Wenn die Ampeln Trauer tragen

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Autor: Sissi Eigruber

Die Corona-Lage hat sich in Österreich und anderen westeuropäischen Ländern wieder dramatisch zugespitzt. Noch schlimmer sieht es in manchen Staaten Osteuropas aus. Auch bei unserem direkten Nachbarn Slowakei.

War die Farbgebung der Corona-Ampel in Österreich mit vier Farben schon originell, so waren die Verantwortlichen in der Slowakei mit sieben Farben noch kreativer: Im schlimmsten Fall schaltet die Ampel – hier „COVID-Automat“ genannt – auf Schwarz, was Mitte November schon in weiten Teilen der Mittel- und Ostslowakei der Fall war. Am 17. November verzeichnete die Slowakei bei den registrierten Neuansteckungen einen 7-Tages-Mittelwert von 9.020. Das knapp 5,5 Millionen Einwohner zählende Land erreichte damit bei den Neuinfektionen mit COVID-19 neue Höchstwerte. Experten befürchteten einen weiteren dramatischen Anstieg und kritisieren in regelmäßigen Abständen die schlechte Datenlage in der Slowakei. So etwa der Analytiker und Mathematiker Richard Kollar von der Komenius Universität in Bratislava. Er warnte im November davor, dass es in den nächsten Wochen und Monaten unmöglich sein werde, dem Virus zu entgehen. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der extrem niedrigen Impfquote in der Slowakei.

Mitte November waren im EU-Schnitt mehr als 70 Prozent der Bevölkerung vollständig (im Regelfall 2 Impfungen) gegen COVID-19 immunisiert. In Österreich waren es nur 64 Prozent, in der Slowakei gar nur 43 Prozent. Die Slowakei hatte damit europaweit nach Bulgarien und Rumänien die niedrigste Impfquote. Auch der Versuch, mit einer Lotterie das Impfgeschehen anzukurbeln, hat nicht viel gebracht und wurde Ende Oktober wieder eingestellt. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Peter Stachura hat als Oberarzt an der Universitätsklinik St. Pölten und ehemaliger Staatssekretär des Gesundheitsministeriums in der Slowakei Einblick in die aktuellen Entwicklungen der Pandemie in beiden Ländern. Er ortet drei wesentliche Gründe für die extrem niedrige Impfbereitschaft seiner Landsleute: die schwache Politik, die starken Fake News und die suboptimale Kommunikationskultur.

Vorreiter bei Massentests

„Die führenden Parteien in der Slowakei stehen nicht eindeutig hinter der Impfung. Sie sind sich nicht einig. Es fehlt eine einheitliche nationale Strategie“, kritisiert Stachura im Gespräch mit der ÖKZ. Zudem seien Fake News in der Slowakei sehr ausgeprägt: Es kursieren zahlreiche Falschinformationen, unter anderem die altbekannte Geschichte von den Mikrochips, die zur Überwachung der Menschen mit der Impfung eingepflanzt werden und eine Kontrolle durch Amerika zum Ziel haben sollen. Leider würden sich auch viele allgemeine Ärzte diesen Verschwörungstheorien anschließen. Geschichten, die die Angst der Menschen schüren, werden somit nicht nur über alternative Medien, sondern zudem über die Arztpraxen verbreitet. Dritte Ursache für die niedrige Impfrate sei die Kommunikationskultur: „Diskussionen über COVID-19 werden nicht offen genug geführt. Experten, die für die Impfung sind, wollen sich nicht der Diskussion mit Impfgegnern stellen. Die Bevölkerung ist extrem polarisiert und stark von alternativen Medien gesteuert“, so Stachura.

