Patienten mit neu diagnostiziertem Glioblastom zu verbessern. Im Speziellen geht es um eine bestimmte Form des Glioblastoms: das MGMT Promotor unmethylierte Glioblastom. Die Forscher verfolgen dabei das Konzept der sogenannten funktionalen Präzisionsmedizin – ein translationaler Ansatz, dessen Erfolg bereits bei Leukämien und Lymphomen gezeigt werden konnte. „Die klinische Studie, die wir im Rahmen von ATTRACT durchführen, ist die erste ihrer Art“, betont Projektleiterin Anna Sophie Berghoff, assoziierte Professorin an der Universitätsklinik für Innere Medizin I/klinische Abteilung für Onkologie der MedUni Wien.

Auf den Punkt und sehr persönlich. Die österreichischen Forscher verfolgen bei ATTRACT das Konzept der sogenannten funktionalen Präzisionsmedizin – ein translationaler Ansatz, der Glioblastome durch individuell abgestimmte Therapien behandelbar machen soll.

Drug-Screening-Plattform

Am Beginn der Behandlung eines neu diagnostizierten Glioblastoms steht zunächst die Operation: Der Tumor wird im Zuge eines neurochirurgischen Eingriffs entfernt. Bereits das ist eine große Herausforderung. Damit es zu keinem Funktionsverlust bei Patienten kommt, können die Neurochirurgen praktisch nur den Tumor selbst entfernen. Hinzu kommt, dass sich die Glioblastomzellen von Anfang an im Gehirn ausbreiten. Selbst wenn es dem Chirurgen gelingt, den Tumor vollständig zu entfernen, und wenn die anschließende Strahlentherapie etwaige Reste des entfernten Tumors endgültig vernichtet, verbleiben trotzdem einzelne Tumorzellen in anderen Arealen des Gehirns und führen zur Entstehung neuer Läsionen.

Um auch noch diese Zellen zu zerstören oder zumindest ihr Wachstum einzuschränken, erhalten Glioblastom-Patienten zusätzlich eine Chemotherapie. „Leider ist die Wirksamkeit der Medikamente, die wir gegen ein Glioblastom einsetzen können, nicht sehr groß“, räumt Berghoff ein. Eine geringe Wirksamkeit bedeutet, dass eine hohe Konzentration der Medikamente vonnöten ist – das aber verhindert die Blut-Hirn-Schranke, auch wenn diese bei den Gefäßen, die den Tumor versorgen, nur noch eingeschränkt vorhanden ist („Blut-Tumor-Schranke“).

Im Rahmen von ATTRACT wird nun eine Methode untersucht, um noch vor Beginn der onkologischen Therapie herauszufinden, welche Medikamente beim individuellen Patienten am besten wirken. Die Wirksamkeit wird an den bei der Operation entnommenen Tumorzellen, die im Labor am Leben erhalten werden, mittels einer Drug-Screening-Plattform getestet. Diese Drug-Screening-Plattform ist nichts anderes als ein vollautomatischer Apparat, in dem sich Petrischalen voller Tumorzellen befinden. Mittels Roboterarm werden die Tumorzellen mit 28 verschiedenen Medikamenten in unterschiedlichen Konzentrationen behandelt. Nach sieben Tagen wird dann mittels chemolumineszenter ATP-Quantifizierungsmessungen eruiert, welche Medikamente in welcher Konzentration am erfolgreichsten bei der Bekämpfung der Tumorzellen waren und die meisten Tumorzellen abgetötet haben. Auf diese Weise kann auf individueller Basis getestet werden, welches Medikament bei diesem spezifischen Patienten die beste Wirkung erzielen könnte.

Normalerweise werden Substanzen in der Präzisionsmedizin aufgrund von vorliegenden Biomarkern ausgewählt. Weist ein Tumor eine bestimmte Mutation auf, so weiß man aus Studien, welche Medikamente in diesem Fall am besten wirken könnten. Denn bei mutierten Zellen sind bestimmte Signalwege besonders aktiv. Indem diese blockiert werden, hofft man, die Zellen abzutöten. Doch das funktioniert bei weitem nicht immer. Selbst gut ansprechende Medikamente – bei anderen Organen als dem Gehirn – wirken nur bei 40 bis 60 Prozent der Patienten. „Indem wir die Medikamente an den Zellen des individuellen Patienten testen, hoffen wir, die Ansprechraten zu erhöhen“, erläutert Berghoff. Daher auch der Begriff „funktionale Präzisionsmedizin“, weil diese nicht auf Theorie und Erfahrungswerten fußt, sondern weil die konkrete Funktion der Tumorzellen beim Test über die Behandlung entscheidet.

Premierengeeignet. Sie leitet die erste kollaborative klinische Studie dieser Art in Österreich: Anna Sophie Berghoff, Forscherin an der Universitätsklinik für Innere Medizin I der MedUni Wien.

