Erkenntnisse aus der ChEG-Summer School: Anfang August veranstalteten die Promovierenden im Kolleg „Chronische Erkrankungen und Gesundheitskompetenz“ (ChEG) eine Summer School zum Thema „interdisziplinäre Gesundheitskompetenz(-forschung)“. In diesem Rahmen wurde erarbeitet, welche interdisziplinären Bezüge im Themenfeld Gesundheitskompetenz bestehen, vor welchen Herausforderungen Nachwuchsforschende stehen und was sie hierzu voneinander lernen können.
Gesundheitskompetenz ist ein wachsendes Forschungsfeld, das für eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen und Berufsgruppen zunehmend relevant wird. In diesem Kontext ist deshalb ein von der Robert Bosch Stiftung gefördertes Promotionsprogramm „Chronische Erkrankungen und Gesundheitskompetenz“ (ChEG) entstanden, das seit 2019 unter Leitung des Instituts für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in Kooperation mit der Universität Bielefeld, der Pädagogischen Hochschule Freiburg, der Universität Hildesheim und der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover durchgeführt wird. Ziel des interdisziplinär ausgerichteten Programms ist die wissenschaftliche Entwicklung von theoretischen Konzepten und empirischen Grundlagen im Bereich der Gesundheitskompetenz, bezogen auf Individuen, Professionen, Versorgungseinrichtungen und das Gesundheitssystem.
Die Summer School zielte darauf ab, Nachwuchsforschende aus verschiedenen Disziplinen und mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen zusammenzubringen, um gemeinsam zu diskutieren, Konzepte, Studiendesigns, erste Studienergebnisse und Erfahrungen auszutauschen sowie mit- und voneinander zu lernen. Über 30 Nachwuchsforschende, u.a. aus den Bereichen Public Health, Gesundheitspädagogik, Sportwissenschaft, Erziehungswissenschaft sowie Sprach- und Übersetzungswissenschaft, nahmen an der Summer School teil.
Das Programm wurde vom ChEG-Kolleg gestaltet und kombinierte anregende Impulsvorträge von erfahrenen Expertinnen und Experten und interaktive Formate wie die Vorstellungen erster Forschungsergebnisse aus den Dissertationsprojekten, Posterpräsentationen sowie Workshops der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. In den Workshops wurden vier Schwerpunktthemen besonders bearbeitet: Einbezug von Gesundheitsprofessionen und organisationale Gesundheitskompetenz, Berücksichtigung von Menschen in vulnerablen Lebenssituationen (beispielsweise aufgrund chronischer Erkrankung), Teilbereiche der Gesundheitskompetenzforschung (z.B. bewegungsbezogene oder digitale Gesundheitskompetenz) sowie zielgruppengerechte Kommunikation.
Expertenvorträge der Summer School
Marie-Luise Dierks, Leiterin des Forschungsschwerpunktes Patientenorientierung und Gesundheitsbildung an der Medizinischen Hochschule Hannover, Vorstandsmitglied des DNGK und Leiterin des Promotionsprogramms ChEG, eröffnete die Summer School und gab den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen Überblick über das Forschungsfeld Gesundheitskompetenz und damit verbundene Begriffe, Modelle und Perspektiven.
Sie zeigte auch aktuelle Herausforderungen auf, beispielsweise bei der Messung von Gesundheitskompetenz und der Differenzierung zwischen individueller, situativer und organisationaler Gesundheitskompetenz. In diesem Zusammenhang thematisierte sie die „Explosion“ des Begriffs Gesundheitskompetenz mit diversen Vor- und Nachsilben und wies darauf hin, dass die Grundlage der Gesundheitskompetenz – der Zugang, das Verstehen, das Beurteilen und Anwenden von Informationen – auch den diversen Subkategorien, beispielsweise der navigationalen, bewegungsbezogenen oder digitalen Gesundheitskompetenz, immanent ist.
Orkan Okan, Professor für Gesundheitskompetenz an der TU München und Vizepräsident der International Health Literacy Association, beleuchtete Gesundheitskompetenz aus der Bildungsperspektive und ordnete Forschungsaktivitäten in Deutschland in den internationalen Forschungskontext ein. Er betonte, dass es sich bei Gesundheitskompetenz im Kern um eine gesundheitsbezogene Informationskompetenz handele, die Individuen brauchen, um informierte Gesundheitsentscheidungen treffen zu können. Er skizzierte Gesundheitskompetenz als ein Ergebnis von Gesundheitserziehung und betonte die Abgrenzung zwischen Gesundheitskompetenz und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung.
