Eskalation an der Antibiotika-Front

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Autor: Michael Krassnitzer

Mittelfristig sind mehr Opfer durch antimikrobielle Resistenzen als durch Krebs zu befürchten. Der gießkannenartige Einsatz von Antibiotika beginnt sich zu rächen.

Worst-Case-Szenarien sprechen von mehr als zehn Millionen Menschen, die bis 2050 jährlich an multiresistenten Erregern sterben werden. Das prognostiziert die Weltgesundheitsorganisation WHO. Damit würden mehr Menschen an nicht zu kontrollierenden Infektionen sterben als aktuell an Krebs. Antimikrobielle Resistenz sei „eine der größten Bedrohungen für die Weltbevölkerung“, warnen die WHO-Experten. Das sieht auch Birgit Willinger, Leiterin des Klinischen Instituts für Labormedizin bzw. der Abteilung für Klinische Mikrobiologie an der Medizinischen Universität Wien so: „Die Situation ist bedrohlich. Weil bakterielle Erreger immer wieder neue Resistenzmechanismen entwickeln, wird es immer schwieriger, die infizierten Patienten zu behandeln.“ Einer der Hauptgründe dafür ist der sorglose Einsatz von Antibiotika bei Infektionen. „Auch bei banalen Erkältungskrankheiten erfolgt leider sehr rasch der Griff zu einem Antibiotikum“, bedauert die Past-Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin (ÖGHMP). Das liegt nicht nur an Ärzten, sondern auch an der Erwartungshaltung der Patienten: Viele sind davon überzeugt, man könne jede Infektion mit Antibiotika behandeln – dabei sind diese Substanzen etwa gegen Viren wirkungslos. Das Problem dabei: Je öfter ein Bakterium mit Antibiotika in Berührung kommt, desto leichter kann es sich wehren. Denn manche Bazillen entwickeln Schutzmechanismen und vermehren sich weiter. Diese Bakterienstämme werden gegen das betreffende Antibiotikum resistent. Ihnen kann das Medikament nichts mehr anhaben. Mittlerweile gibt es viele Bakterien, die gegen eine ganze Reihe von Antibiotika resistent sind. In diesem Fall spricht man von multiresistenten Keimen. Auch der Einsatz von Breitband-Antibiotika fördert diese Entwicklung. Auf diese Weise kann es passieren, dass nicht nur der krankheitsverursachende Keim eine Resistenz ausbildet, sondern auch andere Keime, die sich zum Beispiel im Darm des Patienten befinden. Für gesunde Menschen sind diese Keime völlig harmlos, bei Kranken oder Immungeschwächten jedoch können sie lebensbedrohliche Erkrankungen auslösen. Eine weitere Ursache für die Entwicklung von Resistenzen ist der massenhafte Einsatz von Antibiotika bzw. Antibiotika-Vorstufen in der Landwirtschaft. Rückstände davon finden sich in Fleisch sowie anderen tierischen Produkten und gelangen so über die Nahrung in den menschlichen Körper.

Comeback-Keime: Sie lernen mit jeder Antibiotika-Verabreichung dazu. Das Bild zeigt (rot gefärbt) das mehrfach antibiotikaresistente Bakterium Pseudomonas aeruginosa. Zur Infektionsvorsorge ist ständige Händedesinfektion umständlich – aber effizient.

Deeskalation an der Antibiotika-Front

Was tun? „Immer kritisch prüfen, ob ein Patient wirklich ein Antibiotikum braucht“, betont Willinger: „Und nur ein schmales Wirkungsspektrum auswählen.“ Klar, wenn sich ein Patient in kritischem Zustand befindet, bleibt oft nichts anderes übrig als die Behandlung mit einem starken Breitband-Antibiotikum. Sobald aber das Ergebnis aus dem mikrobiologischen Labor vorliegt und der Erreger sowie seine Empfindlichkeit bekannt sind, sollte man auf ein passendes Antibiotikum mit einem schmaleren Wirkungsspektrum umsteigen. „Deeskalieren“ wird das genannt. Wie im gesamten Bereich der Medizin gibt es auch in der Infektiologie einen Trend zur Personalisierung: „Man behandelt nicht mit einem Antibiotikum gegen alles gleichsam ins Blaue hinein, sondern sucht ein auf den Erreger und seine Empfindlichkeit abgestimmtes Medikament aus“, wie die Universitätsprofessorin erläutert. Auf diese Weise könne man die Problematik der Antibiotika-Resistenzen in den Griff bekommen.