Personalisierte Behandlung

Die Studie wird an fünf österreichischen Zentren durchgeführt: an der klinischen Abteilung für Onkologie/Universitätsklinik für Innere Medizin I der Medizinischen Universität Wien, an der klinischen Abteilung für Neurologie der Medizinischen Universität Graz, an der klinischen Abteilung für Neuroonkologie und Innere Medizin des Kepler Universitätsklinikums Linz, der klinischen Abteilung für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck und der klinischen Abteilung für Neurologie der Karl Landsteiner Privatuniversität St. Pölten. „Auf diese Weise wollen wir möglichst vielen Patienten und Patientinnen in Österreich die Möglichkeit geben, an der Studie teilzunehmen“, erklärt Berghoff. Abgesehen davon ist bei Forschungsprojekten dieser Größenordnung die Zusammenarbeit von mehreren Zentren heutzutage selbstverständlich.

Ein weiterer Kooperationspartner ist das CBmed (Center for Biomarker Research in Medicine) in Graz, das die Drug Screening Plattform betreibt. Das Forschungszentrum, deren Eigentümer die Medizinische Universität Graz, die Medizinische Universität Wien, die Technische Universität Graz, die Karl-Franzens-Universität Graz, die Joanneum Research Forschungsgesellschaft und das Austrian Institute of Technology sind, ist eines der wenigen Zentren in Europa, das eine derartige Plattform für universitäre Forschungszwecke betreibt. Durch die Identifizierung, das Monitoring und die zielgerichtete Therapie auf Basis molekularer Analysen soll letztlich in allen Bereichen der Onkologie eine personalisierte Behandlung ermöglicht werden.

Lebenswichtige Förderung

Doch ATTRACT besteht aus mehr als nur der beschriebenen Studie. „Wir versuchen auch, eine bessere Idee für die Biologie hinter der Wirksamkeit von Medikamenten beim Glioblastom zu bekommen“, bekräftigt Berghoff. Warum wirkt ein bestimmtes Medikament und ein anderes nicht? Gibt es noch andere Methoden als das Drug Screening, um das beste Medikament für einen individuellen Patienten zu finden? Zu diesem Zweck wird alles an Information aus den Tumorzellen herausgeholt, was der aktuelle Stand der Wissenschaft ermöglicht: das Erbmaterial der Tumorzellen und deren spezifische Mutationen; die Auswirkungen der genetischen Veränderungen auf die Funktion der Zelle; und schließlich die Metabolomik, also das Studium der chemischen Fingerabdrücke des Zellstoffwechsels.

Gefördert wird das Forschungsprojekt durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung und die Ludwig Boltzmann Gesellschaft (LBG) im Rahmen des Programms „Klinische Forschungsgruppen“ (siehe Kasten). Dieses im Jahr 2023 ins Leben gerufene Programm soll eine Brücke von Grundlagenforschung zu konkreten medizinischen Anwendungen schlagen. Derartige Förderprogramme sind lebenswichtig für nicht-kommerzielle klinische Forschung. „Ohne diese Förderung würde es ATTRACT nicht geben“, betont Berghoff. 

Innovatives Förderprogramm – der nächste Call

Zeit zum Feiern. Ministerieller Beistand bei der Vorstellung der drei KFG-Projekte.

Das von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft (LBG) 2023 ins Leben gerufene Förderprogramm Klinische Forschungsgruppen (KFG) ist Österreichs erste kollaborative Forschungsinitiative mit Fokus auf patientenorientierte, medizinisch relevante Themen im Gebiet der nicht-kommerziellen klinischen Forschung. Bei einer Pressekonferenz mit BM Martin Polaschek wurden drei neue KFG aus den Bereichen Kardiologie, Gastroenterologie und Onkologie vorgestellt. „Mit diesem Programm schließt die LBG eine Förderlücke in der Klinischen Forschung in Österreich, die essenziell für junge klinische Forscherinnen und Forscher an den Medizinischen Universitäten ist“, erläutert Christine Bandtlow, Vizerektorin für Forschung und Internationales an der Medizinischen Universität Innsbruck.

Jedes der drei pro Call ausgewählten Projekte wird mit rund acht Millionen Euro gefördert. Die Laufzeit beträgt zweimal vier Jahre, wobei die zweite Förderperiode von einer erfolgreichen Zwischenevaluierung abhängt. Mit der Gesamtfördersumme von 24 Millionen Euro aus Mitteln des BMBWF und des Fonds Zukunft Österreich können sich die drei Forschungsgruppen vollständig auf ihre Forschung und deren gewonnene Erkenntnisse konzentrieren.

Die nächste Antragsrunde für das KFG läuft bereits. Auf der Website der LBG (lbg.ac.at/kfg) können bis 10. Oktober Kurzanträge eingereicht werden. Aus den Einreichungen wählt eine wissenschaftliche Expertenkommission einige Projekte aus, die schließlich zur Einreichung von Vollanträgen eingeladen werden. Die ersten im Rahmen des KFG geförderten Projekte sind neben ATTRACT das Forschungsprogramm MOTION zur Früherkennung und Behandlung von Pfortaderhochdruck und das Austrian Digital Heart Program zur Erkennung von Vorhofflimmern mittels Smartphone.

Quellen und Links:

Förderprogramm LBG für Klinische Forschung

ATTRACT – Advanced brain Tumor TheRApy Clinical Trial

Ludwig Boltzmann Gesellschaft fördert Forschungsprojekt mit JKU und KUK-Beteiligung

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