Land der begrenzten Möglichkeiten

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Autor: Heinz Brock

Das US-Gesundheitssystem ist besser dotiert als das Budget des Pentagon. Und dennoch haben weite Teile der US-Bevölkerung keinen adäquaten Zugang zu ärztlicher Versorgung.

Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten für viele wissenschafts- oder karriereinteressierte Ärztinnen und Ärzte als das Mekka der Medizin. Die herausragenden Forschungseinrichtungen der USA sind Heimstätten zahlloser bahnbrechender Innovationen, Nobelpreisverleihungen für Medizin finden selten ohne amerikanische Preisträger statt. Bei so viel Licht auf hochqualifizierte Spezialisten, exzellente Krankenhäuser und beste Outcome-Ergebnisse für bestimmte Krankheiten können die Schattenseiten des US-Gesundheitssystems leicht übersehen werden: Es ist das teuerste Versorgungssystem der Welt. Und es zählt gleichzeitig zu den ineffizientesten Systemen seiner Art.

Mehr Budget als das Pentagon.
Die Ausgaben für das US-Gesundheitssystem sind höher als die Kosten für das amerikanische Militär. Die Leistungen der Krankenkassen sind prämienbezogen: Eine schwere Krankheit bedeutet für viele US-Familien den wirtschaftlichen Ruin.

Land der Unterschiede

Die USA wenden für Gesundheitsversorgung mehr Geld auf (auch pro Kopf) als jedes andere Land der Welt. Ihre Bürger sind aber nur unvollständig abgesichert und die Verteilung der Versorgungs-Ressourcen auf Bevölkerungsgruppen und Regionen variiert in den 50 US-amerikanischen Staaten in weiten Bandbreiten. Im District of Colorado liegen die Gesundheitskosten pro Kopf etwa doppelt so hoch wie im Bundesstaat Utah.

Für die hohen Kosten werden drei Faktoren verantwortlich gemacht: die hohen Gehälter des Gesundheitspersonals, die Preise für Arzneimittel und die Administration des komplexen Systems. Ärzte und Pflegekräfte verdienen in den USA deutlich mehr als in anderen Ländern. Die hohen Einkommen der Ärzteschaft werden unter anderem dadurch begründet, dass die meisten Medizinstudenten Darlehen in Höhe von 300.000 bis 400.000 US-Dollar aufnehmen müssen, um überhaupt die Studiengebühren bezahlen zu können. Bei den Preisen für Medikamente spielen der Patentschutz und die hohe Rate von Neuentwicklungen eine Rolle. Acht Prozent des amerikanischen Gesundheitsbudgets entfallen auf die Verwaltung. In anderen Ländern sind es nur zwischen ein und drei Prozent. Der hohe Mitteleinsatz bleibt ohne Effekte: Es gibt in den USA deutlich weniger Ärzte und Krankenhausbetten als in Österreich. Der durchschnittliche Krankenhausaufenthalt ist ebenfalls wesentlich kürzer als hierzulande (siehe Kasten unten).

Die Ursachen für die suboptimale Effizienz sind in sozio-kulturellen und politischen Zusammenhängen zu finden. Die Tatsache, dass rund ein Zehntel der Bevölkerung ohne Krankenversicherung lebt, stellt dem Gesundheitssystem der größten Wirtschaftsmacht der Welt ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Die unversicherten US-Bürgerinnen und -Bürger finden nur schwer Zugang zu rechtzeitiger und angemessener Versorgung. Eine Krankheit bringt die weniger gut gestellten Bevölkerungsschichten häufig in eine existenzbedrohende wirtschaftliche Lage. Vor dem Jahr 2010 war sogar ein Sechstel der US-Amerikaner ohne Absicherung durch eine Krankenversicherung. Durch den „Patient Protection and Affordable Care Act“, auch bekannt als „Obamacare“, wurden praktisch eine Versicherungspflicht mit angemessenem Leistungskern und Subventionen für sozial Schwache eingeführt. Eigenverantwortlichkeit wird in den USA jedoch bekanntlich höher bewertet als Solidarität, weshalb die nachfolgende Regierung dieses Gesetz zwar nicht zurückgenommen, aber wirkungsloser gemacht hat.