In vielen Krankenhäusern hat sich mittlerweile das sogenannte Antibiotic Stewardship etabliert. Das bedeutet: Ein Team aus verschiedenen Fachdisziplinen – Infektiologen, Pharmazeuten, Mikrobiologen, Krankenhaushygieniker – arbeitet kontinuierlich an Strategien und deren Umsetzung, mit denen der Resistenzentwicklung Einhalt geboten werden sollen. Dazu gehört zum Beispiel der Fokus auf Antibiotika, die im Vergleich weniger leicht Resistenzen induzieren. Oder die Vermeidung bestimmter Antibiotika, die sehr leicht und rasch zur Bildung von Resistenzen führen. Das synthetische Antibiotikum Ciprofloxacin zählt dazu. „Einige Studien haben gezeigt, dass der Verzicht auf dieses Medikament oder zumindest die starke Einschränkung die Resistenzsituation reduzieren und entschärfen kann“, gibt Willinger zu Protokoll. Eine weitere Strategie: Im Laborbefund werden nicht alle Antibiotika angeführt, die an der Probe des Patienten im Labor getestet wurden, sondern nur einige wenige First-Line- und Schmalspektrum-Mittel. „Selective Reporting“ wird dieser Trick genannt, der dafür sorgen soll, dass die verschreibenden Ärzte gar nicht auf die Idee kommen, zu den aus Resistenzsicht problematischen Antibiotika zu greifen.

Überhaupt spielt die mikrobiologische Diagnostik heutzutage eine essenzielle Rolle, wenn es darum geht, die Bildung von Resistenzen in den Griff zu bekommen. Als noch das Anlegen von Bakterienkulturen in Petrischalen gang und gäbe war, dauerte es mindestens einen Tag, um zu eruieren, mit welchem Erreger es man zu tun und welche Resistenzen dieser entwickelt hatte. „Heute stehen uns Methoden zur Verfügung, mit denen wir binnen wenigen Stunden die wichtigsten Resistenzmechanismen nachweisen können“, bekräftigt Willinger. Diese sind allerdings derzeit noch kostspielig. Daher wird intensiv an der Entwicklung von Routinemethoden gearbeitet, die es schnell, einfach und kostengünstig ermöglichen, alle bekannten Resistenzmechanismen nachzuweisen.

In der Forschung liegt derzeit der Fokus auf der Detektion bislang unbekannter Resistenzmechanismen – das sogenannte whole genome sequencing macht es möglich. Woran die Forschung natürlich auch mit Hochdruck arbeitet, ist die Entwicklung neuer Antibiotika. Vor einigen Jahren äußerten viele Experten die Befürchtung, dass über kurz oder lang das Arsenal an Antibiotika erschöpft sein werde und multiresistente Keime überhaupt nicht mehr behandelbar werden könnten. Das hat sich zum Glück als Irrtum erwiesen: Laut Labormedizinerin Willinger stehen einige neue Antibiotika kurz vor der Zulassung.

Birgit Willinger, Vorständin der Abteilung für Klinische Mikrobiologie an der MerdUni Wien, hält die Situation „für bedrohlich. Es wird immer schwieriger, die infizierten Patienten zu behandeln.“

