Ein der Stadt Graz gehörendes, nur zu einem geringen Teil genutztes Gebäude sollte für die Bündelung von Angeboten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung besonders vulnerabler Bevölkerungsgruppen genutzt werden. Dies betrifft besonders alte und hochaltrige Mitbürgerinnen und Mitbürger. In der Stadt Graz sind dies rund 54.000 Personen in der Altersgruppe über 60, davon 13.000 über 80 Jahre. Der Anteil Hochaltriger an der Bevölkerung von derzeit rund 5 % wird sich bis zum Jahr 2040 verdoppeln und bis 2080 verdreifachen. Um Seniorinnen und Senioren solange wie möglich ein selbstständiges Leben zu Hause zu ermöglichen, müssen neben dem breit aufgestellten stationären Versorgungsangebot vor allem ambulante und „aufsuchende“ Angebote geschaffen werden.
Die Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz (GGZ) sind das Kompetenzzentrum für Altersmedizin und Pflege in der Steiermark, das Krankenhäuser, Pflegewohnheime und Tageszentren, ein Hospiz, alternative Wohnformen u.v.m. für ältere Menschen umfasst. Durch eigene wissenschaftliche Forschung im Albert-Schweitzer-Institut für Geriatrie und Gerontologie der GGZ und Kooperationen mit Hochschulen und öffentlichen Institutionen wird das Leistungsportfolio beständig ausgebaut.
In Kooperation mit Versorgungseinrichtungen in der schwedischen Region Jönköping entstand eine Zusammenarbeit mit der Frage: „Was ist das Beste für Esther?“, eine fiktive, eigenständige, aber hilfsbedürftige Seniorin in dieser Region. So konnten in den letzten 15 Jahren die Zusammenarbeit verbessert, stationäre Einweisungen um zwei Drittel verringert, die Kosten um 30 Mrd. SEK (ca. 2,8 Mrd. Euro) gesenkt und im Schnitt für die Bevölkerung acht gesunde Lebensjahre dazu gewonnen werden. Eine weitere Kooperation besteht mit der Steinbeis-Hochschule Berlin, um durch stetig agile und partizipative Lern- und Kooperationsfähigkeit die Potenziale von „Esther Thinking“ voll nutzen zu können.
Abb. 1: Ansicht von Haus Esther in der Bethlehemgasse 6 in Graz.
Das Ziel von Haus Esther
Die Stadt Graz entwickelt mit dem Haus Esther in der Bethlehemgasse ein in Graz einmaliges Synergieprojekt. Die Kooperation ist einmalig, weil sie verschiedene Ämter in einem gemeinsamen Haus zur synergetischen Arbeit für ihre Klienten verbindet, verschiedene vulnerable Zielgruppen zusammenführt und flexibel anpassbare, niedrigschwellige Hilfsangebote mitten in einem Brennpunkt der Stadt Graz vereint. Das Projekt ist so angelegt, dass es sich in den kommenden Jahren stetig weiterentwickeln und überregional eine Vorbildfunktion entfalten kann.
Haus Esther steht für eine klientenzentrierte, effiziente und auf der Partizipation der Betroffenen beruhende Kooperation von GGZ und Sozialamt mit Unternehmen, privaten Initiativen und der wissenschaftlichen Community. Das Mindset für das Haus Esther wurde zusammen mit internationalen Expertinnen und Experten aus Schweden, den Niederlanden, Deutschland und einem Grazer Architekturbüro entwickelt. Die Raumtypologie bringt erstmals funktions- und kooperationsorientierte Arbeitsgestaltung zusammen mit klientenzentrierter und partizipativer Entwicklung öffentlicher Dienstleistungen. Am 13. Juni 2022 konnte dank dieser integrativen Zusammenarbeit das Haus Esther im Beisein der Politik und wichtiger Kooperationspartner eröffnet werden (siehe Abbildung 1 oben).