Große Unterschiede in der Versicherungsleistung

Etwas mehr als die Hälfte der US-Bürger ist durch private Krankenversicherungen abgedeckt, wovon wiederum knapp 90 Prozent als Teil eines Anstellungsvertrages durch den jeweiligen Dienstgeber gesponsort werden. Der Leistungsumfang dieser privaten Versicherungsverträge variiert in großem Umfang und kann substanzielle Versorgungslücken aufweisen, welche im Bedarfsfall durch private Eigenleistungen zu kompensieren sind. Ein Drittel der Amerikaner (Ältere, Behinderte, Arme) ist durch die staatlichen Versicherungen Medicare und Medicaid abgedeckt. Weil die staatlichen Versicherungen aber nur für Menschen über 65 Jahren, Menschen mit Behinderungen und für Personen mit geringem Einkommen zuständig sind, akkumulieren sie die „teureren“ Versicherten. Versicherungen durch den Arbeitgeber sind häufiger als staatliche Versicherungen, betreffen aber die „günstigeren“, weil jüngeren und gesünderen Versicherten. Daraus ergibt sich, dass ca. die Hälfte der Kosten für Gesundheitsversorgung staatlich finanziert wird, die andere Hälfte durch private Versicherungen oder durch die privaten Haushalte („Out of Pocket“). Im internationalen Vergleich liegt damit der staatliche Anteil an der Gesundheitsfinanzierung in den Vereinigten Staaten weit unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten, allerdings hat sich der staatliche Beitrag zur Gesundheitsfinanzierung seit 1970 verdreifacht und übersteigt sogar das Budget für Verteidigung.

Staatliche und private Versicherungen kaufen Leistungen bei einer Vielzahl verschiedener Anbieter ein, wobei die Art der Versicherung für die Wahlfreiheit der Patienten eine entscheidende Rolle spielt. Personen, die als Versicherungsform die Einschreibung in eine HMO (Health Maintenance Organization) gewählt haben, werden durch einen Allgemeinmediziner, der als Gatekeeper fungiert, nur im entsprechenden HMO-Netzwerk weitergeleitet und versorgt. Ein Beispiel für die Größe und Umfänge der HMO ist das Unternehmen Kaiser Permanente: Das Unternehmen betreut in acht Bundesstaaten und dem District of Columbia rund 12,6 Millionen Menschen. Dazu werden aktuell 39 Krankenhäuser und 734 Arztpraxen betrieben, in denen 23.700 Ärzte und 65.000 Pflegekräfte beschäftigt sind. Damit erzielte das Unternehmen im Jahr 2021 einen Umsatz von rund 93,1 Milliarden US$.

Für die Versorgung in einer HMO fallen relativ niedrige Prämien an. Dafür muss der Versicherte praktisch auf jegliche Wahlfreiheit bei Leistungsanbietern verzichten, da die Entscheidungen über Art und Ausmaß der Versorgungsleistungen alleine beim Gatekeeper liegt. Aus diesem Grunde hat die Beliebtheit der HMOs in den letzten Jahren zugunsten von PPOs (Preferred Provider Organization) oder FFS (Fee for Service) Versicherungen abgenommen, bei welchen die Auswahl von Allgemeinmedizinern oder Spezialisten in bestimmten Grenzen frei oder mit gestaffelten Selbstbehalten verbunden ist.

Versorgungsmöglichkeiten für einfache Behandlungsfälle sind für Versicherte auch in kommunalen Gesundheitszentren verfügbar. Diese kommunalen Zentren sind häufig auch für Unversicherte die bevorzugte Anlaufstelle im Gesundheitssystem, wenn sie sich die Honorare der praktischen Ärzte nicht leisten können. Aus diesen Gründen kommen unversicherte Kranke schwer oder verspätet zu einer Diagnose und meist erst in fortgeschrittenem Stadium als Notfälle ins Krankenhaus. Das Spital ist dann allerdings verpflichtet, den Patienten zu behandeln. Aus den finanziellen Zugangshürden zur Versorgung resultieren messbare Qualitätsdefizite des Gesundheitssystems. Die überdurchschnittliche Häufigkeit von schwerem Asthma in der amerikanischen Bevölkerung wird zum Beispiel neben anderen Faktoren auf den besonders für Unversicherte erschwerten Zugang zur Primärversorgung zurückgeführt.