Das Mantra der Spitalshygiene: Händewaschen

Am besten freilich ist es, wenn es erst gar nicht zu Infektionen kommt. Hier sind vor allem die Krankenhäuser gefragt, weil sich dort naturgemäß viele Infizierte und Kranke aufhalten; multiresistente Erreger werden daher oft auch als Krankenhauskeime bezeichnet. „Ein steriles Krankenhaus wird es nie geben“, bedauert Willinger: „Aber wir können versuchen, die Chancen einer Übertragung möglichst gering zu halten.“ An allererster Stelle steht hier die Händehygiene, also das regelmäßige Desinfizieren der Hände nach einem speziellen Ritual. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass Ärzte oder Pflegepersonal Erreger von einem Patienten auf einen anderen übertragen. Hilfreich sind auch Screening-Programme, also die gezielte Suche nach Patienten, die unerkannt mit multiresistenten Erregern besiedelt sind.
So einleuchtend es auch ist, dass professionelle Händehygiene unabdingbar zur Vermeidung von Infektionen im Krankenhaus ist – die Bereitschaft der Mitarbeiter lässt oft zu wünschen übrig. Um das Händedesinfektionsverhalten zu verbessern, muss man zunächst einmal wissen, wie es überhaupt mit der Compliance der Mitarbeiter steht. Als Maß für die Händehygiene gilt der Verbrauch an Desinfektionsmitteln. Dieser freilich lässt jedoch keine genaueren Rückschlüsse auf das Desinfektionsverhalten zu. Das deutsche Hygieneunternehmen Ophardt hat ein System entwickelt, mit dem die Hygieneverantwortlichen einen tieferen Einblick in das Händedesinfektionsverhalten bekommen: An die herkömmlichen Desinfektionsmittel-Spender wird eine smarte Auslaufblende montiert, die vollautomatisch jede einzelne Händedesinfektion erfasst. Diese Informationen werden digital an ein zentrales Auswertungssystem gesendet. Auf diese Weise lassen sich zum Beispiel selten genutzte Spender identifizieren. Das System liefert auch Echtzeitinformationen zu den Flaschen-Füllständen oder dem Batterielevel.

Eine andere Innovation auf dem weiten Feld der Hygiene bietet ein Schweizer Unternehmen: Livinguard hat eine Desinfektionstechnologie entwickelt, die auf einem mechanischen Wirkprinzip basiert, was die Bildung von Resistenzen äußerst unwahrscheinlich macht. Die Technologie beruht auf dem Prinzip der physikalischen Desinfektion: Oberflächen werden mit dauerhaft positiven Ladungen versehen, die negativ geladene Mikroben anziehen und deren Zellwände beschädigen, wodurch diese für den Menschen unschädlich gemacht werden. Dem Unternehmen ist es nun gelungen, auf Basis dieses Wirkprinzips die nach eigenen Angaben erste permanente biozidfreie Desinfektion zu entwickeln. Verschiedene Materialien (darunter Textilien, Kunststoffe und Papier) werden auf diese Weise dauerhaft selbstdesinfizierend. Mit dieser Technologie ausgestattete Produkte seien über lange Zeiträume wiederverwendbar und damit um ein Vielfaches nachhaltiger als Einmalprodukte, wie der Hersteller betont. Sie sei sicher für den Menschen und stelle damit eine umwelt- und ressourcenschonende Alternative zu herkömmlichen Desinfektionsmethoden dar. Die überwiegende Mehrheit der derzeit auf dem Markt befindlichen selbstdesinfizierenden Hygiene-Produkte basiert auf Metallen wie Kupfer, Silber oder Zink.

Keimschleuder PC

Ein Hygiene-Thema ist die IT außerhalb des Operationssaales: So sind herkömmliche Tastaturen wegen ihres komplizierten Aufbaus in der Regel nicht verlässlich zu desinfizieren. Aber hier gibt es Abhilfe: Das deutsche Unternehmen Rein Medical etwa stellt medizinische Tastaturen und Mäuse her, die über eine abriebfeste und abnehmbare Oberfläche verfügen, die eine schnelle Reinigung mit allen zugelassenen Krankenhaus-Desinfektionsmitteln zulässt.

Neben Tastaturen und Eingabegeräten können auch Rechner und Monitore zu einem Hygienerisiko werden. Diese nämlich müssen belüftet werden – und auf diese Weise können Staub und Mikroorganismen ins Innere des Systems gelangen, sich dort vermehren und dann wieder in die Umgebung freigesetzt werden. Hersteller wie Rein Medical verzichten daher auf Lüftungsschlitze und beschichten die Geräte mit einem keimtötenden Lack. In diesem Fall handelt es sich um einen mit speziellen Molekülen angereicherten Pulverlack, der den Aufbau und die Reaktivität schädlicher Mikroben verhindert und dauerhaft antibakteriell ist. Die Wirkung bleibt laut Hersteller über viele Jahre erhalten. 

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