Dabei hatte die Slowakei im Vorjahr einen bemerkenswerten Schritt in der Bekämpfung der Pandemie gesetzt und als erstes europäisches Land Ende Oktober/Anfang November 2020 mit gratis Massentests begonnen. Wer sich nicht testen lassen wollte, unterlag einer Ausgangssperre. Im Dezember folgte ein Lockdown und in der Folge wurden zur Bekämpfung der COVID-Pandemie ähnliche Maßnahmen wie in anderen europäischen Ländern gesetzt. Doch die strengen Anti-Corona-Maßnahmen im Jahr 2020 sorgten in der Bevölkerung und bei der Opposition für harsche Kritik. Sowohl die Bevormundung der Menschen als auch die Kosten für die Tests wurden kritisiert. Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich die Bestellung des russischen Impfstoffes Sputnik, der von der EMA (Europäische Arzneimittelbehörde) nicht zugelassen wurde und innerhalb der EU sonst nur von Ungarn verwendet wird. Die Bestellung wurde ohne Zustimmung der Koalitionspartner der Regierungspartei OLaNO (Gewöhnliche Menschen und unabhängige Persönlichkeiten) getätigt und führte schließlich im März 2021 zum Rücktritt von Igor Matovič als Ministerpräsident, der stattdessen aber das Amt des Finanzministers übernahm. Zudem mussten auch der Minister für Gesundheit, Marek Krajčí, Gesundheitsstaatssekretär Peter Stachura und der Generalsekretär des Gesundheitsministeriums, David Hlubocký, ihre Posten abgeben. Im August 2021 wurde in der Slowakei die Impfung mit dem Sputnik-Impfstoff eingestellt. Andere, von der EMA zugelassene Impfstoffe sind im Einsatz.

Impfung für Kinder

Auch die Teststrategie wurde geändert. Während es in den meisten europäischen Ländern weiterhin gratis Corona-Tests gibt, wurden diese in der Slowakei Mitte des Jahres 2021 eingestellt. Die kostenlosen Testmöglichkeiten wurden nur für Personen mit Symptomen bzw. Verdacht auf eine COVID-19-Infektion aufrechterhalten. Insgesamt gebe es deutlich weniger Testmöglichkeiten und diese seien kostenpflichtig, berichtet Stachura. Die geringe Testzahl könnte die gesamte COVID-19-Datenlage im Vergleich zu anderen Ländern verzerren.

Dafür preschte die Slowakei bei einer anderen Maßnahme nach vorne und empfahl bereits im September 2021 als eines der ersten EU-Länder die COVID-Impfung für 5- bis 12-jährige Risikogruppen, ohne dass es dafür eine Zulassung dafür von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) gab. Offenbar ein Versuch, auf diesem Wege die Impfquote zu erhöhen.
Im November zeigte sich jedenfalls eine dramatische Infektionsentwicklung in der Slowakei. „Es gab die Hoffnung, dass durch die Impfung viel weniger Corona-Patienten ins Spital müssen, doch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Jetzt sind wieder viel zu viele im Krankenhaus und auf den Intensivstationen. Die Mediziner sind erschöpft. Einige haben schon gekündigt. Das Problem ist weniger die Anzahl der vorhandenen Intensivbetten als der Personalmangel“, analysiert Stachura. In Österreich würden auf einen Betreuenden etwa zwei COVID-Patienten kommen; in der Slowakei seien es manchmal drei oder vier.

In Anbetracht der Situation richtete auch die Präsidentin der Slowakischen Republik, Zuzaa Čaputová, Mitte November einen eindringlichen Appell an Politiker und Bevölkerung: „Das Einzige, was uns helfen kann, sind härtere Maßnahmen und schnelleres Impfen. Ich fordere alle verantwortungsbewussten Politiker auf, Mut zu zeigen und Maßnahmen zu beschließen, die vielleicht nicht populär sind, aber für die Rettung von Menschenleben unausweichlich“, so Čaputová in einem Bericht der ARD Tagesschau.

Zu diesem Zeitpunkt waren in der Slowakei nur noch wenige Spitalbetten mit Beatmungsmaschinen frei. Aus immer mehr Spitälern kamen Berichte über kritische Auslastungssituationen und verschobene Operationen. Schließlich wurden auch in der Slowakei gleichzeitig mit dem Lockdown in Österreich die Corona-Maßnahmen verschärft. „Wir haben einen Lockdown für Ungeimpfte beschlossen“, verkündete Premierminister Eduard Heger am 18. November. Wer nicht geimpft oder genesen war, durfte weder an größeren Veranstaltungen teilnehmen noch Lokale, Hotels oder Einkaufszentren betreten. Arbeitnehmer ohne 3G-Nachweis konnten ohne Anspruch auf Lohn oder Lohnersatz nach Hause geschickt werden.