Der Fokus des zweiten Tages lag auf der organisationalen Perspektive von Gesundheitskompetenz. Wenn Gesundheitskompetenz konsequent als Priorität verfolgt würde, müsste diese auch in Lebenswelten und Versorgungsinstitutionen mitgedacht werden, so Katharina Rathmann, Professorin für Sozialepidemiologie und Gesundheitsberichterstattung an der Hochschule Fulda und Sprecherin der AG Organisationale Gesundheitskompetenz des DNGK. Um eine gemeinsame Basis zu schaffen, stellte sie theoretische Grundlagen der organisationalen Gesundheitskompetenz sowie Praxisbeispiele aus aktuellen Forschungsprojekten vor und zeigte, dass Gesundheitskompetenz in Organisationen bislang noch nicht ausreichend berücksichtigt wird. Die anschließende Diskussion sowie ein folgender Workshop behandelten die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen organisationale Gesundheitskompetenz in Institutionen implementiert werden kann.
Zum Abschluss der Summer School beleuchtete Volker Amelung, Medizinische Hochschule Hannover, aktuelle und zukünftige gesundheitspolitische Herausforderungen und unterstrich die (gesundheits-)politische Relevanz von Gesundheitskompetenz und deren Förderung. Gleichwohl es einen langen Atem brauche, bis das Gesundheitssystem in seinen Strukturen gesundheitskompetenzförderlich agiere, so Amelung.
Diskussionsergebnisse der Summer School
Die Erkenntnisse der Impulsvorträge und prägnantesten Ergebnisse aus den Workshops der Summer School wurden zusammengeführt und abschließend diskutiert, um Handlungsbedarfe und Forschungsfragen für weitere Initiativen zu identifizieren.
Im Ergebnis kann festgehalten werden: Nach wie vor ist es eine der zentralen Herausforderungen, die Vielzahl an Definitionen und Konzepten so zu nutzen, dass Forschungsergebnisse im Kern vergleichbar sind. Ein sehr breites Verständnis von Gesundheitskompetenz (beispielsweise als eine „Lebenskompetenz“) kommt zwar der Verortung im Bereich der Gesundheitsförderung und einer Health-For-All-Ausrichtung sehr nahe, erschwert aber die empirische Erfassung. Hilfreich ist es, Forschungsvorhaben beispielsweise einerseits im Anwendungsfeld (digital, mental, bewegungsbezogen, organisational usw.) klar zu verorten und/oder eine definierte Dimension von Gesundheitskompetenz (suchen, finden, verstehen oder anwenden) entsprechend zu adressieren.
Auch sollte diskutiert werden, ob ein interdisziplinäres Forschungsfeld wie Gesundheitskompetenz durchaus verschiedene Spezifizierungen benötigt, insbesondere weil hier unterschiedliche Forschungstraditionen und -schwerpunkte zusammenlaufen, die unterschiedliche Herangehensweisen an Gesundheitskompetenz innehaben. Beispielsweise können einzelne Disziplinen Modelle der Gesundheitskompetenz um weitere Facetten ergänzen oder einzelne Dimensionen detaillierter aufgliedern. Andererseits besteht das Potenzial, dass Ansätze aus der Gesundheitskompetenz zur Erweiterung von Modellen in anderen Forschungsbereichen beitragen. Dies könnte das Wachstum des Forschungsfeldes steigern, schafft Flexibilität und bietet Anschlussfähigkeit zu weiteren (wissenschaftlichen) Disziplinen. Schließlich gilt es hier wie in vielen anderen Forschungsgebieten, die Partizipation der Menschen, die im Blick von Gesundheitskompetenzförderung stehen, aktiv voranzutreiben und deren Perspektiven systematisch in die Entwicklung von Forschungs- und Praxisprojekten einzubinden.
Die diskutierten und in den Workshops analysierten Beispiele zeigen, dass individuelle und organisationale Ansätze zur Gesundheitskompetenzförderung eng miteinander verzahnt sind und Überschneidungen immer dann aufweisen, wenn es gilt, Gesundheitskompetenz in den Lebenswelten und Versorgungssettings zu verankern. Dazu sollten zukünftig die Aufgaben, die Sichtweisen und die Interventionsstrategien unterschiedlicher Professionen in der Erforschung und Förderung von Gesundheitskompetenz deutlicher als bislang platziert werden.
