Prävention von Aggression und Gewalt in Krankenanstalten

Lesedauer beträgt 5 Minuten
Autor: Valentina Reschreiter und Anna Maria Dieplinger

Erfolgreiche Aggressionsprävention in Gesundheitseinrichtungen erfordert ein höheres Problembewusstsein der Betreiber und spezielle Schulungen der Belegschaft. Die Ergebnisse einer qualitativen Studie verweisen auf ein wachsendes Konfliktpotenzial.

Mitarbeitende in Krankenanstalten und Einrichtungen des Gesundheitswesens sind im Vergleich zu anderen Berufsgruppen am häufigsten mit Aggression, Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz konfrontiert (1). In diesem Zusammenhang zeigte die europäische Studie „Next“, dass rund 22 % der befragten Krankenpfleger:innen monatlich oder öfter mit Aggression und Gewalt konfrontiert sind (2). In der amerikanischen Studie „Incidence and Cost of Nurse Workplace Violence Perpetrated by Hospital Patients or Patient Visitors“ gaben rund 76% der Befragten an, innerhalb von 12 Monaten mit Gewalt konfrontiert gewesen zu sein (3). Betroffen sind nicht nur Mitarbeitende mit Patient:innenkontakt, sondern auch handwerkliches Personal, Reinigungskräfte oder Büroangestellte (4; 5). Die Auswirkungen von Aggression und Gewalt im Gesundheitswesen betreffen Mitarbeitende, Patient:innen wie auch Ins­titutionen. Bei den betroffenen Mitarbeitenden kommt es zu gestörten Patient:innenbeziehungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und vermehrten Krankenständen. Die Folge ist der verstärkte Wunsch, den Arbeitsplatz zu wechseln, bis hin zu einer kompletten beruflichen Neuorientierung. Das bedeutet für die Institutionen als auch das Gesundheitswesen den Verlust von finanziellen und personellen Ressourcen. (6; 3) In Anbetracht der aktuellen Personalbedarfsprognose, wonach bis 2030 rund 76.000 Pflegekräfte fehlen, sollte jede Maßnahme ergriffen werden, um das Personal in allen Belangen zu schützen (7).

Halt. Der Arbeitsalltag in Kliniken hat sich verhärtet. Spitäler benötigen heute umfassende Deeskalationsprogramme,
um den zivilisierten Umgang in Beleg- und Patientenschaft zu bewahren.

Welche Maßnahmen müssen auf politischer Ebene und vonseiten des Managements getroffen werden, um den Mitarbeitenden eine sichere Ar­beitsumgebung zu schaffen? Mit dem Ziel, umfassende Maßnahmen im Bereich Deeskalation und Prävention von Aggression und Gewalt in Krankenanstalten abzuleiten, wurde diese qualitative Untersuchung mittels Expert:inneninterviews durchgeführt. Als Expert:innen wurden Personen herangezogen, welche direkt in Krankenanstalten im Bereich des Deeskalationsmanagements tätig sind. Dies stellte sicher, dass auf umfangreiches Wissen und persönliche Erfahrungen hinsichtlich Planung und Implementierung von Deeskalationskonzepten Bezug genommen werden konnte. In die Untersuchung wurden alle Landeskrankenanstaltenträger in Österreich miteinbezogen. Von insgesamt neun Trägern nahmen letztendlich fünf an der Studie teil. Durch die geringe Stichprobengröße kann jedoch keine Aussage über die Gesamtsituation in den österreichischen Krankenanstalten getroffen werden. Das überschaubare Sample kann auf die hohe Sensibilität der Thematik oder auf eine noch zu geringe Auseinandersetzung mit Aggression und Gewalt zurückzuführen sein.

Die Ergebnisse der Studie zeigen aber die Notwendigkeit, ein umfassendes Deeskalationskonzept zu implementieren. Dieses gliedert sich in drei große Hauptgruppen: die Krankenanstalten, die Bildungseinrichtungen sowie der Bereich Politik und Recht. Die Aufteilung in diese drei Bereiche verdeutlicht auch, dass die Krankenanstaltenträger nicht allein für den Schutz der Mitarbeitenden verantwortlich sind (8).