Auch im Nachbarland versuchte man es also zuerst mit einem Lockdown für Ungeimpfte, der – wie in Österreich – kurz da­rauf von einem Lockdown für alle abgelöst wurde: Am 24. November kündigte der stellvertretende Ministerpräsident Richard Sulík einen allgemeinen Lockdown für zwei Wochen an, der mit 25. November in Kraft trat. Ohne Ausnahme für Geimpfte. Die Lage in den Kliniken hatte sich dramatisch zugespitzt. Die Sieben-Tages-Inzidenz war mit mehr als 1300 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern bei Weitem die höchste in Europa. Mehr als 3.200 Corona-Patienten mussten stationär behandelt werden. Damit wurde laut Gesundheitsbehörden die Schwelle zur humanitären Krise überschritten. Laut offiziellen Angaben waren acht von zehn COVID-Patienten nicht oder nur unvollständig gegen COVID-19 geimpft.    //

„Die Gewinne wurden privatisiert, die Verluste sozialisiert“

Herr Stachura, Sie sind gebürtiger Slowake, arbeiten als Oberarzt in St. Pölten und waren von Juni 2020 bis April 2021 Gesundheitsstaatssekretär in der Slowakei – warum haben Sie das gemacht?
Ich habe mich dazu verpflichtet gefühlt und ich habe es gerne gemacht. Auch in dem Wissen, dass es im Falle politischer Änderungen auch schnell wieder vorbei sein kann. Ich wollte das System ändern und etwas bewegen. Mein Primar, Dr. Christoph Hörmann, hat mich dabei unterstützt. Er hat gesagt: „Politik ist nicht immer gerecht, aber du kannst hier weitermachen.“

Wie haben Sie als slowakischer Gesundheitsstaatssekretär die Corona-Welle im Frühling 2021 erlebt?
Wir haben zusätzliche Beatmungsgeräte und Intensivbetten angeschafft und mehr als 3000 Patienten innerhalb des Landes von ausgelasteten Spitälern zu anderen transportiert. Das Problem war schließlich, dass wir nicht genug Personal hatten. Ein paar Patienten wurden auch nach Deutschland und Polen ausgeflogen.

Worin sehen Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten im slowakischen und österreichischen Gesundheitssystem?
Es gibt genug Unterschiede, letztendlich gibt Österreich für das Gesundheitswesen deutlich mehr aus als die Slowakei. Aber nicht nur das, die Slowakei hat eine Umstrukturierung hinter sich. Es gibt dazu einen gängigen Spruch in der Slowakei: „Die Gewinne wurden privatisiert, die Verluste sozialisiert.“

Das bedeutet … ?
In der Slowakei werden gewinnbringende Einrichtungen und Tätigkeiten wie Labors, bildgebende Diagnostik, Histopathologie oder Dialysen auch in staatlichen Krankenhäusern zunehmend privat angeboten, während die nicht gewinnbringenden Bereiche weiterhin staatlich sind. Zum weiteren werden manche Fachgebiete – wie z.B. Kardiologie privilegiert. Zwei von drei Krankenkassen sind privat und dürfen Gewinn erwirtschaften. Unterschiede gibt es genug, aber aktuell ist es der Fachpersonalmangel, der dem slowakischen Gesundheitssystem zu schaffen macht. Eine Gemeinsamkeit mit Österreich ist, dass der Gesundheitssektor da wie dort staatlich geprägt ist. – Die Effektivität bleibt dabei oft auf der Strecke.

Zur Person: Dr. med. Peter Stachura, MBA (42) stammt aus Levoča in der Ostslowakei. Er studierte Medizin in Košice in der Slowakei. Aktuell ist Stachura als Oberarzt an der Klinischen Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum St. Pölten tätig. Von Juni 2020 bis April 2021 war der Mediziner zudem Gesundheitsstaatssekretär der Slowakei. Im Zuge der Regierungsturbulenzen im Frühling 2021 und des Rücktritts des slowakischen Gesundheitsministers Marek Krajčí im März 2021 wurde auch der Posten des Gesundheitsstaatssekretärs neu besetzt.

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