Führung verstehen. Eine Kolumne von ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl.
Damit sich ein Stil bilden kann, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Die Form einer Darstellung muss sich deutlich von anderen Formen unterscheiden. Ein Walzer ist kein Tango und Prosa liest sich anders als ein Gedicht. Zudem muss die Form Merkmale enthalten, die gut zu beschreiben sind, etwa die schlichten Rundbögen des romanischen Baustils oder das Filigrane der Gotik. Wenn diese Merkmale über längere Zeit konstant bleiben und noch dazu ein stimmiges Ganzes bilden, kann man mit Fug und Recht von einem Bau-, Mal-, Schwimm-, Sprung-, Schreib-, Musik-, Haar- oder Kleidungsstil sprechen.
Wie sinnvoll ist dann der Begriff „Führungsstil“? Kurt Lewin (1890 –1947), Pionier der Sozialpsychologie, würde ihn verteidigen. Er führte in den späten 1930er-Jahren Experimente mit Jugendgruppen durch, um den Einfluss des Führungsverhaltens auf die Gruppenleistung herauszufinden. Er destillierte daraus drei „Stile“. Der autoritäre Stil verlangte von den im wahrsten Sinn Untergebenen unbedingten Gehorsam. Beim kooperativen Stil werden die Geführten in die Entscheidungsfindung eingebunden. Und im Fall des Laissez-faire genannten Stils gibt der vermeintliche Vor-Gesetzte die Kontrolle an die Gruppe ab.
Die Ergebnisse der Untersuchungen waren widersprüchlich. Immerhin schien irgendeine Führung besser zu sein als keine, nämlich ein Laissez-faire. Inzwischen ist das Urteil gefallen. Gestützt durch die Wertedynamik der letzten Jahrzehnte, die mit einem Bedeutungsverlust der traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwerte einhergeht, erhält ein als kooperativ (demokratisch) wahrgenommenes Führungsverhalten überwiegend die Note „gut“. Führung, die autoritäre (autokratische) Züge aufweist, gilt als gesellschaftlich unerwünscht. Zwar versuchen Studien immer wieder zu belegen, dass sich im deutschen Kulturraum der autoritäre Führungsstil auf dem Rückzug befindet. Meine persönlichen Beobachtungen in den Kampfarenen von Organisationen aller Art lassen diesen Schluss allerdings nicht zu.
In der Zeit nach Kurt Lewin wurden immer mehr „Führungsstile“ kreiert. Deren Bezeichnungen bleiben meist unscharf, z.B. partnerschaftlich, paternalistisch, konsultativ, patriarchalisch, konfrontativ, partizipativ oder situativ. Die Voraussetzungen für die Stilbildung – klare Unterscheidbarkeit, Beschreibbarkeit und Stimmigkeit – können sie nicht erfüllen. Dies liegt schon an der Illusion, Führungsverhalten könne „objektiv“ beobachtet und dann wie Kraulen, Delphin oder Brust- und Rückenschwimmen einem bestimmten Stil zugeordnet werden. Die Mitarbeiter, die ihre Chefin beobachten, um deren „Führungsstil“ zu taxieren, wären gefordert. Sie müssten zunächst wiederkehrende Verhaltensmuster ihrer Chefin erkennen und dann in ihren Einschätzungen untereinander übereinstimmen.
Angenommen die Chefin fordert regelmäßig Disziplin ein und droht notorisch mit Sanktionen. Dann müssten die Mitarbeiter den „Stil“ wohl als „autoritär“ bezeichnen. Was aber, wenn einige von ihnen – etwa aufgrund ihrer strengen Erziehung oder einschlägiger Erfahrungen in der Arbeitswelt – ein solches Verhalten als „vollkommen normal“ einschätzten oder mit „passt schon“ quittierten? Mangels Übereinstimmung verböte es sich, von einem „Stil“ zu sprechen. Es liegt eben nicht nur die Schönheit im Auge des Betrachters, sondern auch einfaches beobachtbares Tun.
Und wenn die Chefin gar keine Verhaltensmuster zeigte und sich einfach unberechenbar verhielte? Wäre sie dann „stillos“ und für eine Führungsposition ungeeignet? Ein Ja, zum ersten Teil der Frage, ein Nein, zum zweiten. Zumindest wenn es nach manchen, oft jahrzehntealten Führungsmodellen ginge. Diese versuchen, die Führungskräfte, etwa anhand der Kombination von aufgabenorientiertem und menschenbezogenem Verhalten, zu einem „optimalen“ Führungsstil zu erziehen. Führung erfolgt hier auf einer Einbahnstraße: Der überlegene Führende agiert als Subjekt, die Geführten sind Objekte. Ein Führungsstil dient als Input, um aus diesem Verhältnis ein erwünschtes Mitarbeiterverhalten als Output zu generieren.
Was bleibt also von der endlosen Debatte über Führungsstile? Die Sehnsucht nach Klassifizierung. Diese lässt sich schon an der Suche nach typischen, überwiegend angeborenen Eigenschaften erkennen, die eine Führungspersönlichkeit ausmachen. Die Führungsforschung tut sich schwer, einen robusten Zusammenhang zwischen Merkmalen wie Entschlossenheit, Mut oder Beharrungsvermögen und Führungserfolg festzustellen. Den Stilen geht es nicht besser. Es gibt Führungskräfte, die lehrbuchmäßig den empfohlenen „Führungsstil“ praktizieren und dennoch scheitern. Umgekehrt kann man „stillos“ Führende beobachten, die sogar in misslichen Zeiten die Erwartungen übertreffen.
Autor:
ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl
Forschungspartner des Zentrums für systemische
Forschung und Beratung, Heidelberg
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