Krankenanstalten

Das größte Potenzial zur Ableitung präventiver Maßnahmen betrifft die Krankenanstalten selbst. Die Entwicklung eines umfassenden Deeskalationskonzeptes beginnt bei der Bewusstseinsbildung. Das Management wie auch das gesamte Personal müssen Aggression und Gewalt als Problem wahrnehmen und nicht als „zum Beruf gehörig“ bagatellisieren. Es ist unumgänglich, dass eine einheitliche Sichtweise herrscht, wie mit Aggression und Gewalt umgegangen und welche innere Haltung diesbezüglich eingenommen wird. In weiterer Folge steht die Planung eines umfassenden und vor allem individuellen Deeskalationskonzeptes im Mittelpunkt. Dazu muss eine genaue Datenerhebung durchgeführt werden, welche vorbereitend oder auch laufend erfolgen kann. Diese bildet die Grundlage für die Risikoeinschätzung und dient den Mitarbeitenden als Kommunikationskanal, um bedrohliche Ereignisse zu melden. Die Maßnahme der Datenerhebung kann somit bereits positive Auswirkungen auf die Personalzufriedenheit haben. Auf Basis der gesammelten Daten werden individuelle Maßnahmen im baulichen, strukturellen und organisatorischen Bereich abgeleitet.

Als wichtigste Maßnahme der Primärprävention wurde von den Expert:innen die Personalentwicklung genannt. Individuelle Schulungsmaßnahmen geben den Mitarbeitenden Sicherheit und müssen für eine volle Wirksamkeit einen persönlichen Mehrwert aufzeigen. Ziel ist es, durch Wissen Sicherheit zu schaffen und somit die eigene Resilienz zu stärken. Im Fokus stehen hierbei nicht nur Grifftechniken zur Abwehr und Fixierung, sondern viel mehr die Reflexion und der Erwerb von Basiswissen in Bezug auf Aggression und Gewalt. Besonders wichtig ist die didaktische und methodische Aufbereitung hinsichtlich aktueller Vorkommnisse, aufbauend auf den persönlichen Erfahrungen der Mitarbeitenden. Die Schulungsmaßnahmen sollten in jedem Fall von ausgebildeten Trainer:innen für Deeskalation durchgeführt werden.

Als weiterer wichtiger Punkt ist die Nachsorge nach aggressiven Ereignissen hervorzuheben. Hier steht neben der körperlichen Nachsorge vor allem die psychische Nachbetreuung im Fokus. Die Organisation des Deeskalationsmanagements sollte in jedem Fall von eigens dafür zuständigem Personal geleitet werden, um das Funktionieren und die stetige Weiterentwicklung zu gewährleisten.

Valentina Reschreiter M.Ed
Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin im Klinikum Klagenfurt, Pädagogin für Gesundheitsberufe (li.)
reschreiter.valentina@gmx.at

Priv.-Doz.in Mag.a Dr.in
Anna Maria Dieplinger

Abteilungsleitung Kompetenz­management Gesundheits- und Sozialberufe (re.)
annamaria.dieplinger@ooeg.at

