Assessment zur Einschätzung des Versorgungsbedarfes geriatrischer und chronisch kranker Patientinnen und Patienten.
Die Zuordnung zu den einzelnen spezialisierten Versorgungsformen für geriatrische Menschen stellt im täglichen Aufnahmeprozess oft eine Herausforderung dar, welche sowohl Zeit- als auch Personalressourcen bindet. In Anlehnung an das gut etablierte Aufnahmeverfahren in den Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz (GGZ), bei dem es im Zuge des Aufnahme-Assessments zur Evaluierung des individuellen Betreuungsbedarfes in einem interdisziplinären Team kommt, wurde der Algorithmus für alle Versorgungsbereiche, die im Großraum Graz für Ältere und chronisch Kranke angeboten werden, erweitert. So entstand die in der Abbildung auf den Seiten 14 und 15 ersichtliche Entscheidungskaskade, das Grazer Geriatrie Tool (GGT), um eine standardisierte, eventuell automatisierte und über die verschiedenen Träger hinweg einheitliche und effektive Zuordnung in der Versorgungslandschaft zu etablieren.
Anhand weniger Parameter und abgestimmt auf die Bedürfnisse der jeweiligen Patientinnen und Patienten erfolgt eine transparente Auswahl und Empfehlung zur bedarfsgerechten Versorgungsform. Das allgemein einsetzbare Tool kann jene Health-Professionals, welche geriatrische Patienten betreuen und somit Zuweisungen zu den unterschiedlichen Versorgungsbereichen durchführen, bei der Entscheidungsfindung unterstützen.
Bei Vorliegen einer medizinischen Diagnose bzw. Prognose und nach der Bewertung des Allgemeinzustandes sowie der Pflegebedürftigkeit durch das Resident Assessment Instrument (RAI) (1) wurde eine erste Einteilung der geriatrischen Patienten in vier Gruppen literaturgestützt von M.R. Gillick (1998) (2) übernommen. Um eine optimale Zuordnung zur Versorgungsform zu gewährleisten, wurden in diesen Gruppen noch weitere Aspekte wie z.B. die Frage, ob ein Leben zu Hause möglich oder welche Art der Betreuung erforderlich ist (ärztlich, therapeutisch oder pflegerisch), bewertet.
Im Rahmen der durchgeführten Studie mit den Hauptzuweisern der GGZ wurde das eigens konzeptionierte Assessment-Instrument GGT auf Praxistauglichkeit getestet. Dabei wurde verglichen, ob das GGT die gleiche Zuordnung zu einer geriatrischen Versorgungsform empfiehlt wie die Zuweiserinnen und Zuweiser, und in welcher Versorgungsform die eingeschlossenen Patienten dann tatsächlich betreut wurden. Weiters wurde die Annahme überprüft, ob das GGT Health Professionals wie z.B. Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachkräfte oder Sozialarbeiter in die Lage versetzt, den Prozess des Assessments mit einer akzeptablen Quote an Fehlzuweisungen anhand einer einfachen Entscheidungskaskade und mittels weniger Parameter strukturiert durchzuführen. Bestandteil der Erhebung sollte auch eine Überprüfung der „falschen“ Zuordnungen auf systematische Fehler sein, da dies einen Hinweis auf Bereiche des GGT mit Verbesserungsbedarf darstellen kann.
Eingeschlossen wurden betagte und multimorbide Patientinnen und Patienten (in der Regel über 65 Jahre), die durch ein akutes Krankheitsereignis, einen chirurgischen Eingriff, ein Trauma oder die Aggravierung einer chronischen Erkrankung bzw. bei zunehmender Gebrechlichkeit der Zuweisung eines geriatrischen Betreuungs- und/oder Behandlungsangebotes bedurften. Ausgeschlossen wurden jene Patienten, welche eindeutig eine akut- oder intensivmedizinische Behandlung benötigen oder für welche eine andere Betreuungs- bzw. Versorgungsform sinnvoller wäre (z.B. ambulante Physiotherapie, Rehabilitationseinrichtung).