Die Planungsgrundlage zur Gestaltung von Haus Esther und die Beschlussvorlage für den Rat der Stadt Graz wurde in einer Serie kooperativer, partizipativer Workshops auf Basis der Prinzipien von Co-Creation mithilfe agiler Methoden entwickelt. Dazu wurde ein Kernteam bestehend aus der Leitungsebene und Mitarbeiterschaft der beteiligten Ämter sowie einer Patientin und einer Angehörigen gebildet. In späteren Workshops wurden Expertinnen und Experten, z.B. mit Projekterfahrung aus den Niederlanden und Schweden, Planungs- und Finanzexperten und weitere Mitarbeitervertreter hinzugezogen. Zusätzlich zu den Workshops wurden Ortsbegehungen und Tiefeninterviews vor Ort durchgeführt. Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurden zur Einhaltung der Hygiene- und Sicherheitsvorschriften alle Workshops ab April 2020 als interaktive Online-Seminare (mit „GotoMeeting“) abgehalten. Das ursprünglich düstere Stiegenhaus mit Aufzug wurde mit der Meisterschule für Kunst, der Grazer Ortweinschule, künstlerisch gestaltet mit Motiven, die aus der Erinnerung und Erinnerungsstücken – z.B. Fotos – älterer Mitbürger stammen. Die folgende Abbildung zeigt den Ablauf des Projekts im Überblick (siehe Abbildung 2 unten).
Fazit und Ausblick
Im Projekt wurden eine Reihe materieller und immaterieller Fortschritte unter dem Leitgedanken „Esther“ erzielt. Dazu gehört die Entwicklung gemeinsamer Zielvorstellungen und Abstimmung bzw. Ausgleich unterschiedlicher Interessen, die Aufnahme konkreter Bedarfslagen und Anforderungen aller Beteiligten einschließlich der Patienten- und Angehörigensicht. Wichtige Projektschritte waren die Erzeugung von Entwurfsalternativen nach unterschiedlichen Grundsätzen, die nicht nur einfache Variationen des Grundrisses darstellen, und der Einbezug internationaler Best Practices aus Schweden, den Niederlanden und Deutschland.
Diese Fortschritte tragen zu einer Reihe sozialer und wirtschaftlicher Vorteile bei. Zu nennen ist die Reduktion baulicher Maßnahmen und Ersatz durch einfach zu verändernde Gestaltungsmaßnahmen (z.B. Möbel statt Wände) und dadurch geringere Investitionskosten. Die gewählte offene Architektur erlaubt leichteren Ausbau und Anpassung während der Nutzungszeit. Die Realisierung einer Wohlfühlatmosphäre für Klienten und Mitarbeitende gelang durch die Integration auch widerstrebender Ansprüche (z.B. offen und transparent vs. geschützt und Privatsphäre). Dadurch werden zugleich die Akzeptanz bei allen Zielgruppen erhöht und Konfliktpotenziale reduziert.
Die Erfolge der ersten Projektabschnitte zur Planung und letztlich zur Umsetzung und Eröffnung von Haus Esther zeigen, dass kooperative und partizipative Projekte, die verschiedene Ämter, Interessen und Zielgruppen umfassen, möglich und nützlich sind. Es sollte daher mehr Entwicklungsprojekte dieser Art in Mitteleuropa und global auf der Basis von Co-Creation mithilfe agiler Arbeitsmethoden geben, die verschiedene Ämter, Initiativen, Disziplinen und ganz besonders Patientinnen, Patienten und ihre Angehörigen aktiv in die Schaffung neuer, innovativer Versorgungsstrukturen einbeziehen.

Autoren:
Prof. Dr. Joachim Hasebrook
Steinbeis-Hochschule Berlin (li.)
Prof. Dr. Gerd Hartinger
Geriatrische Gesundheitszentren Graz (GGZ)
Kontaktemail: Marlies.Brugger@stadt.graz.at