Bildungseinrichtungen

Laut den Expertinnen sind neue Mitarbeitende und Auszubildende nicht ausreichend auf den Umgang mit Aggression und Gewalt vorbereitet. Gleichzeitig gehören junge und unerfahrene Mitarbeitende jedoch zu jener Personengruppe, welche besonders häufig mit Aggression und Gewalt konfrontiert ist (9). Es stellt sich die Frage nach der Verankerung der Thematik „Umgang mit Aggression und Gewalt“ in den Curricula aller Gesundheitsberufe, um Auszubildende bereits während ihrer Ausbildung auf den Umgang mit Aggression und Gewalt vorzubereiten, zu schützen und so das Thema nicht als zum Beruf gehörig zu erleben8. Auf politischer und rechtlicher Ebene sind die Ergebnisse aus den Expert:inneninterviews nicht aussagekräftig. Auf rechtlicher Ebene zeigte sich, dass adäquate Schutzmaßnahmen eigentlich vorhanden sind, diese jedoch nicht oder nur unzureichend umgesetzt werden. Hier wäre es jedoch unbedingt erforderlich, dass die Möglichkeit besteht, Anzeigen nach aggressiven Übergriffen anonym zu machen. Dies gewährleistet, dass die Sicherheit der eigenen Person geschützt ist und die professionelle Beziehung zwischen Mitarbeitenden und Patient:innen aufrechterhalten bleibt. Die Möglichkeit zur anonymen Anzeige würde in weiterer Folge auch die offizielle Datenlage ändern, wodurch die Thematik für Politik und Gesellschaft mehr an Relevanz gewinnen würde.

Zur politischen Verantwortung wurde von den Expert:innen nur wenig Auskunft gegeben. Die Verantwortung der Politik bezieht sich hauptsächlich auf die Bereitstellung von Budget. Eine weitere ambitionierte Maßnahme, um Mitarbeitende mehr zu unterstützen, wäre eine Versicherung, welche etwaige Kosten von Folgeschäden deckt (8).

Belastbare Basis

Das Deeskalationsmanagement als gesamtinstitutionelles Konzept benötigt für das Gelingen die Zustimmung und Unterstützung aller Beteiligten. Es bedarf einer guten Zusammenarbeit, Kommunikation und Vertrauen zwischen den Mitarbeitenden vor Ort, den Führungskräften wie auch der Managementebene. Dies stellt eine adäquate Planung sicher und gewährleistet, dass die Individualität der Maßnahmen im Vordergrund steht und so den Bedürfnissen der Mitarbeitenden entspricht. Auf politischer und rechtlicher Ebene wie auch im Bereich der Bildungseinrichtungen konnten ungenutzte Potenziale zum Schutz der Mitarbeitenden und Auszubildenden festgehalten werden.

Im Sinne einer höheren Personalzufriedenheit und Personalbindung in Zeiten des Personalmangels im Gesundheitssektor ist eine flächendeckende Implementierung von Deeskalationsmanagements in allen Bereichen und für alle Mitarbeitenden wünschenswert und notwendig (8). 

Literaturverzeichnis

1 Eurofound (2013): Physische und psychische Gewalt am Arbeitsplatz. Amt für Veröffentlichungen der europäischen Union, Luxemburg
2 Estryn-Behar M et al (2014): Violence risks in nursing – results from the European „Next“ study.
Occupational Medicine, 58: 107-114
3 Speroni K et al (2014): Incidence and Cost of Nurse Workplace Violence Perpetrated by Hospitals Patients or Patient Visitors. Journal of Emergency Nursing, 40: 218-228
4 Zeh A et al (2009): Gewalt und Aggression in Pflege- und Betreuungsberufen – Ein Literaturüberblick. Das Gesundheitswesen, 71: 449-459
5 Oud N, Walter G (2009): Aggression in der Pflege. Verlag ibicura, Mönchengladbach
6 Richter D (2007): Patientenübergriffe – Psychische Folgen für Mitarbeiter. Theorie, Empirie, Prävention. Psychiatrie Verlag, Bonn
7 Rappold E, Juraszovich B (2019). Pflegepersonal – Bedarfsprognose für Österreich. Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, Wien
8 Reschreiter V (2022): Prävention von Aggression und Gewalt in Krankenanstalten.
o V, Klagenfurt
9 Richter D, Berger K (2001): Gewaltsituationen in der Pflege. Zusammenfassende Ergebnisse einer Studie über die Häufigkeit, körperliche und psychische Folgen sowie Präventionsmöglichkeiten. Psych Pflege,7: 242-247

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