Der US-Markt für Krankenversicherungen ist heterogen: Günstige Versicherungen weisen in der Regel einen sehr engen Leistungsumfang auf. Im Bedarfsfall kann es passieren, dass die Polizzen die anfallenden Ärztehonorare oder die Medikamentenkosten nicht decken. Gelegentlich greifen Charity-Projekte mildernd in diese harte Realität ein, indem sie für Arme und Unversicherte zahlen. Kliniken und Ärzte haben vielfach einen Budgetposten für Sicherheitsnetzwerke oder uneinbringliche Kosten eingeplant, die für Härtefälle herangezogen werden können.

Congrats.
Der damalige Vizepräsident Joe Biden gratuliert dem US-Präsidenten Barack Obama am 25. Juni 2015 im Oval Office des Weißen Hauses. Der Supreme Court hatte entschieden, dass die staatlichen Beihilfen zum Affordable Care Act (Obamacare) durch den Gesetzestext gedeckt seien.

Höchstleistungen bei Brustkrebs, Stagnation bei Diabetes

Die organisatorische Vielfalt des amerikanischen Gesundheitswesens in Kombination mit der weitgehend unbeschränkten Liberalität des Versicherungsmarktes bringt viele kranke US-Bürger in prekäre Situationen – und dies bei einer traditionellen gesellschaftlichen Aversion gegen Solidarbeiträge. Zudem bereitet die Steuerung dieses komplexen Systems enorme Schwierigkeiten und erfordert eine aufwendige Administration. Diese erfolgt auf bundesstaatlicher Ebene hauptsächlich durch das Department of Health and Human Services (HHS). Trotz des dezentralen und privat dominierten Aufbaus der Gesundheitsversorgung in den USA beinhaltet dieses nationale und zentralistische Ministerium mächtige Abteilungen mit internationalem Renommee, wie die CDC (Centers for Disease Control and Prevention), die FDA (Food and Drug Administration) oder das NIH (National Institutes of Health). Mit der hohen Kompetenz dieser staatlichen Gesundheitsbehörden werden Programme auf Basis systematischer wissenschaftlicher Analysen ausgerollt, welche die USA hinsichtlich des medizinischen Outcomes bei bestimmten Krankheitsbildern, wie Brustkrebs oder Schlaganfall, weltweit führend machen. Andererseits ist Amerika erstaunlich erfolglos bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes und hat noch kein Rezept gefunden gegen die Epidemie der Drogentoten. Die Erfolge beim Gesundheitsverhalten sind ebenfalls sehr unterschiedlich: Extrem erfolgreich war man bei der Reduktion des Tabakkonsums, sehr erfolglos hingegen bei Ernährung und Übergewicht. Als einziges OECD-Land hatten die USA zwischen 2012 und 2017 einen Rückgang der Lebenserwartung zu verzeichnen.

Die politische Kontroverse über die unvollständige Gesundheitsversorgung in einem der reichsten Länder der Welt wird schon seit dem Jahre 1910 ausgetragen. Die damalige Gewerkschaftsbewegung erreichte schließlich nur die gesetzliche Garantie von Lohnfortzahlungen nach Arbeitsunfällen. Gesetzesentwürfe zahlreicher Regierungen scheiterten in weiterer Folge an Widerständen von Interessengruppen, wie Unternehmern und Versicherern, die eine zu starke staatliche Involvierung in den privaten Gesundheitsmarkt zu verhindern wussten. Besonders die einflussreiche AMA (American Medical Association) brachte mehrere Gesetzesentwürfe zu Fall, indem sie eine allgemeine nationale Krankenversicherung mit Kommunismus gleichsetzte. Der bisher weitreichendste Schritt in Richtung Versicherungsschutz für alle Bürgerinnen und Bürger wurde unter Präsident Obama unternommen. Die nachfolgende Regierung hat diese Entwicklungen wieder teilweise rückgängig gemacht. Es wird also in den USA auch in Zukunft die Richtung der Gesundheitspolitik davon abhängig sein, welche Partei gerade an der Macht ist.

Quellen:

Rice T, Rosenau P, Unruh LY, Barnes AJ, van Ginneken E. United States of America: Health system review. Health Systems in Transition, 2020; 22(4): pp.i–441.

United States. How does it compare? Health at a Glance 2019: OECD Indicators

Luca Lorenzoni, Annalisa Belloni, Franco Sassi. Health-care expenditure and health policy in the USA versus other high-spending OECD countries. Lancet 2014; 384: 83–92