Als Bindeglied zwischen Organisationen und Erkrankten kommt den (Gesundheits-) Professionen, aber auch Lehrkräften oder Mitarbeitern und regionalen Unterstützungseinrichtungen durch ihre persönliche Begleitung eine wichtige Rolle zu. Sie sollten in ihren Ausbildungscurricula mit dem Thema Gesundheitskompetenz und dessen Förderung vertraut gemacht werden. Entsprechend gilt es, Gesundheitskompetenz unter Berücksichtigung der Individuen, der jeweiligen Situationen, der professionellen Aufgaben und nicht zuletzt der organisationalen und systembezogenen Aspekte zu berücksichtigen und Interventionsprojekte entsprechend mehrdimensional anzugehen.
Das DNGK hat 2019 in seinem Positionspapier zur Organisationalen Gesundheitskompetenz in der Gesundheitsversorgung (1) darauf hingewiesen, dass sowohl individuelle Fähigkeiten und Eigenschaften als auch gesellschaftliche Strukturen und organisationale Bedingungen Gesundheitskompetenz ermöglichten. Gesundheitskompetenz sei als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Ein Auszug:
Acht Thesen zur organisationalen Gesundheitskompetenz
I. Gesundheitskompetenz ist eine individuelle Kompetenz, es braucht aber zwingend fördernde Strukturen in Politik und Gesellschaft, insbesondere in Einrichtungen des Gesundheitswesens, damit Individuen diese Kompetenz entwickeln und durchsetzen können.
II. Wenn individuelle kognitive oder sprachliche Fähigkeiten bei Menschen eingeschränkt sind, obliegt es in besonderem Maße den betreuenden Gesundheitsorganisationen und deren Mitarbeitern, den Betroffenen individuell angemessene Entscheidungen zu ermöglichen.
III. Gesundheitskompetenz ist keine statische Größe, über die ein Mensch immer im selben Maße verfügt. Vielmehr verändert sie sich abhängig von individuell erlebten Situationen, Maßnahmen und Erkrankungen oder Krankheitsstadien. Darauf müssen gesundheitskompetente Organisationen reagieren.
IV. Die Förderung von Gesundheitskompetenz kann dazu führen, dass Individuen sich bewusst gegen Interventionen entscheiden, die von Experten als wirksam und empfehlenswert angesehen werden. Gesundheitskompetente Organisationen unterstützen die Autonomie der Patienten und erkennen an, dass diese Experten für ihr eigenes Wohl sind.
V. Organisationale Gesundheitskompetenz ist zuerst eine Frage der Haltung der in ihnen Arbeitenden und dann eine Frage angemessener, definierter Prozesse.
VI. Einrichtungen der Gesundheitsversorgung brauchen Rahmenbedingungen, die ihre Anstrengungen für ein bürger- oder patientenzentriertes, die Gesundheitskompetenz förderndes Handeln unterstützen und dies nicht durch falsche Anreize („Ökonomisierung“) konterkarieren.
VII. Die ideelle und finanzielle Förderung organisationaler Gesundheitskompetenz ist eine gemeinschaftliche Verpflichtung und Aufgabe aller Akteure der Gesundheitsversorgung. Sie bedarf geeigneter, breit akzeptierter Instrumente, auf die alle Akteure sich verständigen können.
VIII. Das Konzept der „Organisationalen Gesundheitskompetenz“ bedeutet einen Perspektivwechsel: Nicht der Einzelne braucht Fähigkeiten, um ein komplexes Gesundheitssystem zu durchdringen, sondern das System muss Strategien bereitstellen, um der Komplexität der Menschen gerecht zu werden.
1) Schaefer C, Bitzer EM, Dierks ML für den Vorstand des DNGK. Mehr Organisationale Gesundheitskompetenz in die Gesundheitsversorgung bringen! Ein Positionspapier des DNGK. Köln, 15.11.2019. [cited: 2022-11-12].
Internet: dngk.de/gesundheitskompetenz
Autorinnen und Autoren:
Jacqueline Posselt, Sarah Ahrens, Leonard Oppermann und Aurelia Naoko Naef
Kontakt:
Das ChEG-Programm im Internet: Medizinische Hochschule Hannover, Promotionsprogramm ChEG: mhh.de
Ansprechpartnerin Summer School: Posselt.Jacqueline@mh-hannover.de
Das Deutsche Netzwerk Gesundheitskompetenz im Internet: dngk.de