Übereinstimmung des GGT-Vorschlages (linke Spalte) bzw.
der Zuweiserentscheidung (rechte Spalte):

In dieser Studie wurden im Zeitraum vom 02.06.2022 bis 13.12.2022 90 Patienten (65,6 % weiblich; medianes Alter: 80,5 Jahre, Altersrange: 61 – 93 Jahre) einer Versorgungsform zugewiesen. Um eine grundsätzliche Zuordnung der Patienten zu den unterschiedlichen Bedarfslagen zu ermöglichen, wurden sie den Gruppen REINTEGRATION (robuste Patienten), STABILISIERUNG (gebrechliche Patienten), LEBENSQUALITÄT (gerontopsychiatrische bzw. demente Patienten) und END OF LIFE CARE (terminal erkrankte Patienten) zugeordnet. Die Ergebnisse der Studie zeigen eine grundsätzliche Übereinstimmung der Zuweiserentscheidungen (in 81 %) mit denen des Grazer Geriatrie Tools (GGT).
Das GGT weist eine höhere Anzahl an Zuweisungen zu ambulanten bzw. tagesklinischen Versorgungsstrukturen auf, als es die Zuweiserentscheidungen und insbesondere die tatsächlichen Aufenthaltsorte letztendlich zeigen. Der Aufenthaltsort der Patientinnen und Patienten folgte häufig weder der Entscheidung des GGT noch der Zuweiserinnen und Zuweiser, sondern war davon abweichend oft eine Entlassung nach Hause, was mit der COVID-Pandemie und dem damals hohen Ansteckungsrisiko in Krankenanstalten zu tun gehabt haben könnte. Diese Option wurde bei der Konzeption des GGT nicht mitberücksichtigt und stellt somit eine Erfahrung (Learning) aus der Studie dar. Die Versorgungsoption „nach Hause“ wurde nachträglich als Einschlusskriterium zugelassen und in der Entscheidungskaskade erweitert.
Auch bereits vor der Pandemie wurde bevorzugt zu denjenigen weiterversorgenden Strukturen zugewiesen, die erfahrungsgemäß eine rasche Übernahme bewerkstelligen können. Logischerweise bevorzugen Patientinnen und Patienten, Angehörige und Zuweiser im Falle von akut notwendigen Anschlussbehandlungen jenen Behandlungsstrang, der den bürokratisch und finanziell einfacheren Weg ermöglicht. Ein weiterer Grund für die dargestellte Verschiebung von „mobile Dienste“ zu „nach Hause“ könnte aber auch eine bestehende Lücke im Versorgungssystem sein (Überlastung der Hauskrankenpflege, beschränkte Kapazitäten gerontopsychiatrischer Versorgungsstrukturen). (3)

Fazit für die Praxis
Mit diesem Instrument wurde eine Grundlage für die Steuerung geriatrischer Patientinnen und Patienten durch eine mittlerweile unübersichtliche Versorgungslandschaft geschaffen, dessen Struktur auch für andere Regionen adaptiert werden kann. Ein solches Instrument kann mit der zunehmenden Digitalisierung im Gesundheitswesen an Bedeutung gewinnen. Die Abweichungen zwischen dem GGT-Instrument, den Zuweiser-Entscheidungen und dem tatsächlichen Behandlungsort lassen auch auf Inkongruenzen zwischen Bedarf, Nachfrage und Angebot schließen. Daher sollte bei der Frage nach dem optimalen Behandlungsprozedere vermehrt die Versorgungsforschung einsetzen.
Literatur:
1 https://interrai.org/instruments/ Zugegriffen: 13.03.2024.
2 Gillick MR (1998) Choosing medical care in old age: What kind, how much, when to stop. Harvard University Press, Cambridge.
3 Klug G, Schimpl N, Wagner E, Singer M, Matzawrakos A, Hermann G (2022) Grazer Alterspsychiatrisches Modell. Verfügbar unter: https://www.graz.at/cms/dokumente/10399412_8114338/6cbe71c5/Broschuere_Alterspsychiatrisches_Modell_A4_Entwurf.pdf Zugegriffen: 13.03.2024.
Autorinnen und Autoren:
Dr. Brigitte Hermann
Strategische Beratung für medizinische Angelegenheiten
in den Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz.
Research Prof. Priv.-Doz. Mag. rer. nat. Dr. rer. nat. Alexander Avian
Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Dokumentation
an der Medizinische Universität Graz.
Romina De Lellis-Stermole, BA MSc
Strategische und operative Planung
in den Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz.
Verena Matz, BA, MA
Strategische und operative Planung
in den Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz.
Hon. Prof. (FH) Dipl.-HTL-Ing. Mag. Dr. Gerd Hartinger, MPH, MBA Geschäftsführer der Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz.

